08. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Platzt der Traum von der Grenzenlosigkeit?“ · Kategorien: Europa · Tags: ,

Quelle: Der Freitag

Europa Angesichts der Einreisekontrollen in Schweden und Dänemark sowie der Angst vor Massenimmigration und Terror werden die ersten Nachrufe auf den „Schengen-Raum“ verfasst

Ian Traynor

Neulich in der Mittagspause beschloss der Malermeister Rainer Maring aus dem Saarland, seinem Lehrling eine kleine Geschichtsstunde zu erteilen. Sie nahmen ihre Stullen mit und fuhren im Lieferwagen der Firma über die Mosel, ins luxemburgische Weindorf Schengen.

Nur einmal über die Brücke, und man kommt von Deutschland nach Luxemburg. Dann links abbiegen, und nach 300 Metern ist man in Frankreich. Drei Länder in drei Minuten, und kein Polizist weit und breit. Im Jahr 1985 trafen sich hier Minister von fünf Regierungen, um ein kühnes Experiment des Reisens ohne Grenzen zu starten. Autos und Lastwagen mit einem grün gepunkteten Aufkleber auf der Windschutzscheibe konnten fortan ohne Passkontrollen zwischen den fünf Ländern – neben den genannten noch Belgien und die Niederlande – hin und her fahren.

1995 wurde diese Zone ausgeweitet und wuchs dann immer weiter. Schengen gelangte zu unerwartetem Ruhm als Geburtsort einer Reisefreiheit, die inzwischen 26 Staaten umfasst, von Island bis Griechenland. Das Gebiet ist heute als „Schengen-Raum“ bekannt.

Malermeister Maring zeigte dem Jugendlichen das rostende Monument zu Ehren des Abkommens, verziert mit Vorhängeschlössern und anderen Gedenkzeichen, mit denen Besucher das passfreie Reisen, den grenzüberschreitenden Pendlerverkehr, das Einkaufen im Nachbarland, die Wochenendausflüge und die Strand- oder Skiurlaube ohne Kontrollprozeduren feiern.

Doch Marings Erzählung über einen entscheidenden Moment der europäischen Integration klang elegisch; als spräche er nicht über die Gegenwart, sondern über ein verflossenes Zeitalter.

„Es war die Idee, dass all diese Länder sich vereinen würden, alle gleichberechtigt“, seufzte er. „Aber Europa funktioniert nicht richtig, und so ist nun all das in Gefahr. Wir gehen rückwärts. Dauernd wird verlangt, Grenzen wieder zu schließen, die Sache läuft gründlich schief.“

Auf der anderen Straßenseite, dem Denkmal gegenüber, hat das Dorf ein kleines Museum für die Schengen-Freiheiten errichtet. Auch dies in erbaulicher Absicht, heute aber wirkt der Anblick ironisch-melancholisch. „Mit der Aufhebung ihrer Binnengrenzen erkennt die Europäische Union an, dass alle Bürger der beteiligten Staaten demselben Raum zugehören, dass sie eine gemeinsame Identität haben.“ So steht es an der Museumsmauer geschrieben.

In einer Zeit der neu entfachten Nationalismen, der Klingendrahtzäune und der Rückkehr zu Grenzkontrollen, der massenhaften Einwanderung und des hausgemachten Terrorismus, der Angst und der Unsicherheit, wirkt diese Inschrift rührend altmodisch. Deutschland hat Mitte September angesichts der beispiellosen Zahl ankommender Flüchtlinge wieder Grenzkontrollen eingeführt, und Frankreich tat nach den Terroranschlägen von Paris im Dezember das Gleiche.

Überall in Europa sind die Verfechter geschlossener Nationalstaaten wieder im Aufwind und jene, die sich für liberale, offene Gesellschaften einsetzen, auf dem Rückzug. In gewisser Hinsicht wirkt es passend, dass in Schengen ein Museum steht: Es würdigt eine kurzlebige historische Kuriosität, ein provisorisches Gefüge, das unter dem Druck interner Populismen und externer Herausforderungen einknickte und zuammenbrach.

