28. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „An Ungarns Grenze: Auf den Damm – über den Zaun“ · Kategorien: Bulgarien, Serbien, Ungarn · Tags: ,

Quelle: nzz

von Andreas Ernst, Horgos

Der ungarische Grenzzaun wird bald ganz geschlossen. Bevor es so weit ist, versuchen viele Flüchtlinge, von Serbien aus noch auf EU-Territorium zu gelangen. Ein Augenschein

Das kaisergelb gestrichene Bahnhofsgebäude von Horgos liegt still zwischen alten, hohen Bäumen. Kein Mensch ist zu sehen. Ein angenehm kühler Morgenwind streift durch die Blätter. Würde das Motorrad nicht vorbeiknattern, man glaubte sich versetzt in die Zeiten, als Horgos ein verschlafenes Provinznest der k. u. k. Monarchie war. Als gälte es, dem vorzubeugen, hängt eine riesige serbische Flagge an der Fassade. Seit 1918 ist die Vojvodina nicht mehr ungarisch, und Horgos ist serbischer Grenzort. Der Bahnhof liegt an der Linie von Subotica in Serbien nach Szeged in Ungarn. Die Nebenstrecke wird nur noch selten genutzt. Aber das gilt nur für die Eisenbahn.

Der Bahndamm dient dieser Tage Tausenden von Flüchtlinge aus den zerfallenden Staaten des Nahen und Mittleren Ostens als Grenzübergang. Allein an diesem Dienstag sind es 2500 Menschen, die von der ungarischen Polizei aufgegriffen werden. Ihre serbischen Kollegen stehen in Horgos am Bahnübergang und weisen den Flüchtlingen den Weg. Die Länder an der Balkanroute sind darauf erpicht, die Flüchtlinge so schnell als möglich durch ihr Territorium zu schleusen. Den Flüchtlingen kommt das entgegen. Ihre Zielländer liegen im reichen Norden des Kontinents.

Ungarn versucht jedoch, den Strom der Menschen mit einem Zaun entlang der serbischen Grenze abzuhalten oder auf die Nachbarstaaten umzulenken. Die erste Linie dieser Grenzbefestigung ist demnächst fertiggestellt. Bevor es so weit ist, versuchen viele Flüchtlinge den Schengenraum zu erreichen, in dem es seit Jahren keine systematischen Grenzkontrollen mehr gibt.

Stimmen im Mais

Der Zaun besteht aus drei aufeinander liegenden Rollen aus Nato-Draht, die mit rasierklingenscharfen Messerklingen bewehrt sind. Er führt schnurgerade entlang eines ausgetrockneten Bewässerungskanals. Auf dem Feldweg hinter dem Zaun patrouillieren ungarische Grenzschützer in ihren Autos. Bis November soll parallel zum Stacheldrahtverhau ein drei Meter hoher Maschendrahtzaun gebaut werden. Heute erstreckt sich hier nur ein riesiges Feld mit mannshohem Mais.

Plötzlich, als drängen sie aus der Erde empor, hört man Stimmen. Der Kanal ist mit Schilf überwachsen, das sich jetzt zu bewegen beginnt. Ein, zwei, dann drei Köpfe lugen hervor. Die jungen Männer klettern die steile Böschung hoch. Aber die Stelle ist schlecht gewählt. Hier würde die Gruppe sofort bemerkt, versuchte sie den Stacheldraht zu überwinden. Die Männer tauchen wieder ab, und die Gruppe geht weiter.

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Da, wo die Grenze eine leichte Biegung macht, ist die Chance gekommen. Die ganze Gruppe löst sich aus dem Schilf. Über 20 Personen, die meisten von ihnen Männer, aber auch Frauen und Kinder. Einer kniet nieder und löst geschickt den Draht, der den Verhau mit einem Pfosten verbindet. Ein anderer zieht sich an einem Signalpfosten hoch und kann mit den Füssen das Hindernis etwas niederdrücken. Dann schwingt er sich vom Pfosten über den Stacheldraht. Auf ungarischem Boden reisst er triumphierend die Hände in die Luft.

