19. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge suchen sich jetzt neue Routen nach Europa“ · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien, Serbien · Tags:

Quelle: Die Welt

Trotz Türkei-Deal und Grenzzäunen kommen weiterhin täglich 200 bis 300 Migranten über die Balkanroute. Sie nutzen den „Service“ von Schmugglern, der sie über einen neuen Weg führt.

Als Ajub Khan das erste Mal über die bulgarische Grenze kam, wurde er verprügelt und wie ein Hund zurückgejagt. Die bulgarischen Grenzschützer „schlugen uns, klauten unser Geld, die Telefone, sogar das Essen, die Kleider, und jagten uns zurück“, erzählt er. Viermal wurde der junge Afghane aus Kandahar erwischt, bevor es beim fünften Versuch gelang, von der Türkei aus über die grüne Grenze zu schlüpfen. „Einmal hatten wir Glück, denn da waren auch deutsche Polizisten bei der Patrouille“, berichtet er. „Da wurden wir zwar auch in die Türkei zurückdeportiert, aber wenigstens schlugen die Bulgaren uns nicht.“ Ohne die Deutschen hingegen: „Immer Prügel“.

Immer mehr Migranten kommen auf diese Weise über die bulgarische Grenze, seit die Türkei den Weg nach Griechenland blockiert. Die Regierung in Sofia hat deswegen gerade beschlossen, den 2014 errichteten Zaun an der Grenze zur Türkei zu erweitern.

Monatelang war Khan unterwegs gewesen – Pakistan, Iran, Türkei. Eigentlich wollte er übers Meer nach Griechenland. Pech: Vier Tage zuvor war das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft getreten, dieser Weg damit versperrt. Für 1000 Euro versprachen Schlepper, ihn von Istanbul über Bulgarien nach Belgrad zu bringen.

Wie Ajub Khan kommen nach wie vor jeden Tag mehr als 200, manchmal mehr als 300 Migranten in Belgrad an, in einem Park am Busbahnhof, der als zentraler Treffpunkt dient. Hier bekommen sie Nahrung, Kleider und Schuhe von freiwilligen Helfern, warten auf Nachzügler, verhandeln mit Schmugglern.

Wo der „Sultan“ Hof hält

„Sultan“ nennt sich einer von ihnen. Grau melierte, kurz geschorene Haare, graues T-Shirt über einer Hose im Militärlook, Goldkette. Syrer. Er hält Hof auf der Terrasse eines Schnellimbisses im Park, stets umringt von Kunden. Immer wichtige Miene und das Telefon am Ohr. Gelegentlich kommen ein paar bullige Typen von irgendwoher dazu. Seine Leute.

„Er macht kein Hehl daraus, was er macht, ich glaube, er ist richtig stolz darauf“, meint Branislava Djonin, eine freiwillige Helferin. Mit Journalisten will Sultan freilich aber nicht sprechen.

Ajub Khan ist seit Beginn seiner Reise 4000 Euro losgeworden – an Schmuggler wie Sultan. Er zählt die Angebote auf, die ihm die Schmuggler derzeit machen: „800 Euro bis Wien. Oder 2000 Euro bis Deutschland.“ Für 100 Euro pro Kopf wird man mit anderen an die ungarische Grenze gebracht, dort wird ein Loch in den Grenzzaun geschnitten. Das ist die billigste Lösung.

„Wahnsinn, wie viele Löcher in den Zaun geschnitten werden“, sagt ein Grenzsoldat. Er war in den letzten Wochen wieder in seiner Heimatstadt Győr stationiert, aber „in ein paar Tagen müssen wir wieder runter an den Zaun, für ein oder zwei Monate“. Auch Ungarn verstärkt erneut die Grenzsicherung.

Wie viele Migranten über die ungarische Grenze kommen, das muss man sich aus verschiedenen Zahlen zusammenreimen. Nach offiziellen Angaben hat die Polizei seit Beginn des Jahres mehr als 11.000 „Grenzverletzer“ festgenommen. 3600 andere kamen legal über die „Transitzone“ für Flüchtlinge am ungarisch-serbischen Grenzübergang von Röszke, wo die Polizei möglichst langsam arbeitet, um den Zufluss einzuschränken. Und nach amtlichen Angaben wurden in diesem Jahr bislang 12.000 Asylanträge gestellt. Zudem gibt es eine Dunkelziffer, die niemand kennt: Jene, die durchgeschlüpft sind und nicht erwischt wurden.

