26. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Es werden noch mehr Flüchtlinge vor dem Winter kommen“ · Kategorien: Europa, Hintergrund, Syrien, Türkei · Tags:

Quelle: Telepolis

Die Ursache der „Völkerwanderung“ sind keine Schlepper und kein „Asylmissbrauch“

von Florian Rötzer

Vor allem aus Syrien versuchen die Menschen über die Türkei und Griechenland durch Mazedonien, Serbien und Ungarn oder über das Mittelmeer nach Italien in die EU vor dem Winter zu gelangen. Seitdem die Türkei sich angeblich der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition im Prinzip angeschlossen hat, aber vornehmlich die Kurden bekämpft, um zu verhindern, dass sich ein durchgehend von diesen kontrollierter Korridor entlang der gesamten Grenze zieht, dürfte den letzten Syrern klar sein, dass sie zwischen den Konfliktparteien zerrieben werden.

Um die mögliche Bildung eines kurdischen Staats in Syrien an der eigenen Grenze zu verhindern, fordert die Türkei die Einrichtung einer Zone zwischen den von den Kurden kontrollierten Gebieten in Afrin und Jarabulus in der Nähe von Kobane. Das Gebiet sollen die Kämpfer der „gemäßigten Opposition“ kontrollieren, die es bislang praktisch nicht gibt. Hier soll mit den USA eine Flugverbotszone eingerichtet werden, wodurch auch die Angriffe auf dem Boden abgewehrt werden können. Verkauft wird dies als Strategie, dem Islamischen Staat den Weg von und in die Türkei zu verwehren.

Während die türkische Regierung immer mal wieder eine Einigung mit der US-Regierung verkündet, zögert diese, während sie aber auf Grund der Abmachung bereits militärische Stützpunkte in der Türkei nutzt, um Angriffe auf den Islamischen Staat zu fliegen. Während die USA bislang die kurdischen Kämpfer der YPG, die der PKK nahestehen, im Kampf gegen den IS unterstützt hat, will die Türkei diese aus eigenen geopolitischen Interessen heraus schwächen. Damit könnte der Widerstand gegen den Islamischen Staat geschwächt werden, schließlich sind die Kurden bislang die entscheidenden „Bodentruppen“ in Syrien und teilweise auch im Irak. Würden diese Gebiete auch noch vom IS oder den Assad-Truppen überrannt werden, wären die Nachbarländer und Europa noch mit größeren Flüchtlingsströmen konfrontiert.

Das zerfallene, zerrissene und großflächig zerstörte Land kann den Verbliebenen und Flüchtenden, die nicht einer Konfliktpartei nahestehen, keine Sicherheit, geschweige denn eine Zukunft bieten. Während einige europäische Länder damit konfrontiert sind, die Opfer des Konflikts aus humanitären Gründen aufzunehmen und gleichzeitig gegen die wachsende, von den Rechten getragene Abwehr der Flüchtlinge vorzugehen, halten sich die Mitverursacher der Krise, allen voran die USA, aber auch Großbritannien zurück, auch die osteuropäischen und baltischen Staaten, die schon gerne Solidarität etwa gegen Russland und wegen der auch von ihnen geforderten Sanktionen einfordern, machen sich einen schlanken Fuß.

Mit zur Panik soll der Bau des an sich leicht überwindbaren Grenzzauns beigetragen haben, den Ungarn an der Grenze zu Mazedonien errichtet. Aber dieser wird nicht viel nützen, es gibt andere Wege über Bulgarien und Rumänien oder über Albanien oder den Kosovo. Angesichts dessen, dass die Anti-IS-Koalition nun schon ein Jahr lang täglich mehrere Angriffe auf IS-Stellungen in Syrien und dem Irak fliegt und die Zerstörungen von zahlreichen Gebäuden, Stellungen, Panzern, Artillerie und anderer Ausrüstung auflistet sowie mehrere tausend IS-Kämpfer getötet haben will, wurde der IS nicht wesentlich geschwächt. Zurückgedrängt wurde er vor allem in den Gebieten, in denen die Kurden in Syrien und Irak gekämpft haben, ansonsten breitet sich der IS auch in Afghanistan, bei den Palästinensern, auf dem Sinai, in Libyen und anderen nordafrikanischen Ländern aus. Dazu kommt, dass die US-Regierung noch nicht einmal den Kongress hinter sich hat. Der verweigert seit einem Jahr eine Kriegsbewilligung und entzieht die militärische Operation daher der parlamentarischen Kontrolle.

Es wäre an der Zeit, dass die EU die an Inherent Resolve beteiligten Länder (Frankreich, Großbritannien, Dänemark und Holland) dazu drängt, eine andere Politik einzuschlagen, die nicht immer mehr Flüchtlinge produziert und nur weiter zur Erosion jeder Sicherheit für das zivile Leben beiträgt. Primär müssten die Nachbarländer, die die Flüchtlingsmassen zu verkraften haben, massiv unterstützt werden – die USA und die arabischen Staaten der Koalition, allen voran Saudi-Arabien, Bahrein und die Vereinigten Arabischen Emirate müssten sich hier deutlich mehr engagieren. Allein die USA geben nach Angaben des Pentagon täglich für die Luftangriffe fast 10 Millionen US-Dollar aus. Mit monatlich 300 Millionen könnte man den Flüchtlingen in der Region helfen. Aber wie könnte eine langfristige Strategie aussehen? Sie müsste wohl vom Zerfall des Irak und Syriens ausgehen. Es ist kaum vorstellbar, wie im Irak und in Syrien allgemein akzeptierte Zentralregierungen entstehen könnten. Die Kurden dürften einen wichtigen Stabilitätsfaktor darstellen. Im Nordirak haben sie schon lange einen Quasistaat, in Syrien wächst einer heran.

Eine Lösung herbeibomben kann man nicht, wie das das normale Vorgehen der USA zu sein scheint, aber Europa hätte vielleicht eine Chance, politisch einzuwirken. Dazu müssten allerdings alle Länder bereit sein, das Flüchtlingsproblem gemeinsam zu tragen – und zu lösen. Aber danach sieht es nicht aus, es überwiegen die kurzfristigen Egoismen und das konzeptionslose Durchwursteln, unter dem nicht nur die Menschen in den Kriegsgebieten, sondern auch hierzulande zu leiden haben, weil die Konflikte über die Flüchtlingspolitik an Schärfe zunehmen dürften. Und diejenigen, die meinen, hierzulande zu kurz zu kommen und sich retten zu können, wenn sie Flüchtlinge vertreiben, sollten erst einmal politisch werden und die Wirtschafts- und Sozialpolitik hier verändern, die in Europa und in Deutschland dazu beiträgt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht und der Sozialstaat zerbröselt wird.

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