20. März 2017 · Kommentare deaktiviert für „Das Abschreckungsabkommen“ · Kategorien: Deutschland, Europa, Türkei · Tags:

Zeit Online | 20.03.2017

Seit einem Jahr gibt es den Flüchtlingsdeal, und es ist nicht die Türkei, die sich nicht daran hält, sondern die EU. Die Leidtragenden: Griechenland und die Flüchtlinge.

Von Lenz Jacobsen

Am Nachmittag des 18. März 2016 steht Angela Merkel in einem dieser fensterlosen Räume irgendwo in den Brüsseler EU-Hochhäusern. Sie hat eine lange Verhandlungsnacht hinter und nun die Journalisten vor sich. Gerade haben sie und die anderen Staats- und Regierungschefs ein Abkommen mit der Türkei geschlossen. Merkel ist sichtlich erleichtert. Sie sagt, heute habe man etwas „unumkehrbares“ beschlossen. Und sie sagt: „Diese Vereinbarung hilft vor allem den betroffenen Menschen – den Flüchtlingen.“

Das Abkommen ist ein Versprechen. In Frühjahr 2016 bestimmen Hunderttausende Migranten, die nach Europa gekommen sind, die Debatte. Koalitionen, Gesellschaften und Familien zerstreiten sich über den Umgang mit ihnen, Parteienlandschaften werden umgestülpt. Was Merkel an diesem Nachmittag verkündet, soll deshalb gleich drei Dinge leisten: Erstens die Zahl der Ankommenden weiter senken und so die europäischen Länder innenpolitisch entlasten. Zweitens die gemeinsame Handlungsfähigkeit der EU beweisen, deren Mitglieder in den Wochen und Monaten zuvor lieber nationale Wege gesucht hatten. Und drittens soll das Abkommen dem moralischen Anspruch Europas gerecht werden, alle Menschen gut zu behandeln, die hier Zuflucht suchen.

Ein Jahr später ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Hat dieses für Europa so entscheidende Abkommen gehalten, was Merkel damals versprach?

Man kann aus den vergangenen zwölf Monaten viel lernen darüber, was der EU noch gelingt und woran sie scheitert.

Weniger Flüchtlinge, weniger Tote

Ihr gelingt es, Menschen fernzuhalten von Europa. Am 20. März 2016 ist das Abkommen in Kraft getreten. Zwischen diesem Tag und dem 2. März des laufenden Jahres, in fast 12 Monaten also, kamen 26.940 Migranten aus der Türkei nach Griechenland. Im Februar 2016, dem Monat vor dem Abkommen, waren es 57.066, mehr als doppelte so viele. Das Wichtigste aber ist: Zumindest in dem Teil des Mittelmeers zwischen der Türkei und den griechischen Inseln sterben jetzt weniger Menschen. Im Jahr vor dem Abkommen zählte die Internationale Organisation für Migration (IOM) dort 1.100 Tote. Seither waren es 70.

Allerdings liegt es nicht nur am Abkommen mit der Türkei, dass weniger Flüchtlinge kommen. Die Balkanländer begannen, vermehrt Schutzsuchende an ihren Grenzen abzuweisen, schon bevor es in Kraft trat. Deutschland und andere europäische Staaten verschärften ihre Asylgesetze. All das hält die Flüchtlinge ebenfalls davon ab, die gefährliche Reise über die Ägäis nach Europa anzutreten.

Der Kern des Abkommens funktioniert bis heute nicht. Er lässt sich auf einen Satz reduzieren: Für jeden illegal übers Meer gekommenen Syrer, der von den griechischen Inseln zurück in die Türkei geschickt wird, lässt Europa auf legalem Weg einen anderen Syrer aus der Türkei einreisen.

Alle sollten wissen: Wer sich von Schleppern nach Lesbos bringen lässt, muss zurück. Aber das stimmt nicht. In den vergangenen zwölf Monaten ist kein einziger Syrer, der in Griechenland Asyl beantragt hat, gegen seinen Willen zurück in die Türkei gebracht worden.

Wie kann das sein? Der Grund ist, dass sich zwei der drei Ziele des Abkommens widersprechen. Um Flüchtlinge abzuschrecken, sollen die Asylverfahren auf den griechischen Inseln schnell und streng durchgeführt werden. Sie müssen aber auch fair und gründlich sein, um nicht europäischen Rechte und Werten zu widersprechen.

Faire und gründliche Verfahren aber dauern. Laut griechischer Asylbehörde vergehen von der Registrierung bis zur ersten Asylentscheidung zur Zeit 72 Tage. Das ist ein Vielfaches der ein- bis zwei Wochen, die zu Beginn des Abkommens geplant waren. Merkel hatte bei ihrer Pressekonferenz gewarnt, die Migranten könnten sich ja nicht „Wochen oder Monate“ auf den Inseln aufhalten, das müsse nun schneller gehen. Doch seit einem Jahr gelingt es Europa nicht, dort eine gemeinsame, leistungsfähige Asylbürokratie in Gang zu bringen.