Nicolas Sarkozy, der 2017 wieder französischer Staatspräsident werden will, hat erklärt: „Schengen ist tot.“ Und Mark Rutte, Premierminister der Niederlande, zieht den Niedergang des Römischen Reichs zum Vergleich heran: „Imperien zerfallen, wenn ihre Außengrenzen nicht gut gesichert sind.“

Solches Gerede finden die Entscheidungsträger in Brüssel schäbig und verantwortungslos. Sie werfen den Staatschefs vor, sich die Sprache rechtsradikaler Zündler zueigen zu machen, um ihre schwindende Wählerbasis einzulullen. „Schengen ist vorbei, das hören wir heute ständig“, sagt die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini: „Es ist traurig zu sehen, wie Europa angesichts der Flüchtlinge in Panik verfällt – ein Zeichen der Schwäche. Die Versuchung, Schengen infrage zu stellen, kommt von innen. Erst waren es die Flüchtlinge, dann der Terrorismus. Aber was hat Schengen mit dem Terrorismus zu tun? Gar nichts. Schengen enthält selbst die Mechanismen, die wir jetzt bräuchten, um den Bedrohungen zu begegnen.“

„Die internen Grenzkontrollen sind ein Alptraum“, räumt der Brüsseler Botschafter eines großen EU-Staates ein. „Aber es gibt auch schon Vorschläge, den Schengen-Raum neu zu definieren. Es geht darum, die griechischen Grenzen unter Kontrolle zu bringen. Wenn das nicht gelingt, befürchten manche das komplette Scheitern des Schengen-Systems.“

Ein anderer Botschafter in Brüssel sagt: „Wir wollen uns Schengen bewahren, aber jeder muss sich an die Regeln halten. Zurzeit funktioniert das System nicht mehr. Es war nicht für den Fall konstruiert, dass Hunderttausende von Flüchtlingen in die EU wollen.“

Weil in der Tat Hunderttausende im vergangenen Jahr die türkisch-griechische Grenze überquert haben, soll Athen nun gezwungen werden, dort die Kontrollen zu verschärfen und einen Teil seiner Souveränität an EU-Behörden abzugeben. Die Nationalisten betrachten so einen Schritt als beispiellos und unzumutbar.

Die türkisch-griechische Grenze ist vor allem eine Seegrenze, im ägäischen Meer. Eine Zusammenarbeit mit der Türkei bei den Kontrollen lehnt Griechenland bisher ab. Und die Vorschläge der EU-Kommission für eine europäische Grenzschutzbehörde, die über den nationalen Instanzen stünde, sind höchst umstritten – zudem würde ihre Umsetzung Jahre dauern.

„Was soll Grenzschutz in diesem Fall bedeuten?“, fragt Federica Mogherini. „Dass wir die Menschen ertrinken lassen? Nein, Seegrenzen zu schützen heißt, wir müssen helfen, wenn wir jemanden in Not sehen.“

Die unter den Regierungen der EU-Staaten verbreitete Ansicht, das System funktioniere nicht mehr, führt zu immer mehr nationalen Alleingängen. So hat Frankreich nicht nur die Grenzkontrollen wieder eingeführt, sondern Premier Manuel Valls verkündete zudem, sein Land werde den von Deutschland vorangetriebenen Aufnahmequoten für Flüchtlinge nicht zustimmen.

Auch in Deutschland wird bekanntlich wieder kontrolliert. Österreich errichtet an der Grenze zum Schengen-Staat Slowenien einen Stacheldrahtzaun, so wie es schon Ungarn, Kroatien und Mazedonien an ihren Grenzen getan haben. Und selbst Schweden, bisher das einwandererfreundlichste Land Europas, hat zum Jahreswechsel Passkontrollen an seiner Grenze zu Dänemark eingeführt. Dänemark zog nur wenige Stunden später gleich und kontrolliert seither an der Grenze zu Deutschland – damit, wie Premierminister Lars Løkke Rasmussen erklärte, keine Flüchtlinge, die nach Schweden wollen, in Dänemark hängen bleiben. In Polen tönt die neu gewählte nationalistische Regierung, sie brauche die vollständige Herrschaft über die Grenzen ihres Landes.

Immigrantenfeindliche Tendenzen grassieren in ganz Europa, doch am grellsten treten sie in den östlichen EU-Staaten zutage. Die Regierungen in Ungarn, Polen und der Slowakei betätigen sich als Cheerleader eines abgeschotteten Europas. Zugleich freuen sie sich über die Segnungen, die ihnen Schengen bringt.

Viktor Orbán, Ungarns streitlustiger rechter Staatslenker, hat selten ein gutes Wort für die EU übrig, aber bei Schengen macht er eine Ausnahme: „Für uns Ungarn bedeutet Schengen Freiheit.“ Robert Fico, slowakischer Premierminister, eifert Orbán in der Geringschätzung westeuropäischer Liberaler nach, so gut er kann. Dabei pendeln zwischen Bratislava und Wien täglich mehr Menschen ohne Pass zur Arbeit als irgendwo sonst im Schengen-Raum.

In ganz Kontinentaleuropa empfinden die Bürger die Reisefreiheit längst als selbstverständlich. Zu Zehntausenden gehen Deutsche, Franzosen und Italiener Tag für Tag im Schengen-Staat Schweiz ihren Jobs nach, ohne sich ausweisen zu müssen. Insgesamt nutzten im Jahr 2014 laut dem Brüsseler Bruegel-Institut 1,7 Millionen Pendler in der EU den freien Grenzverkehr.

