08. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Warum sollte die Türkei die ganze Arbeit übernehmen?“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: Zeit Online

Die Türkei ist mit den vielen Flüchtlingen im Land überfordert, sagt der türkische Migrationsforscher Murat Erdoğan. Sie brauche eine gemeinsame Asylstrategie mit der EU.

Interview: Andrea Backhaus, Ankara

ZEIT ONLINE: Herr Erdoğan, hat der Flüchtlingsdeal der Beziehung zwischen der EU und der Türkei eher geholfen oder geschadet?

Murat Erdoğan: Das ist eine Beziehung zwischen zwei Verlierern. Die Türkei hat keine Freunde mehr, und die EU hat keine Hoffnung mehr. Deshalb ist das keine strategische Partnerschaft, sondern eine reine Notbeziehung. Das kann auf Dauer nicht funktionieren.

ZEIT ONLINE: Warum nicht?

Erdoğan: Die Türkei hat außenpolitisch nicht viel Spielraum. Sie will die EU natürlich an sich binden. Und die EU hat ihre Prioritäten verändert und ihre eigenen Prinzipien vergessen. Die Flüchtlingsfrage dominiert alles. Daneben sind Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit zweitrangig geworden. Für die EU ist die Rolle der Türkei klar: Sie soll die Menschen davon abhalten, nach Europa zu gelangen. Im Gegenzug bekommt sie Geld und vielleicht Visafreiheit. Aber so ein geldbasiertes Tauschgeschäft à la „Euros statt Flüchtlinge“ hilft weder den Flüchtlingen noch der Beziehung von EU und Türkei. Auch sind drei bis sechs Milliarden Euro als Zahlungen an die Türkei sehr unmenschlich. Ich frage die EU: Wie viel Milliarden Euro hat die Finanzkrise in Griechenland gekostet?

ZEIT ONLINE: Welche Folgen hat das Abkommen für die Flüchtlinge in der Türkei?

Erdoğan: Völlig klar ist: Die Flüchtlinge werden weiterhin kommen. Sie stammen mittlerweile nicht mehr nur aus Syrien, sondern auch aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea oder Äthiopien. Mit dem Pakt werden auch sie zurück in die Türkei geschickt. Aber warum sollte die Türkei die ganze Arbeit übernehmen? Auch Deutschland, Frankreich oder Holland können diese Flüchtlinge nicht einfach in ihre Heimatländer zurückschicken, weil die Menschenrechtslage es nicht zulässt. Also schickt man sie zurück in die Türkei, wo sie keine Perspektiven haben. Das hat dramatische Folgen für die Menschen und für die Türkei.

ZEIT ONLINE: Was sind die größten Herausforderungen?

Erdoğan: Wir haben mittlerweile rund 3,2 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Trotzdem sehen die türkische Regierung und Bevölkerung das als ein vorübergehendes Problem an. Die Türkei tut immer noch so, als werde Syriens Präsident Assad morgen gestürzt und die Syrer könnten dann alle wieder nach Hause fahren. Dabei werden sie natürlich auf Dauer bleiben. Sich das einzugestehen, ist vor allem dann zentral, wenn die Türkei nun mehr Syrer als bisher im Land behalten soll. Wir haben uns immer zu sehr auf Damaskus konzentriert, nicht auf die Flüchtlinge. Das war ein großer Fehler.

ZEIT ONLINE: Das heißt, es gibt keine Pläne, wie man mit den Flüchtlingen künftig umgehen will?

Erdoğan: Nein. Es gibt keine Integrationspolitik, keine kontrollierte Einwanderung in die Türkei, keine klaren Daten über Beruf oder Religion der syrischen Flüchtlinge. Wir haben eine 911 Kilometer lange Grenze mit Syrien und niemand weiß, wer genau ins Land kommt. Das ist ein Sicherheitsproblem, nicht nur für die Türkei. Auch hat die Türkei den Übergang von der Erstaufnahme der Menschen hin zu einer wirklichen Integration versäumt. Selbst das Wort „Integration“ wird von Regierung und Behörden gemieden, weil es so etwas wie ein Eingeständnis bedeuten würde.

Der verlorene Krieg in Syrien

ZEIT ONLINE: Ein Eingeständnis, dass man die Lage nicht im Griff hat?

