Quelle: Telepolis
Eine unvollständige Bestandsaufnahme der politischen Verhältnisse in der Türkei
Birgit Gärtner
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan entpuppt sich zunehmend als zwielichtige Gestalt: Seit kurzem sind familiäre und freundschaftliche Verflechtungen mit in den so genannten Panama-Papers genannten Personen bekannt. Außerdem wird Kritik laut an der massiven Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, der Repression gegenüber Oppositionellen, den offenbar haarsträubenden Bedingungen in den Flüchtlingslagern nahe der syrischen Grenze sowie am Kriegskurs der AKP-Regierung. Außerdem wird der Verdacht geäußert, die türkische Armee setze u.a. deutsche Waffen in den Kriegsgebieten ein. Zudem werden immer wieder Vorwürfe laut, die Türkei kooperiere mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) (Kooperation zwischen Türkei und IS: Neue Vorwürfe).
Die Liste der offenen Fragen ist lang
Der EU-Türkei-Deal ist derzeit in aller Munde. Ursprünglich gedacht, die Bürgerkriegsflüchtlinge z. B. aus Syrien von Europa fernzuhalten, kommen immer mehr Zweifel auf, dass die Türkei die zu diesem Zwecke investierten Milliarden aus der EU in Unterbringung und Versorgung der Schutzsuchenden verwendet – und ihnen auch tatsächlich den versprochenen notwendigen Schutz gewährt. Von Schüssen an der Grenze zu Syrien auf Flüchtlinge ist die Rede – die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch konnte fünf Todesfälle aufgrund der Schüsse auf Flüchtlinge an der Grenze dokumentieren – von minderjährigen weiblichen Flüchtlingen, die aus den Lagern nahe der syrischen Grenze an türkische Männer verkauft werden, von Prostitution.
Genaues wissen wir allerdings nicht, denn die inländische Presse in der Türkei wird mehr oder weniger gleichgeschaltet, mittels Inhaftierung von missliebigen Journalistinnen und Journalisten, Enteignung von Medienbetrieben, die dann unter Staatskontrolle gestellt werden, und selbst ausländischen Medienleuten wird die Einreise in die Türkei verweigert, wie kürzlich dem ARD-Korrespondenten Volker Schwenck, der am Flughafen Istanbul festgesetzt und wieder nach Kairo abgeschoben wurde (Türkei: Regierung offenbar nicht kritikfähig).
Das gilt auch für die Situation in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, wo die militärische Auseinandersetzung zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Guerilla PKK zunehmend eskaliert. Selbst die UNO schaltete sich jetzt angesichts des Verdachts ein, dass in der kurdischen Stadt Cizre 100 Menschen von türkischen Spezialeinheiten bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Glaubwürdige Berichte darüber seien „extrem alarmierend“, sagte der Hohe Kommissar für Menschenrechte Zeid Ra’ad Al Hussein.
Der kurdische Politiker Ali Atalan äußerte wiederholt den Verdacht, dass die türkische Armee bei den Operationen, die sich vorwiegend gegen die Zivilbevölkerung richten, deutsche Waffen einsetzt (Türkei: Militärischer Angriff auf Nusaybin). Auch das ist aufgrund der zwar nicht offiziell verhängten, aber praktisch durchgesetzten Nachrichtensperre schwer überprüfbar.
Oppositionelle leben gefährlich
Am vergangenen Freitag wurde in Istanbul der Prozess gegen Dündar und Gül fortgesetzt. Während einer Verhandlungspause wurde auf den Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet geschossen. Plötzlich rief jemand „Vaterlandsverräter“, zog eine Pistole und schoss. Wagemutig ging Dündars Frau Dilek dazwischen. Dündar selbst blieb unverletzt, der Schütze wurde überwältigt. Ein Reporter des türkischen Fernsehsenders NTV wurde jedoch am Bein verletzt.
Ungeachtet des Vorfalls wurde Dündar zu 5 Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt, Gül zu 5 Jahren. Der Vorwurf der Spionage wurde fallen gelassen, jedoch fordert die Staatsanwaltschaft 31 Jahre und für Gül 10 Jahre Haft. Erdogan tritt in dem Prozess als Nebenkläger auf.
Über den Schützen ist bis dato nichts bekannt. Auch nicht über seine Motive. Die sieht Dündar indes in dem aufgeheizten politischen Klima in der Türkei, insbesondere in der Stimmungsmache gegen seine Person und seinen Kollegen Gül, wofür er Erdogan persönlich verantwortlich macht – allerdings ohne dessen Namen zu nennen.