Es folgt der Nächste. Die Kinder werden hinübergereicht. Dann die Mutter. Aber der Draht ist tückisch und springt zurück. Die Frau stürzt nach vorn, kann von den andern aufgefangen werden. Ihre Hose färbt sich dunkel mit Blut. Die Kinder beginnen zu weinen. Aber es geht weiter. Eine junge Frau lacht hysterisch, während sie über den Stacheldraht gehievt wird. Und jetzt hat es der Letzte geschafft. Wenige Sekunden später sind alle im Maisfeld verschwunden. Die herbeigeraste Streife findet nur ein paar blutige Papiertaschentücher.

Viele Flüchtlinge versuchen den Grenzübertritt illegal, weil sie nicht von der ungarischen Polizei registriert werden wollen. Sie wollen vermeiden, dass ihre Daten gespeichert werden. Für ein Asylgesuch bliebe sonst gemäss dem Dubliner Abkommen Ungarn zuständig, auch wenn sie weiterziehen. Deutschland hat nun entschieden, syrische Flüchtlinge nicht nach Ungarn oder Griechenland zurückzuschicken.

Nahe dem Bahndamm steht auf der serbischen Seite ein Beobachtungsturm aus jugoslawischer Zeit. Von der 30 Meter hohen Plattform überblickt man die Weite der pannonischen Ebene. Nach Norden erstrecken sich Mais- und Sonnenblumenfelder, nach Süden liegen hübsche Obstgärten und Gemüseplantagen, in denen Pflaumen, Äpfel, Kürbisse und Tomaten wachsen. Zwei Männer klettern vom Ausguck herunter und stossen zu ihrer Gruppe. Sie kommt aus Syrien.

Vor der Überfahrt aus der Türkei auf die griechische Insel Lesbos haben sich die Flüchtlinge zusammengeschlossen. 14 Männer, 5 Frauen und ein 8-jähriges Mädchen. Die 18-jährige Selma erzählt, wie sie vorgehen. «Wir haben Kundschafter, die mit GPS umgehen können, es gibt jene, die für unsere Sicherheit zuständig sind – und ich bin die Sprecherin.» Selma studierte Pharmazie in Damaskus und will ihr Studium in Deutschland fortsetzen.

Die Gruppe wirkt ausgeruht. Sie hat die zwei letzten Nächte in einem Belgrader Hotel verbracht, und heute soll der letzte, grosse Schritt erfolgen. Sie haben gehört, dass Deutschland in Ungarn registrierte Syrer nicht zurückschicke, aber sie trauen der Nachricht nicht. Die Kundschafter schwärmen aus, kommen aber bald wieder zurück. Der Drahtzaun ist hier überall dicht.

Feld zertrampelt, Apfel geklaut

Hundert Meter weiter arbeitet Gabor auf seinem Feld. Der Dreissigjährige ist, wie fast alle Bewohner von Horgos, Bauer und ungarischer Abstammung. An den Flüchtlingstrecks, die über sein Land ziehen, hat er keine Freude. «Sie zertrampeln die Felder, klauen meine Früchte und lassen Berge von Abfall liegen. Und die Polizei tut nichts», schimpft Gabor. Auch in der Café-Bar «Sicilia» ist man auf die Flüchtlinge nicht gut zu sprechen. «Sie brechen nachts in Gewächshäuser ein», sagt der Gast am Nebentisch. Und wenn nur jeder einen Apfel mitlaufen lasse, sei die halbe Ernte weg, bei diesen Zahlen. Der Taxifahrer, der die Bar betritt, wirkt dagegen sehr zufrieden. Das Transportgewerbe verdient gut an den Flüchtlingen. Den grossen Profit aber machen die Schlepper.