Erdoğan: Ja. Und ein Eingeständnis, dass man den Krieg in Syrien verloren hat. Kurz nach Beginn des Kriegs war die Haltung der Türkei: Syrien kann es nur ohne Assad geben. Dann zogen sich die Kämpfe hin und es wurde darüber diskutiert, welche Rolle die Türkei spielen könnte. Dabei wurde völlig der Einfluss Russlands und des Irans vergessen sowie die vielen komplizierten Verflechtungen, die diesen Krieg so schwierig machen. Die Türkei hat eine enorm naive Außenpolitik betrieben. Spätestens jetzt ist das allen bewusst. Und in dem Moment, wo man beginnt, die Menschen dauerhaft zu integrieren, wirkt das wie eine Kapitulation.

ZEIT ONLINE: Die Türkei hat mehr Syrer aufgenommen als jedes Nachbarland. Hat man sich da wirklich nicht überlegt, wie man diese Menschen integrieren kann?

Erdoğan: Gleich zu Beginn des Syrien-Kriegs hatte sich die Regierung zu einer „Politik der offenen Tür“ bekannt, die jedem Flüchtling ein Bleiberecht zusprach. Die Syrer, die nicht bei ihrer Familie oder bei Bekannten unterkommen konnten, wurden in Lager gebracht, von denen es 25 in zehn Städten gibt und die sehr gut ausgestattet sind. In den Camps gibt es Moscheen, Krankenstationen und Schulen. Doch bei der so massiv gewachsenen Zahl der Flüchtlinge reichen die Camps nicht mehr aus. Heute leben nur noch rund neun Prozent der Menschen, also knapp 269.000, in den Lagern. Die anderen wohnen bei Verwandten, in angemieteten Wohnungen oder auf der Straße, und das in allen türkischen Provinzen. Man muss auch ihnen einen geordneten Zugang zu Arbeit, Bildung sowie eine Gesundheitsversorgung ermöglichen.

„Die Menschen haben mehr Angst“

ZEIT ONLINE: Erhöht sich durch das Abkommen der Druck auf die Flüchtlinge im Land?

Erdoğan: Auf jeden Fall. Die Menschen haben mehr Angst. Denn klar ist: Jeden Tag werden die Probleme größer. In der Türkei sind mehr als die Hälfte der syrischen Flüchtlinge unter 18 Jahre alt. Mindestens 900.000 Kinder sind im Schulalter. Davon besucht die Mehrheit keine Schule, etliche sind schon seit Jahren raus aus dem Schulbetrieb. Das hat desaströse Auswirkungen auf die künftigen Generationen. Wir bräuchten in der Türkei allein 35.000 neue Lehrer und Lehrerinnen, um den Bedarf halbwegs zu decken. Es gibt einige fundamentalistische Gruppen, die das ausnutzen wollen, und versuchen, die Kinder mit Bildungsangeboten zu erreichen, die ideologisch durchsetzt sind. Das ist hochproblematisch. Nicht nur für die Türkei, sondern für alle.

ZEIT ONLINE: Würde man angesichts dieser Probleme nicht mehr gesellschaftliche Spannungen erwarten?

Erdoğan: Die soziale Akzeptanz der Türken gegenüber den Flüchtlingen war bisher sehr hoch. Aber auch das ändert sich langsam, weil die Konflikte schon lange schwelen. Wir haben in der Türkei eine Arbeitslosigkeit von 10,8 Prozent, die Gewerkschaften sprechen von einer deutlich höheren Zahl. Mehr als 3,2 Millionen türkische Bürger warten auf einen Arbeitsplatz. Vor drei Monaten hat die Regierung ein Arbeitsrecht für die Flüchtlinge verabschiedet, was ich sehr begrüße. Und obwohl wir in allen Studien feststellen, dass viele Türken große Zukunftsängste haben, spricht niemand darüber. Weder die Gewerkschaften noch die Nichtregierungsorganisationen oder Medien. Die meisten Türken vertrauen Präsident Erdoğan und folgen seinem Kurs. Klar ist: Sobald Erdoğan umschwenken und eine kritische Haltung zu den Flüchtlingen einnehmen würde, würde die Stimmung im Land kippen.