Auf Lesbos versagt die EU

400 europäische Fallbearbeiter sollten ihre griechischen Kollegen unterstützen. Monatelang waren es aber lediglich ein paar Dutzend, und heute ist die europäische Asylbehörde, die die Hilfe koordiniert, sehr stolz darauf, dass mittlerweile 100 Kollegen im Einsatz sind. Die EU-Mitgliedsländer schicken einfach zu wenige Helfer auf die Inseln – teils, weil sie wie das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst genug zu tun haben, teils, weil sie sich gar nicht in der Pflicht sehen. Auf dem Papier ist das Abkommen zwar eines der gesamten EU, doch in der Praxis interessiert sich eine ganze Reihe von Ländern kaum für ihren Anteil an der Umsetzung, seit die Flüchtlinge nicht mehr kommen. Nur die Fassade des Abkommens ist noch gesamteuropäisch.

Nicht nur für die griechischen Inseln ist das ein Problem, sondern auch für die Zukunft der EU. Denn sie macht ja seit gut einem Jahr hochfliegende Pläne für eine europäische Asylpolitik. Am 6. April 2016, also nur wenige Tage nach Inkrafttreten des Abkommens mit der Türkei, skizzierte die EU-Kommission eine grundlegende „Reform des gemeinsamen Asylsystems“. Der Widerspruch zwischen dem praktischen Versagen auf Lesbos, das bis heute andauert, und den großen theoretischen Zukunftsplänen aus Brüssel ist riesig.

Immer mehr Flüchtlinge sitzen auf den Inseln am Rande Europas fest und warten darauf, dass es für sie endlich weitergeht. In Lagern wie Moria auf Lesbos kann es Monate dauern, bis sie ihren Bescheid erhalten. Moria ist hoffnungslos überbelegt. Im Winter war es lange nicht beheizt, und die Essensversorgung funktionierte auch nicht. Für die Insassen sind das frustrierende Umstände, und manche wurden gewalttätig. Sie griffen Büros an oder legten Feuer im Lager – was wiederum manchen Ländern als Grund diente, erst recht keine weiteren Fallbearbeiter mehr auf die Inseln zu schicken, sodass sich die Asylanträge nun noch mehr türmen. Es ist ein fataler Kreislauf.

Bisher sind 916 Menschen in die Türkei zurückgeschickt worden, doch in der gleichen Zeit kamen fast 30.000 nach Griechenland. Statt sich zu leeren, werden die Lager in Griechenland immer voller.

Schneller entscheiden mit McKinsey

Ein weiterer Grund dafür, dass so wenige Flüchtlinge zurückgeschickt werden: Die griechischen Behörden tun sich schwer damit, die Türkei als sicher einzustufen. Nur in ungefähr 1.500 Fällen entschied die Asylbehörde, man könne syrische Flüchtlinge guten Gewissens dorthin zurückschicken. Doch die Betroffenen legten Einspruch ein, und 400 von ihnen haben Recht bekommen und dürfen nun doch in Griechenland bleiben. Über das Schicksal der anderen ist noch nicht entschieden. Zwei der Flüchtlinge haben geklagt, bis ihre Sache vors höchste griechische Gericht kam – von dessen Urteil wird auch abhängen, was mit den anderen rund 1.000 Syrern geschieht, deren Fälle in zweiter Instanz noch offen sind. Der griechische Staat aber hat inzwischen die zuständigen Kommissionen umbesetzt. Die neuen Mitglieder sind Richter, die vermutlich strenger urteilen werden als ihre Vorgänger.

Weit weg in Brüssel drängt die EU-Kommission unterdessen seit einem Jahr, endlich mehr Menschen schneller zurückzuschicken. Dafür spannt sie jetzt auch Unternehmensberater ein. Mitarbeiter von McKinsey sind an einem Aktionsplan beteiligt, der im vergangenen Herbst entwickelt wurde und jetzt in die Praxis umgesetzt werden soll. Er sieht beispielsweise vor, dass in Zukunft weniger Rücksicht auf besonders schutzbedürftige Personen, also Kranke, Minderjährige oder Alleinerziehende, genommen werden soll. Die McKinsey-Berater treffen sich mindestens einmal die Woche mit allen anderen Beteiligten, um die Asylverfahren zu beschleunigen. Hilfsorganisationen, aber auch hochrangige Vertreter der griechischen Asylbehörde, wehren sich gegen den Zeitdruck. Sie sagen, ihre wichtigste Aufgabe sei nicht Schnelligkeit, sondern Fairness und Gründlichkeit.

Alles wäre etwas einfacher, würden die anderen EU-Länder sich an ihre weiteren Zusagen halten. Denn sie versprachen nicht nur, Fallbearbeiter auf die Inseln zu schicken – sie wollten auch Flüchtlinge aus Griechenland und der Türkei in relevanter Zahl bei sich aufnehmen, um die beiden Länder zu entlasten. Von 160.000 Menschen war ursprünglich die Rede. Aber tatsächlich – formal korrekt betrachtet – haben die Europäer sich bislang nur dazu verpflichtet, bis September des laufenden Jahres 98.255 Personen aus Italien und Griechenland innerhalb der EU umzusiedeln, dazu eine weit geringere Zahl von Flüchtlingen aus der Türkei.