Ein Asylantrag, gestellt in Ungarn, ist das Eintrittsticket in eines der „offenen Lager“ im Land, wo die Flüchtlinge theoretisch auf die Bearbeitung ihres Antrags warten. Tatsächlich verschwinden die meisten von ihnen nach kurzer Zeit spurlos.

„Go to Germany? No problem!“

Ein solches Lager ist jenes von Bicske, etwa 40 Kilometer westlich von Ungarns Hauptstadt Budapest. Ein reges Kommen und Gehen am Eingangstor. Wenige Hundert Meter entfernt ist der Geldtransferdienst Western Union im örtlichen Einkaufszentrum Tesco. Er ist der Schlüssel für jedes Weiterkommen. Schmuggler sind teuer.

„Go to Germany? No problem!“, lächelt Abdul Wahad Hamidi, laut Pass Jahrgang 1985, aus Afghanistan. Er bittet, beim Ausfüllen seines Formulars zu helfen, das er braucht, um Geld abzuholen. 1200 Dollar erwartet er aus der Heimat.

Es ist 10 Uhr morgens, rasch bildet sich eine beträchtliche Schlange vor dem Schalter. Drei ältere Ungarn schielen nach dem Geld, das die Migranten zählen und teilweise unter einander aufteilen. „Na, wie viel habt ihr bekommen?“, fragt eine Dame. In Ungarn beträgt der Durchschnittslohn 500 Euro monatlich. Als Rentnerin hat Erzsébet deutlich weniger. „Eine Invasion“ ist das, schimpft einer der beiden Herren neben ihr, und doziert über „genetische Unterschiede“ zwischen Migranten und Europäern. Erzsébet hat früher im Lager das Essen verteilt und eine bessere Meinung: „Sehr höflich, sie machen mir Platz, wenn sie mich auf der Straße sehen. Aber manchmal prügeln sie sich untereinander, ich weiß nicht, warum.“

Ein Angestellter bei Western Union erzählt, dass der Umsatz vom Flüchtlingslager abhängt. „Wenn es voll ist, machen wir viel Geld. Wenn nicht, weniger.“ Menschenschmuggel ist eine Milliardenindustrie, und vieles von dem Geld fließt über Dienste wie Western Union.

Ein weiteres Durchgangslager auf dem Weg nach Westen ist Vámosszabadi, direkt an der slowakischen Grenze. Ein großer Plattenbau, davor ein Industriegelände. Darauf abgestellt, surreal, ein rostendes Mini-U-Boot der ungarischen Marine, offenbar für die Donau gedacht. Und ein Tiger-Panzer der deutschen Wehrmacht. „Gehört Amerikanern, ist für Weltkriegs-Filme“, meint ein Wachmann des Lagers. Im Lager ist nicht viel los, gerade gibt es Mittagessen. Auf dem Parkplatz wird ein Bus startklar gemacht, er fährt in die nächstgelegene Stadt Győr, mehrfach am Tag.

Győr ist die letzte Schmuggler-Drehscheibe vor Österreich. „Zwei örtliche Lokale sind die Treffpunkte, eines davon ein türkisches Restaurant, das erst vor zwei Monaten eröffnete“, sagt Melissa Mészáros. Sie arbeitet in einem dieser Lokale, es darf nicht genannt werden, sonst ist sie ihren Job los, meint sie. Sie erzählt von einem Migranten, der mit einem 10.000 Forint-Schein (33 Euro) und einem Kondom im Lokal herumlief und allen Frauen ein Angebot machte. Und von einem anderen, der sie selbst hinter dem Tresen begrapschte. Seither hat das Lokal zwei Sicherheitsleute angestellt.

Vor dem Lokal läuft ein stämmiger Mann in Lederjacke auf und ab und telefoniert ständig. Um ihn herum junge Migranten. „Ein Stammkunde“, sagt Melissa. „Iraker. Plaudert viel mit uns. Kommt viermal am Tag rein, immer mit anderen Gruppen, bezahlt seinen Kaffee mit 50-Euro-Scheinen.“ Sie meint, in seinem Geldbeutel reichlich Euro, Dollar und englische Pfund zu erkennen. Ihrer Meinung nach: ein Schmuggler.

Vielleicht wird bald auch Ajub Khan aus Belgrad hier mit dem Iraker verhandeln – falls ihm jemand über Western Union frisches Geld für die Weiterreise schickt, denn er hat nichts mehr. Aber alle Freunde und Verwandten haben schon gegeben, was sie konnten, meint er. So hilft er vorerst den Flüchtlingshelfern, Leuten wie ihm zu helfen. „Wer hilft, dem wird geholfen“, hofft er.

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