Die Øresund-Brücke zwischen Kopenhagen und dem schwedischen Malmö hat einen grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum mit 4 Millionen Einwohnern gedeihen lassen. Als am Montag nach Neujahr auf der Brücke erstmals wieder die Pässe verlangt wurden, verzögerte sich für 8000 dänische Pendler die Rückfahrt um 45 Minuten.

Die Aushöhlung des Schengen-Abkommens hat einen hohen Preis. „Seit die Franzosen wieder kontrollieren, haben wir an allen Grenzübergängen drei bis vier Stunden Stau“, beklagt Roger Weber, ehemaliger Schengener Bürgermeister. „Aus ökonomischer Perspektive ist das selbstmörderisch, erst recht in Krisenzeiten. Wir können nicht mit geschlossenen Grenzen leben.“

Auch bleibt zweifelhaft, ob die Grenzkontrollen und der neue Nationalismus wirklich die Einwanderung hemmen oder beim Kampf gegen Europas hausgemachtes Terrorproblem helfen können. Fast alle Attentäter bei den jüngsten Anschlägen besaßen EU-Pässe. Ungarns Grenzzaun hat die Zahl der ankommenden Flüchtlinge nicht verringert, sondern die Verantwortung bloß auf Nachbarstaaten abgewälzt. Als der französische Staatsbürger Mehdi Nemmouche im Mai 2014 im jüdischen Museum Brüssel mit einer Kalaschnikow vier Menschen ermordete, war er aufgrund der Datenbanken, die im Zentrum des Schengen-Systems stehen, längst bekannt – die zuständigen Behörden hatten es bloß versäumt zu handeln. Das Versagen war ein nationales, keins der EU oder des Schengen-Raums.

Auf seinem Rückweg nach Europa war Nemmouche aus Syrien in die Türkei eingereist und von dort nach Frankfurt geflogen. Dort wurde er bei der Ankunft anhand der als SIS und SIS-2 bekannten Datenbanken als verdächtig eingestuft. Die deutsche Polizei informierte die französischen Behörden – und diese blieben untätig.

Die Bluttat machte deutlicher denn ja, dass der Schlüssel zu einer wirksamen Antiterrorpolitik und Verbrechensbekämpfung darin liegt, die Geheimdiensterkenntnisse der 26 Schengen-Staaten zentral zu versammeln und automatisch abzugleichen. Zumal Terrorismus und organisiertes Verbrechen ja per se transnationale Phänomene sind. „Das ist aber keine leichte Aufgabe“, sagt Gilles de Kerchove, der Anti-Terror-Koordinator der EU: „Schließlich sind wir keine Föderation, und die Geheimdienstarbeit ist alleinige Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Manche Teile Europas verfügen auch nicht über die nötige technische Ausstattung.“

Zwar tauschen die Geheimdienste der EU große Mengen an Information aus, jedoch meist nur von einem Land zum anderen, ohne Rückgriff auf die gemeinsamen Datenbanken. Es heißt, die nationalen Dienste seien kaum willens, ihre Erkenntnisse in einem EU-weiten System zu teilen, aus Furcht, damit ihre Quellen zu verraten und ihre Methoden offen zu legen. So gelte als „goldene Regel“, dass kein Geheimdienst Informationen, die er von einem anderen Geheimdienst erhalten hat, ohne dessen ausdrückliche Zustimmung an Dritte weitergeben darf.

Unter dem Eindruck der jüngsten Terroranschläge drängt nun vor allem Frankreich darauf, diese Politik zu ändern, und hat angeblich die Menge an Daten, die es selbst in das Schengen-System einspeist, bereits verfünffacht. Ob solche Schritte die europäische Reisefreiheit noch retten können, bleibt abzuwarten. Indessen werden schon die Totenreden auf Schengen gehalten, und zwar nicht nur von Akademikern, sondern auch von aktiven Politikern. „Wenn es innerhalb der nächsten vier bis sechs Monate nicht gelingt, den Flüchtlingszuzug merklich zu bremsen, liegt Schengen in den letzten Zügen“, orakelt ein weiterer Botschafter in Brüssel.

Für Rainer Maring, den Malermeister auf kleiner Pilgerfahrt zu dem Schrein, der für das Versprechen eines besseren, freieren und menschlicheren Europas steht, kann der Tod von Schengen keine Antwort sein auf die Herausforderungen der Immigration: „Wenn die Grenzen dicht gemacht werden, hat der IS gewonnen. Darüber reden die Leute hier die ganze Zeit. Sie sind besorgt über die politischen Entwicklungen. Und noch etwas: Es mag dumm klingen und schwer vorstellbar sein – aber Krieg ist in Europa immer noch möglich.“

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