Es geht nur langsam voran. In der griechischen Asylbehörde klagt man seit Monaten darüber, dass die anderen Staaten die Umsiedlungen „unnötig kompliziert und langsam“ machten. Frankreich beispielsweise wäre zur Aufnahme von 12.599 Personen verpflichtet, aber bisher sagten die französischen Behörden nur 4.170 Flüchtlingen fest zu. Gerade einmal 2.476 konnten tatsächlich einreisen. Österreich hat ein Soll von 1.491, bisher aber noch gar keinen Flüchtling aus Griechenland bei sich aufgenommen.

Insgesamt sind bis Ende Februar erst 13.546 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere europäische Länder gebracht worden, weswegen die EU-Kommission jüngst ungewöhnlich deutlich auf die Mitgliedsstaaten schimpfte: Es habe nun „genug Ausreden“ gegeben, sagte Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos. Er verlangte, künftig sollten monatlich 3.000 Personen aus Griechenland auf andere Länder verteilt werden.

2,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei

Ganz ähnlich ist die Lage in der Türkei – dabei sollten die Umsiedlungen aus der Türkei in die EU doch der entscheidende Beitrag der Europäer zum Flüchtlingsabkommen sein.

Was hatte Angela Merkel auf ihrer Pressekonferenz in Brüssel noch versprochen? Man werde für die Flüchtlinge in der Türkei „Alternativen aufzeigen, wie man auf legalen Wegen nach Europa kann“, damit diese eben nicht mehr die gefährlichen und illegalen Bootsfahrten riskieren müssten. Doch diese legalen Wege gibt es bis heute nur für sehr, sehr wenige, genauer gesagt: für 4.130 Flüchtlinge. Zum Teil liegt das daran, dass nur knapp Tausend Personen von den griechischen Inseln zurück in die Türkei gebracht wurden – und das Abkommen sah ja ursprünglich ein Eins-zu-eins-Verhältnis vor.

Doch daneben legte der Vertrag noch einen anderen Umsiedlungsweg fest: einen freiwilligen, humanitären Mechanismus für die Aufnahme von Flüchtlingen, und zwar in großem Stil. Wie die Welt berichtet, hatten Deutschland und die Niederlande der Türkei inoffiziell sogar Zahlen genannt: Bis zu 250.000 Menschen wollten sie angeblich pro Jahr aufnehmen. Doch bisher ist niemand auf diesem Weg nach Europa gelangt. In der Realität existiert der freiwillige humanitäre Mechanismus nicht.

Im Abkommen hieß es, er solle greifen, „sobald die irregulären Übertritte zwischen der Türkei und der EU enden oder zumindest erheblich und nachhaltig zurückgegangen sind.“ Das sind sie seit einem Jahr, freilich ohne irgendwelche Folgen. Die EU-Kommission erklärte kürzlich wolkig, man wolle bald „standardisierte Verfahren“ beschließen und dann „eine Einschätzung vornehmen“, ob die Bedingungen erfüllt seien, „um die Umsetzung des Mechanismus auszulösen.“ Wenn es um legale Wege in die EU geht, hat Europa es plötzlich nicht mehr eilig.

EU-Mitgliedsländer ducken sich weg

Daran ist nicht die EU-Kommission in Brüssel Schuld. Sondern, wie so oft, die Mitgliedsländer, die sich hinter der EU verstecken. Ungarn, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien haben keinen einzigen Flüchtling aus den Nachbarländern Syriens aufgenommen. Portugal ließ 12 aus der Türkei einreisen, Spanien 52, Frankreich 522 und Deutschland 1.403. So sieht es also in der Praxis aus, das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, das gerade wieder viele für die beste Lösung halten. In der Türkei leben laut UNHCR derzeit 2,9 Millionen syrische Flüchtlinge.

Nun droht die Türkei inmitten der aktuellen diplomatischen Krise zwischen ihr und Europa, aus dem Abkommen auszusteigen. 150.000 Flüchtlinge will sie jeden Monat schicken. Doch so lange die europäischen Grenzen so dicht sind wie jetzt, dürften sich die meisten dieser Flüchtlinge freiwillig gar nicht erst auf den Weg machen. Sie sehen ja, wie es denen geht, die es zuletzt versucht haben und nun in Griechenland auf den Inseln festsitzen.

So ist nach einem Jahr klar: Die europäischen Staaten haben das Abkommen, das ihnen derart wichtig war, zum allergrößten Teil gar nicht umgesetzt. Schmerzhafte und schwierige Teile haben sie schlicht ignoriert, als sie gemerkt haben, dass die Abschreckung auch so funktioniert. Das Abkommen ist eine Ruine, aber es erfüllt dennoch seinen Zweck: die Flüchtlinge auf Distanz zu halten.

Ausbaden muss das ein überfordertes Griechenland, und ausbaden müssen das die Flüchtlinge. Vor allem ihnen solle geholfen werden, sagte Bundeskanzlerin Merkel einst auf ihrer Pressekonferenz in Brüssel. Ein Jahr später deutet wenig bis nichts darauf hin, dass Europa dieses Versprechen eingelöst hat.

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