Der Tagesspiegel | 01.03.2017
Der EU-Türkei-Deal wird in diesem Monat ein Jahr alt. Warum er ganz anders funktioniert als behauptet, erklärt die Göttinger Grenzforscherin Sabine Hess im Interview.
von Andrea Dernbach
Sie werfen der EU eine Art Internierung Geflüchteter auf den griechischen Inseln vor. Nun sind die ja dorthin nicht deportiert worden, sondern selbst nach Lesbos oder Chios gekommen.
Richtig. Inseln sind immer auch Transitpunkte der Migranten selbst. Nehmen Sie die Kanaren oder Lampedusa auf Sizilien. Dasselbe gilt für die Ägäis. Aber es gibt eben auch eine alte Tradition der „Insellösung“, die sich gegen Migranten richtet. Ein Beispiel wäre die berüchtigte Insel Nauru, wohin Australien unerwünschte Neuankömmlinge ausweist. In der Forschung sprechen wir von Exterritorialisierung: Die Leute kommen an Orte, wo sie nicht mehr unter dem vollen Recht des handelnden Nationalstaats stehen und ihre Lage weitgehend abgeschirmt ist gegen Öffentlichkeit und Kritik. Die Insellösung der EU heißt: Die Menschen dürfen nicht weiterreisen, sie werden auf den Ägäis-Inseln festgehalten. Das macht die Inseln zu Open-Air-Gefängnissen. Der Kern des EU-Türkei-Deals ist es, die Weiterreise von dort zu unterbinden…
…weshalb Sie ihn lieber einen EU-Griechenland-Deal nennen?
Die Türkei hält Flüchtlinge nicht massiv auf. Unsere Gespräche in der Türkei ergaben: Alle, die dort festsitzen, bleiben in der Türkei, weil sie inzwischen wissen, wie fürchterlich die Lage auf den griechischen Inseln ist.
Und wie funktioniert der EU-Griechenland-Deal?
Wer auf den Inseln ankommt, ist erst einmal dem Generalverdacht ausgesetzt, dass er eigentlich in der Türkei in Sicherheit gewesen wäre. Die Flüchtlinge kommen überhaupt nicht dazu, ihre Verfolgungs- und Fluchtgeschichte darzulegen, dort geht es nur um „inadmissability“: Ob sie zugangsberechtigt sind und wer für sie zuständig ist, Griechenland oder die Türkei. Wer auf den Inseln landet, ist von vornherein von Abschiebung bedroht. Sie trifft jeden und jede, die nicht glaubhaft machen kann, dass sie oder er dort nicht sicher leben kann. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist damit unterhöhlt. Den Rest des Deals erledigen die physischen Zustände auf den Inseln, aktuell die Kälte, die mangelnde Versorgung, die Tatsache, dass die griechischen Asylbehörden bis heute nicht richtig funktionieren. Die himmelschreienden Zustände treiben die Leute in Revolten und Aufstände – weshalb die Europäische Asylbehörde EASO die Inseln zwischenzeitlich verlassen hat. Sie sind nur noch Sackgasse und Endstation. Das ist es, was Migranten abschreckt und die EU-Flüchtlingszahlen drückt. Die türkische Küstenwache ist es nicht.
Woher wissen Sie das?
Wir, eine Gruppe von neun Forscherinnen, konnten mit Hilfe der Thyssen-Stiftung von April bis Oktober 2016 in der Region forschen. Wir haben uns die Lage an den südosteuropäischen Grenzen angesehen, auf den Inseln und in der Türkei, wo wir uns die Lebensbedingungen der Menschen ansehen konnten, die dort festsitzen. Wir konnten mit vielen syrischen Aktivisten sprechen. Wir haben auch sehen können, wie sich die Lage entlang der Balkanroute verschärft, wie dramatisch es ist, in Serbien eingeschlossen zu sein, oder mit welcher Brutalität, mit Steinen und Hunden, die ungarischen Grenzwachen vorgehen.
Wer sich den jüngsten Bericht der EU-Grenzschutzbehörde Frontex durchliest, erfährt aber: So viel erreicht diese Brutalität gar nicht im Sinne der Abwehr. Die Zahlen sind zwar gesunken, seit die Balkanroute verstopft ist, aber an anderer Stelle gestiegen, zum Beispiel im zentralen und westlichen Mittelmeer.
Das sagt die Migrations- und Grenzforschung seit langem: Migration lässt sich nicht aufhalten, solange die Gründe da sind, weswegen Menschen ihre Länder verlassen: Das sind Kriege, Not, Raubbau an der Umwelt. Die Aufrüstung an den Grenzen treibt lediglich die Kosten für die Migranten in die Höhe, sie macht ihren Weg gefährlicher und teurer. Wie verzweifelt muss man sein, um sich in ein Schlauchboot zu setzen, wenn man weiß, dass die eigene Überlebenschance bei rund 80 Prozent liegt? Ich meine damit die Überlebensquote derer, die es in ein Boot schaffen, was auf dem Weg bis dahin geschieht, dafür ist die Dunkelziffer sehr hoch. Es gibt jedenfalls eine klare Erkenntnis der Migrationsforschung: Wenn der Grenzwall an einer Stelle hochgefahren wird, orientieren sich die Migrationsnetzwerke neu, verlagern sich die Wege. So erschafft die Aufrüstung an den Grenzen erst das Schmuggler-Geschäft, das sie zu bekämpfen behauptet.