Drei Jahre Gefängnis drohen

Ungarn geht mit drakonischen Massnahmen gegen Schlepper vor. In Schnellverfahren werden dreijährige Gefängnisstrafen verhängt. Der Grenzzaun erhöht die Risiken und treibt die Preise nach oben. Einen Eindruck vom Schleppergewerbe erhält man an der waldgesäumten Grenzstrasse, die östlich und parallel der Autobahn Belgrad–Budapest verläuft. Hier stehen unter schattigen Bäumen schmucke, kleine Bauernhäuser mit Blumengärten. Es stehen an diesem warmen Nachmittag aber auch auffallend viele Kleinwagen am Strassenrand, immer im Abstand von ein paar hundert Metern.

In den Autos sitzen Frauen, die rauchen und telefonieren. Aber der erste Eindruck täuscht, es handelt sich nicht um Strassenstrich. Ein Anwohner, der 35-jährige Zoltan, der mit Frau und Tochter in einem der Häuschen lebt, klärt uns auf. Das Schleppergeschäft, das vor kurzem noch von Serben dominiert war, sei jetzt vorwiegend in den Händen von Roma aus der Region Miskolc. Da diese auch die Prostitution kontrollierten, würden die Frauen im Schleppergeschäft eingesetzt.

Wie um Zoltans Ausführungen zu belegen, rasen wenig später vier Autos vorbei. Die zwei Wagen an der Spitze sind von Frauen gesteuert, dann folgt ein grosser Wagen, voll besetzt mit Flüchtlingen, den Schluss macht noch ein Kleinwagen. Weshalb die Fahrt im Konvoi? Sollen die Fahrzeuge an der Spitze die Ordnungshüter aufhalten oder ablenken, wenn der Konvoi in eine Kontrolle gerät?

Den ganzen Tag über sind Hunderte von Leuten auf dem Bahndamm von Horgos in Richtung Röszke gewandert. Die meisten lagern schliesslich unweit der Ortschaft auf offenem Feld, wo die Polizei einen Sammelpunkt eingerichtet hat. Die Hitze ist schwül geworden gegen Abend. Man hat mobile Toiletten hingestellt, aber Wasser gibt es nirgends. Die Flüchtlinge sitzen auf dem Boden, überwacht von Polizisten in ihren Autos. Jetzt, wo viele beisammen sitzen, werden auch die Wohlstandsunterschiede zwischen den Flüchtlingen sichtbar. Neben Gruppen, die mit praktischen Rucksäcken und guten Schlafsäcken ausgerüstet sind, sitzen andere, verschmutzt und mit nichts als einer Plastictasche bei sich.

Busse fahren vor und bringen die Menschen ins Empfangslager Röszke, das hoffnungslos überfüllt ist. Wie lange die Registrierung dort dauert, ist unklar. Die Polizisten sagen, ein bis zwei Tage, von Flüchtlingen hört man, der Aufenthalt daure bis zu fünf Tage. Auch das ist ein Grund, weshalb physisch starke und wohlhabendere Flüchtlinge das Lager zu vermeiden suchen. Sie bezahlen stattdessen einen Schlepper, der sie über den Zaun bringt, oder sie verlassen den Bahndamm kurz nach dem Grenzübertritt und schlagen sich in die Felder, bevor sie den Sammelpunkt erreichen.

Aber die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ist gross – im ganzen Gebiet ist die Polizei stark präsent. Vom Bahndamm oben kann man beobachten, wie sich kleine Gruppen im Einzelsprung von Feld zu Feld vorarbeiten. Wenn die Polizei sie entdeckt, beginnt die Verfolgungsjagd. Der Eifer der Polizisten ist nicht sehr gross, aber manche Flüchtlinge werfen in Panik ihre Rucksäcke weg, um schneller zu sein.

Während der Zug der Menschen sich auf dem Bahndamm nach Norden bewegt, geht an dessen Fuss eine kleine Gruppe in die Gegenrichtung. Die Leute erwidern den Gruss auf Ungarisch. Es sind Roma aus der Umgebung. Sie sammeln ein, was Flüchtlinge liegen lassen oder verlieren. Wenn sie Glück haben, finden sie volle Rucksäcke mit guter Kleidung, Toilettenartikeln und Ladegeräten für Mobiltelefone. «Halt, halt, nicht fotografieren!», rufen sie.

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