22. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsdebatte: Was Deutschland jetzt tun sollte“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Die Bundesrepublik wird in den nächsten Jahren so viele Flüchtlinge aufnehmen wie nie. Doch die Regierung reagiert nur zögerlich auf die große Herausforderung. Acht Punkte, die sie jetzt angehen muss.

Von Anna Reimann

1. Ehrlich sein: Der Umgang mit Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder Armut fliehen, wird die Herausforderung – nicht für die nächsten paar Jahre, sondern wohl für die nächsten Jahrzehnte sein, wahrscheinlich sogar noch für unsere Enkel und Urenkel. Diese Einsicht setzt sich in der Bundesregierung erst langsam durch, jetzt, wo das neuen Milliardenpaket für Griechenland abgehakt ist.

Längst hat eine Massenwanderung eingesetzt. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Flüchtlingsströme werden durch den zu erwartenden Bevölkerungszuwachs im subsaharischen Afrika weiter an Dynamik gewinnen.

Das reiche Deutschland kann, wenn es will, natürlich jenen Hunderttausenden Schutz bieten, die hierher vor Verfolgung fliehen. Aber: Einfach wird das nicht. Es kommen viele traumatisierte Menschen aus dem Krieg, sie sind mit Gewalt aufgewachsen. Ihre Integration wird eine gigantische Herausforderung. Diese unbequemen Wahrheiten müssen ausgesprochen werden. Auch von der Politik.

2. Realistische Prognosen stellen: Gerade hat die Bundesregierung ihre Prognose zu den Flüchtlingszahlen für dieses Jahr deutlich heraufgesetzt – bis zu 800.000 – also rund viermal so viele Menschen wie 2014 – werden nach Einschätzung der Behörden in diesem Jahr nach Deutschland fliehen. Dabei war schon lange klar, dass die alten Zahlen nicht zu halten sein werden.

Voraussichtlich wird rund die Hälfte dieser Flüchtlinge erst einmal bleiben dürfen – wahrscheinlich für viele Jahre. Das muss die Politik den Menschen klar sagen. Es ist nicht absehbar, dass sich die Situation zum Beispiel in Syrien, im Irak oder in Eritrea schnell ändert.

3. Die Debatte versachlichen: Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling. Deutschland muss sich offensiv dazu bekennen, dass es denen Schutz gewährt, deren Leben in Gefahr ist und die Verfolgung ausgesetzt sind. Genauso deutlich muss die Regierung erklären, dass Menschen, die aus rein wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen, hier nicht bleiben können – zumindest nicht als Asylberechtigte.

Populistische Parolen über den angeblichen Asylmissbrauch, wie sie die CSU ausgibt, schüren nur Misstrauen und Hass – und zeichnen ein falsches Bild: Das Recht, einen Asylantrag zu stellen, hat jeder Migrant. Das ist noch lange kein Betrug, selbst wenn der Antrag später abgelehnt wird.

Wenn die Union beklagt, Flüchtlinge aus dem Balkan würden monatelang Taschengeld kassieren, muss sie dafür sorgen, dass Asylanträge schneller bearbeitet und Abschiebungen zügiger vollzogen werden. Gegen Ressentiments hilft auch, dass die Menschen das Gefühl haben, es ginge einigermaßen gerecht zu.

4. Entschiedener gegen Rassismus vorgehen: Es muss strafrechtlich konsequenter und auch verbal härter gegen rechtsextreme Gewalttäter vorgegangen werden: Die zunehmende Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte nannte Merkel zuletzt „unseres Landes nicht würdig“.

In einer Zeit, in der fast täglich irgendwo in Deutschland Asylbewerberheime angegriffen werden, geht das auch schärfer. Man mag sich nicht vorstellen, wie die Politik reagieren würde, ginge solche Gewalt von Islamisten aus.

5. Gestalten statt verwalten: Die Politik redet viel darüber, wie die Menschen abgeschreckt werden können. Aber Hunderttausende Flüchtlinge sind schon hier. Für sie muss es vernünftige Unterkünfte und Versorgung geben. Und schnelle Entscheidungen – das ist für alle Seiten zentral: Für die, die bleiben dürfen und für die, deren Gesuche abgelehnt werden. Sie sollen sich keine falsche Hoffnung machen. Aber auch die Menschen, die sich in den Städten und Gemeinden um die Flüchtlinge kümmern, brauchen Klarheit, wer bleibt.

Es muss dafür mehr als tausend neue Stellen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) geben. Um die Verfahren zu beschleunigen, will die Regierung nun vier regionale „Entscheidungszentren“ schaffen. Ein erster Schritt – aber es wurde schon viel Zeit verloren. Völlig unklar ist, wie die Erstaufnahme-Plätze von derzeit 45.000 binnen weniger Monate auf bis zu 125.000 steigen sollen. Dazu müssen Vorschriften und Standards gelockert werden.

Die Politik darf sich nicht weiter auf die Tausenden Ehrenamtlichen verlassen, die vor den Aufnahmeeinrichtungen Essen und Wasser verteilen. Wie Flüchtlinge sich in Deutschland einfinden, hängt auch mit ihren Startbedingungen zusammen. Dafür ist mehr Geld nötig.

6. Zukunftspläne für jeden Flüchtling entwickeln: Flüchtlinge müssen von Beginn ihrer Ankunft über die ersten Monate oder sogar Jahre von den deutschen Behörden regelmäßig begleitet und unterstützt werden. Sie brauchen Förderung und Forderung: Deutschkurse müssen bei allen, die voraussichtlich bleiben, von Anfang an verpflichtend werden, dafür sind ausreichend Kursplätze nötig.

Der Zugang zum Arbeitsmarkt muss erleichtert, die Zusammenarbeit zwischen Bamf und Arbeitsagentur intensiviert werden. Schon bei der Registrierung als Asylbewerber sollte für jeden Flüchtling genau geprüft werden, wie und ob er arbeiten kann.

Flüchtlinge sollten nicht erst nach drei Monaten Aufenthalt Arbeit suchen dürfen – denn ein Job ist der schnellste Weg zur Integration. Menschen aus den Balkan-Ländern haben meist kein Recht auf Asyl, aber sie könnten in Mangelberufen, wie zum Beispiel im Pflegebereich, Ausbildungen absolvieren.

7. Mehr Geld und Kraft in Entwicklungszusammenarbeit stecken: Deutschland investiert hier weniger als die in den Uno-Milleniumszielen vereinbarten 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Aber immer mehr Flüchtlinge kommen aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, sie sehen keine wirtschaftliche Perspektive. In Afrika könnte sich Schätzungen zufolge die Zahl der Menschen von heute bis zum Jahr 2100 vervierfachen.

Natürlich kann man sich ärgern, dass afrikanische Staatschefs kaum Interesse zeigen, wenn ihre Landsleute massenhaft ihre Heimat verlassen und im Mittelmeer ertrinken. Aber um gegenzusteuern, sind wirksamere und mehr Programme nötig, die die Zivilgesellschaft stärken. Auch braucht es eine ehrliche Debatte darüber, wie die Industrieländer die afrikanischen Staaten gerechter am Handel teilnehmen lassen können.

8. Die EU-Politik bündeln: Die Bundesregierung muss sich auf europäischer Ebene dafür stark machen, dass Flüchtlinge schon in oder nahe ihrer Herkunftsländer Anträge auf Asyl stellen können und dann Visa bekommen, damit sie sich nicht in die Hände von Schleppern begeben müssen. Dafür muss eine zentrale Stelle in der EU zuständig sein, in der die gemeinsame Flüchtlingspolitik gebündelt wird.

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