Auch aus Afrika sind laut Frontex die Zahlen gestiegen, 2016 um ein knappes Viertel gegenüber dem Vorjahr. Was ist da geschehen?
Ermittelt werden ja lediglich die Aufgriffszahlen, nicht die reale Zahl der Menschen, die etwa seit Jahren rings um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika in den Städten und Wäldern ausharren, um irgendwann nach Europa zu kommen. Erst letztes Wochenende haben auch dort wieder hunderte MigrantInnen versucht, die sieben Meter hohen Zäune zu überwinden – und es zum Teil auch geschafft. Es wäre durchaus möglich, dass auch hier wieder eine Konjunktur ablesbar ist. Die Leute wussten, dass die Aufmerksamkeit der europäischen Grenzwachen jetzt dem östlichen Mittelmeer galt, und sahen größere Chancen, im Westen die Absperranlagen zu überwinden und es erneut zu versuchen.
Frontex gesteht in seinem Bericht ein: Die Abschiebungspolitik funktioniert ebenfalls nicht wie gewünscht. Nur knapp 58 Prozent derer, die Europa für nicht berechtigt hält zu bleiben, können in ihre Heimat- oder andere Länder zurückgebracht werden. Vermutlich liegt die Zahl sogar deutlich niedriger, weil die Ausweise-Entscheidungen gezählt wurden, nicht die reale Abschiebung.
Da wird ein ungeheurer Aufwand für einen sehr, sehr geringen Ertrag getrieben. Wir wissen zum Beispiel aus unseren Gesprächen in der Türkei, dass einige der Abgeschobenen der ersten Phase des EU-Deals bereits zurück in der EU sind.
Im Frontex-Bericht ist stets von „illegalen Grenzübertritten“ die Rede. Auch die Kriegsflüchtlinge aus Syrien werden mit diesem Etikett versehen.
Da gibt es in EU-Dokumenten insgesamt eine Rückkehr zur alten Rhetorik. Sie hatte sich etwas abgeschwächt über die Jahre, spätestens 2015 ließ sich das gut ablesen. Damals war die Brutalität des Krieges in Syrien vor aller Augen, und es war schwer, die fliehenden Syrerinnen und Syrer als Illegale zu bezeichnen. Mit dem Schwenk in der europäischen Politik, zurück zur Abschottung, gibt es auch einen Schwenk in der Rhetorik. Die Rede von Bürgerkriegsflüchtlingen verschwindet vollkommen. Für uns ein klares Indiz, dass Migration wieder als kriminell und illegitim gelten soll.
Aber es gibt ohnehin nicht nur die Elends- und Kriegsmigration, oder?
Natürlich gibt es auch die, die nicht gezwungen sind, sich in seeuntüchtige Schlauchboote zu zwängen. Es gibt unterschiedliche Gründe, das Land seiner Herkunft zu verlassen und anderswo, ja – sein Glück zu suchen. Die Menschen im globalen Norden sollten das eigentlich gut verstehen. „The pursuit of happiness“, das Streben nach Glück, steht in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Schon für die Gründerväter der USA war es ein Menschenrecht.
Das Land dieser Unabhängigkeitserklärung wird seit wenigen Wochen von Donald Trump regiert. Es hat bereits Razzien gegen Einwanderer ohne Papiere gegeben, demnächst soll eine Mauer an der Südgrenze zu Mexiko entstehen. Sie sagten uns kürzlich, Europa sei auch nicht besser. Warum?
In Europa kommt eine ebenfalls brutale Abschottung im Gewande der Menschenrechtspolitik daher. Man gibt vor, Menschenleben zu retten und Nigerianerinnen vor sexueller Ausbeutung zu schützen, indem man die Überfahrt hochgefährlich macht. Der SPD-Fraktionschef, Herr Oppermann, versuchte kürzlich, alte Lösungen noch zu radikalisieren und dem Publikum die Idee schmackhaft zu machen, Asyl in nordafrikanischen Auffanglagern zu exterritorialisieren. Zu behaupten, die Zentren dort dienten Menschen, die man aus Seenot gerettet hat, dreht die tatsächliche Lage völlig um. Das ist Augenwischerei. Da ist der neue US-Präsident wenigstens ehrlich. Ich hoffe allerdings, dass Europas Bürger klüger sind und erkennen werden, dass die Politik ihrer Regierungen selbst den Tod produziert.
Was wäre denn die Alternative zur aktuellen Grenzschutzpolitik?
Wenn ich aufs Jahr 2015 zurückschaue, sehe ich eine riesige vertane Chance. Das wäre der Zeitpunkt gewesen, sich global Gedanken über eine ganz neue Migrationspolitik zu machen.
Was wäre zu tun?
Wir brauchen nicht weniger als eine andere weltweite Friedens- und Wirtschaftspolitik. Wer Migrationspolitik als Migrationspolitik beginnt, hat schon verloren. Wer Krieg sät, bekommt Flüchtlinge. Wenn wir das Verursacherprinzip auf diesem Feld hätten, gäbe es die ganze Debatte gar nicht.