12. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Erdogan-Vertrauter droht Europa mit Flüchtlingen“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: Die Welt

Ein Abgeordneter der AKP droht unverhohlen, Flüchtlinge nach Europa „loszuschicken“, falls die EU türkischen Staatsbürgern keine Visafreiheit einräumt. Er ist nicht der Einzige, der droht.

Im Streit über die Visafreiheit für türkische Staatsbürger verschärft sich der Ton aus Ankara in Richtung EU. „Morgen wird das Europäische Parlament über den Bericht beraten, der türkischen Staatsbürgern den visafreien Weg nach Europa öffnen wird. Wenn das Parlament eine falsche Entscheidung trifft, schicken wir Flüchtlinge los“, schrieb am Dienstagabend der AKP-Abgeordnete Burhan Kuzu auf Twitter. Kuzu ist Professor für Verfassungsrecht und gilt als wichtigster Berater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Im vergangenen Jahr fiel er mit der Behauptung auf, bei den meisten getöteten PKK-Kämpfern handle es sich um „Unbeschnittene“ – und verschaffte dem Gerücht, dass die PKK voller christlicher beziehungsweise armenischer Söldner sei, eine quasi amtliche Bestätigung. Kuzus Äußerung ist die offenste Drohung an die EU. Allerdings nicht die einzige Kampfansage. Auch Europaminister Volkan Bozkir erklärte, für die Türkei komme eine Änderung der Antiterrorgesetze nicht infrage.

Streit über Terrorbegriff

Im Gegenzug zu einer Aufhebung der Visafreiheit hatte sich die Türkei dazu verpflichtet, 72 Forderungen der EU zu erfüllen. Dazu gehört die Rücknahme illegal auf die griechischen Inseln gereister Flüchtlinge, aber auch innenpolitische Verpflichtungen wie die praktische Gewährleistung der Pressefreiheit und die Anpassung der Antiterrorgesetze an europäische Normen.

Insbesondere bei diesem Thema verhärten sich die Fronten. Die EU verlangt eine engere Definition des Terrorbegriffs, während die Türkei den Begriff noch großzügiger auslegen will als ohnehin schon. Vor einiger Zeit brachte Erdogan die Idee ins Gespräch, „Terrorunterstützern“ die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Es gäbe keinen Unterschied zwischen bewaffneten Terroristen und Journalisten, Wissenschaftlern oder Rechtsanwälten, die diese unterstützten.

In der Türkei riskiert inzwischen jeder, der die Kurdenpolitik der Regierung kritisiert, selber wegen Unterstützung einer Terrororganisation angeklagt zu werden. Wenn das Parlament wie geplant die Immunität der Abgeordneten der prokurdischen HDP aufhebt, droht auch ihnen dasselbe Schicksal.

In einer Situation, in der die Türkei „über 450 Märtyrer“ zu beklagen habe, also Angehörige von Sicherheitskräften, die seit dem Ende des Waffenstillstands im vergangenen Sommer im Kampf gegen die kurdische PKK ums Leben kamen, sei an eine Änderung der Antiterrorgesetze nicht zu denken, so Europaminister Bozkir.

Erdogans Haltung schwankt

Von Erdogan selbst war zuletzt Widersprüchliches zum Flüchtlingsabkommen zu hören. Ende letzte Woche sagte er, wenn die EU auf der Änderung der Antiterrorgesetze bestehe, werde der Deal platzen. „Dann geht jeder seiner Wege.“ Kurz danach berichteten türkische Medien, dass Erdogan die Anweisung erteilt habe, sich an die gemachten Zusagen zu halten.

Am Dienstag sprach Erdogan davon, dass es in einem europäischen Land Camps gäbe, in denen „Terroristen“ militärisch und ideologisch ausgebildet würden. Um welches Land es sich dabei handle, erwähnte er nicht. Der Forderung nach einer Anpassung der Antiterrorgesetze erteilte er erneut eine Absage. „Niemand darf das Land von Löwen zu einer vegetarischen Diät verdammen“, sagte Erdogan.