In so ziemlich jedem Artikel in deutschsprachigen Medien wird anlässlich des vereitelten Attentats auf Dündar auf den Mord an den armenisch-stämmigen Journalisten Hrant Dink verwiesen, der 2007 auf offener Straße in Istanbul erschossen wurde.
Ende der Visapflicht: Kommen die dann alle zu uns?
Wer Lust hat auf einen Türkei-Urlaub, wird sich in aller Regel im Internet nach den schönsten Reisezielen, günstigsten Unterkünften und Flügen informieren, per Mausklick buchen – sich entspannt zurücklehnen, und sich auf Sonne und Meer freuen.
Wer aber Bürgerin oder Bürger der Türkei ist und Interesse beispielsweise an einer Urlaubsreise in ein Schengen-Land hat, kann nicht so einfach einen Urlaub buchen. Weder im Reisebüro, noch im Internet. Sondern es sind allerhand Hürden zu überwinden. Als erstes muss ein Visum für das entsprechende Land beantragt werden.
Das könnte sich bald ändern, wenn die EU und die Türkei eine Einigung erzielen und die Visumspflicht tatsächlich wegfällt. Als Termin dafür wird aktuell Oktober 2016 gehandelt. Die Vereinbarung ist noch lange nicht in trockenen Tüchern, schon taucht die Frage auf, was genau das bedeutet. Und ob nicht dann zu befürchten sei, dass uns die Türken förmlich überrennen. Diese Frage lässt sich nicht einfach mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten.
Grundsätzlich dürften die meisten Türkinnen und Türken rein private oder geschäftliche Interessen haben, die sie für kurze Zeit in unser Land führen, dass sie dann aber wie geplant wieder verlassen. Auch ist nicht zu befürchten, dass den bereits hier lebenden „MimiMis“ (MitbürgerInnen mit Migrationshintergrund) aus der Türkei Onkel, Tanten und alle Anverwandte hierher bringen. Selbst türkisch-stämmige Menschen, die sehr lange hier leben, auch Linke übrigens, planen irgendwann zurückzugehen. Im Alter beispielsweise. Allerdings sichern sich auch junge, gute ausgebildete, hier geborene und aufgewachsene Menschen mit türkischen Wurzeln aufgrund der Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt hierzulande ihre Existenz, indem sie einen Job in der Türkei annehmen.
Schengen-Visa sind mit großem Aufwand verbunden
2015 wurden in der Türkei 210.000 Schengen-Visa erteilt. 10-20% der Antragstellenden wurde es jedoch verweigert. Für die Reisewilligen bedeutet der Antrag auf ein Schengen-Visa, Einkommensnachweise, Steuerbescheide, Kontoauszüge, Nachweis über Versicherungen, Grundbucheintragungen sowie bestätigte Hotelbuchungen und gebuchten Rückflug beibringen zu müssen. Im Verlaufe dieses Verfahrens werden u.a. auch Fingerabdrücke genommen. Viele empfinden diese Prozedur als würdelos.
Gemessen an den vielfältigen politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen den EU-Staaten und der Türkei ist sie nicht nur würdelos, sondern auch nicht zeitgemäß.
Es könnten mehr kommen, als eigentlich wollen
Allerdings, je mehr sich die politische Situation in der Türkei verschärft, je mehr Menschen durch den militärischen Konflikt in den kurdischen Gebieten heimatlos gemacht werden, desto mehr Menschen könnten anfangen, darüber nachzudenken, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
Wenn also die EU verhindern will, dass der Wegfall der Visumspflicht für die türkische und kurdische Bevölkerung in erster Linie als Reiseerleichterung begriffen wird, und nicht als Sprungbrett für eine Umsiedlung, dann sollte politischer Druck auf den Flüchtlingsstrom-Produzenten Erdogan ausgeübt werden.
Statt sich dessen Vorstellung von „freien“ Medien zu unterwerfen, sollte die Garantie der Presse- und Meinungsfreiheit als Bedingung für die Erfüllung der Forderungen der türkischen Regierung gestellt werden.
Statt mehr und mehr Waffen in die Türkei zu exportieren, sollte die Aufnahme von Friedensgesprächen mit der PKK von der türkischen Regierung gefordert werden.
Statt der Türkei Milliarden € in den Rachen zu werfen, den Repräsentanten Erdogan als Verhandlungspartner zu akzeptieren und seelenruhig zuzusehen, wie er eine nach seinen Ansprüchen maßgeschneiderte Regierung installiert, und die brutalen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten mit Repression gegen hier lebende politisch aktive Kurdinnen und Kurden zu belohnen, sollte der Abzug der türkischen Truppen aus dem Südosten des Landes gefordert und das PKK-Verbot endlich aufgehoben werden.