Wachsende Polarisierung der türkischen Gesellschaft

ZEIT ONLINE: Was ist der Grund für das Schweigen?

Erdoğan: Es gibt einige Gründe. In der Türkei finden immer weniger Leute den Mut, offen Probleme anzusprechen. Auch beobachten wir eine wachsende Polarisierung in der Gesellschaft. Jeder kämpft gegen jeden, es gibt nur „Freunde“ oder „Feinde“, keine Grauzonen, wo man bei Problemen beide Seiten diskutieren kann. Die Flüchtlingsfrage ist in der Türkei ein sehr emotionales Problem. Die Regierung will nicht darüber diskutieren, der Opposition fehlen die Alternativen. Dabei sitzen alle im selben Boot und sollten Lösungen finden. Man muss aber sagen: Sowohl die türkische Regierung als auch die türkische Gesellschaft haben sich viel Mühe mit den Flüchtlingen gegeben. Es ist nicht einfach, in fünf Jahren mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. Auch gab es fast keine Solidarität vonseiten der Europäer. Die Türkei hat fast alles mit ihren eigenen Mitteln bestritten. Aber es gibt eben auch Probleme, und die müssen diskutiert und angegangen werden.

ZEIT ONLINE: Welche Einschränkungen erleben Sie da?

Erdoğan: Ich habe für eine große Studie mit vielen Flüchtlingsfamilien über ihre Lage an der türkisch-syrischen Grenze gesprochen. Die Regierung sieht natürlich, was da los ist. Aber sie will es nicht wahrhaben. Und wir Akademiker stellen ja genau diese Dinge, also die Lebensbedingungen, die strukturellen Probleme, die Versorgungsengpässe in der Flüchtlingsfrage in den Mittelpunkt unserer Forschung. Das will die Regierung unbedingt vermeiden und hat diese Umfragen anfangs verhindern wollen. Es hat sehr viel Mühe gekostet, dafür eine Erlaubnis vom Innenministerium zu bekommen. Das Thema der Flüchtlinge ist in der Türkei keine humanitäre, sondern eine rein politische Frage.

Die übertriebene Furcht der Europäer

ZEIT ONLINE: In Europa ist das nicht unbedingt anders. Wie nimmt man die Querelen beim Thema Flüchtlinge in der Türkei wahr?

Erdoğan: Dass Europa wegen der Flüchtlinge angeblich kollabieren würde, wie einige Bevölkerungsgruppen und Politiker es vermitteln, ist völlig überzogen. Das ist auch eine Mentalitätsfrage. In der Türkei machen die Flüchtlinge 3,5 Prozent der Bevölkerung aus, im Libanon 24 Prozent, in Jordanien zehn. In Europa machen sie gerade mal 0,25 Prozent aus. Die Panik der Europäer ist völlig übertrieben und steht in keinerlei Verhältnis. Es braucht etwas Empathie mit Menschen, die aus der puren Not heraus fliehen. Da kann es nicht immer nur darum gehen, die eigenen Grenzen zu schützen, sondern auch darum, sich um die anderen zu kümmern. Die Einstellung muss sich ändern.

ZEIT ONLINE: Wie könnte eine konstruktive Zusammenarbeit von EU und Türkei aussehen?

Erdoğan: Wir brauchen eine dauerhafte und enge Beziehung zueinander. Die EU muss verstehen, dass die Türkei ihr Verhandlungspartner und Beitrittskandidat und nicht nur ihr Gehilfe ist. Die EU und die Türkei müssen vor allem eine gemeinsame Asyl- und Integrationspolitik entwickeln. Die EU hat leider noch immer keine strategischen Entscheidungen dazu getroffen. Im Moment setzt Brüssel nur auf Sicherheit und Stabilität und nicht auf Demokratie. Das ist fatal und riskant für die Zukunft der Türkei. Was man in Deutschland verstehen muss: Die Türkei ist da und wird immer da bleiben. Man darf die Politik nicht nur an bestimmten Politikern oder Personen festmachen, sondern an der Türkei selbst. Man muss in das Land investieren, in die Strukturen und Organisationen. Die EU ist ein wichtiges Instrument für Menschenrechte und Werte. Das sollte sie nicht aus den Augen verlieren.

Kommentare geschlossen.