Das Europaparlament wird sich vorerst wohl nicht mit der Visafreiheit beschäftigen, weil es die Kriterien nicht als erfüllt betrachtet. Bei der Unterzeichnung des Abkommens war das Parlament nicht beteiligt, muss aber der Visafreiheit zustimmen.

:::::

siehe auch: Telepolis

Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei auf der Kippe?

Thomas Pany

Streit über Visaerleichterungen und Anti-Terror-Gesetze schaukelt sich auf: „Dann schicken wir Flüchtlinge los“

Vertreter beider Seiten machen den Streitpunkt zur Frage der prinzipiellen Haltung. Es wird interessant, welche diplomatischen Auswege dafür gefunden werden. Der türkische EU-Minister Volkan Bozkir sagte, es sei der Türkei unmöglich, Veränderungen am Anti-Terror-Gesetz zu akzeptieren. Mehr als 450 Märtyrer hätten ihr Leben für die Türkei gelassen. Unter solchen Bedingungen sei eine Revision des Terror-Gesetzes unmöglich.

Am Abend zuvor hatte Burhan Kuzu, dessen Funktion als Berater von Präsident Erdogan bezeichnet wird, über Twitter ausgesprochen, was mit dem Begriff „Schleusenwärter Erdogan“ seit Beginn über den Verhandlungen zum Flüchtlingsdeal mit der Türkei hing, die Drohung, die Grenzen weit zu öffnen. Wenn das EU-Parlament die falsche Entscheidung treffe, wird der Tweet wiedergegeben, „dann schicken wir die Flüchtlinge los“.

Einstweilen aber blockiert der EU-Parlamentspräsident die Entscheidung des Parlaments in Straßburg. Er habe das ihm zugeleitete Entwurfspaket für die Visaerleichterung nicht an den zuständigen Ausschuss im Parlament weitergeleitet, erklärte Schulz. Das Gesetzespaket liege bei ihm, und er werde es dort liegen lassen, bis die Türkei alle Voraussetzungen erfüllt hat.

Das habe sie bisher eindeutig nicht getan, so Schulz. Er hob zwei der nicht erfüllten 5 von 72 Kriterien hervor, die Reform des Anti-Terror-Paragraphen und des Datenschutzrechts. Man zeige jetzt, dass es beim Deal mit der Türkei nicht um eine Vereinbarung gehe zu „Lasten der Seriösität in der Gesetzgebung“. Es gehe um Qualität. Zwei der wesentlichsten Voraussetzungen seien „sichtlich nicht nur nicht erfüllt, sondern nicht mal angepackt“.

Die EU habe sich an ihre Abmachungen gehalten, die Türkei nicht, so Schulz, er erkenn auch nicht, dass die Türkei den Willen habe, „zumindest den Anti-Terror-Paragraphen“ zu ändern.

Sollte das Abkommen doch scheitern, dann habe nicht nur die EU ein Problem, sondern „sicher auch die Türkei“. Schulz nannte in diesem Zusammenhang die Milliardenzahlungen für die Flüchtlingsbetreuung. Darüber hinaus verwies er auf die Annäherung der Türkei an die EU, die man in Ankara nicht so fahrlässig aufs Spiel setzen werde.

Ob der türkische Präsident Erdogan die Annäherung an die EU so hoch ansetzt, ist fraglich. Dass mit der EU-Visaerleichterung Versprechen verbunden sind, die für seinen Rückhalt wichtig sind, wird ins Gewicht fallen. Ebenso wie die Milliardenzahlungen. Von beiden profitieren, wie an vielen Stellen zu hören ist, ein geschäftliches Umfeld, das über gute Beziehungen zum Präsident verfügt. Erdogan sprach davon, dass über die Anpassungen letztendlich erst im Oktober entschieden werde, wobei auch er betonte, dass es keine Anpassungen beim Anti-Terror-Gesetz geben werde.

Kommentare geschlossen.