19. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingschaos in Mazedonien: ‚Das ist lebensgefährlich für die Kinder'“ · Kategorien: Balkanroute, Mazedonien · Tags: ,

Quelle: Spiegel Online

Aus Gevgelija berichtet Raniah Salloum

Gevgelija in Mazedonien ist ein Nadelöhr: Flüchtlinge auf der Balkan-Route müssen hier einen Zug ergattern. Wer nicht mitfährt, muss ausharren – in glühender Hitze, von der Polizei schikaniert.

Es ist eine kleine Völkerwanderung, die sich am Montag auf den Weg nach Mazedonien macht. Rund 200 Menschen sind unterwegs. Sie kommen aus Aleppo, Homs, Kobane, Tartus, Hama, Damaskus – ganz Syrien scheint auf den Beinen. Die Gruppe wandert an den Bahnschienen entlang, die aus dem griechischen Dorf Idomeni ins mazedonische Gevgelija führen.

„Alles Gute, Kobane!“, wünscht eine Familie aus Damaskus, während sie an einer syrisch-kurdischen Gruppe vorbeizieht. „Alles Gute, Damaskus!“, ruft diese zurück. Doch weit kommen sie nicht.

Entlang der Schienen, auf dem staubigen, zertrampelten Boden stehen fünf mazedonische Polizisten. Sie befehlen den Menschen zu warten. Warum oder wie lange, sagen sie nicht. Die Syrer setzen ihre Rucksäcke ab, Frauen und Kinder suchen einen Platz im Schatten. In den nächsten fünf Stunden wird die Gruppe der Wartenden auf rund 400 Menschen anwachsen.

Nicht alle sind Syrer, auch einige Iraker haben es bis hierher geschafft. Manche von ihnen geben sich mittlerweile als Syrer aus. Sie wissen, dass sie so ein schnelleres, aussichtsreicheres Asylverfahren bekommen. Ein Syrer zeigt auf acht junge Männer und Frauen aus Afrika. „Alle sind jetzt aus Syrien, auch die da“, sagt er und grinst.

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Eins haben alle hier gemeinsam: Sie sind vor wenigen Tagen über eine der griechischen Inseln nahe der türkischen Küste – Kos, Lesbos, Chios – nach Europa gekommen. Jeden Tag treffen zwischen 1000 und 1500 Menschen dort ein, so viele wie noch nie. Die meisten von ihnen wollen so schnell wie möglich weiter nach Westeuropa. Der große Ansturm sorgt dafür, dass es sich nun auf der Hauptroute über den Balkan gefährlich staut.

Am Rande des Platzes haben zwei griechische Verkaufsstände aufgemacht und bringen Fast Food, Eis und Wasser unter die Flüchtlinge. Loswerden will die ungebetenen Gäste eigentlich jeder hier in der Grenzregion, aber eben vorher noch ein wenig schnelles Geld machen.

Nach vier Stunden Wartezeit erklärt ein mazedonischer Polizist auf Englisch die Lage: „Es gibt da vorne einen Menschenstau. Es ist so voll. Das ist lebensgefährlich für die Frauen und Kinder.“ Die mazedonische Grenzstadt Gevgelija ist ein Nadelöhr. Täglich fahren von dort drei Züge nach Norden an die Grenze mit Serbien. Tausende hoffen jedes Mal am Bahnhof auf einen Platz.

Die Flüchtlinge sollten eigentlich alle in Griechenland bleiben, dem ersten EU-Land, in dem sie angekommen sind. So will es das europäische Asyl-Abkommen. Doch nach einem Gerichtsurteil darf sie kein EU-Staat dorthin zurückschicken. Zu hart sind die Zustände für Flüchtlinge in dem von der Finanzkrise gebeutelten Land.

Mazedonien und Serbien geben ihnen Papiere für 72 Stunden. Innerhalb dieses Zeitraums sollen sie sich registrieren und Asyl beantragen. Drei Tage reichen allerdings auch zum Transit – und so ziehen die meisten weiter.

Fünf Stunden vergehen in glühender Hitze. Eine griechische Bäuerin kommt vorbei und verkauft Äpfel, 1,50 Euro das Kilo. „Vitamine, Vitamine“ ruft sie auf Griechisch. „Vitamine kosten Geld“, sagt Firas aus Damaskus und lacht. Er ist frisch rasiert, hat die letzte Nacht mit seiner Familie im Hotel verbracht. Sie stammen aus einem Stadtteil von Damaskus, in dem die Reichen und die Diplomaten leben. Die Gruppe bleibt für sich.

In seinem sauberen hellblauen Hemd lehnt sich Firas an einen Baum und schaut auf die Wartenden: „Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich einmal mit solchen Leuten unterwegs bin.“ Der Großteil der Syrer hier kommt aus einfacheren Verhältnissen als er und hat sich das Geld für die Reise mühsam in der Familie zusammengekratzt.

„Sprechen sie Französisch in Holland?“

Es überrascht, wie wenig die Wartenden über ihre Reiseziele wissen. Die meisten wollen nach Deutschland oder Schweden. Da haben sie gehört, seien die Bedingungen für Flüchtlinge besonders gut. Tatsächlich bekommt in Schweden jeder Syrer eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis – noch. Über eine Änderung wird nun angesichts der Rekordasylanfragen nachgedacht. Bei Deutschland denken die meisten an die weltbekannten deutschen Unternehmen. Sie glauben, dort schnell einen Job finden zu können. Keiner von ihnen erwartet, dass der Job eines Automechanikers in Stuttgart anders aussehen könnte als in Aleppo.

Also überschütten die Flüchtlinge europäische Journalisten mit ihren Fragen: „Was ist das beste Land?“, „Bekomme ich in Deutschland schnell die Staatsbürgerschaft? Kann ich schnell meine Familie nachholen?“, „Ist Deutsch schwer?“, „Ist Österreich nicht ein Teil von Deutschland?“, „Ich habe gehört, es ist kalt in Schweden, stimmt das?“, „Ich will nach Holland. Da sprechen sie Französisch, oder?“.

Zwei schwangere Frauen wollen mit ihren kleinen Kindern in den Schatten, sie gehen auf eine Baumreihe zu. Doch ein mazedonischer Polizist will sie dort nicht haben. Mit seinem Stock schlägt er die Frauen. Die Flüchtlinge sind empört, trotzdem eskaliert die Situation nicht. Keiner geht dazwischen. Die Flüchtlinge setzen sich wieder. „So ein Hund!“, zischen sie sich untereinander zu. „Das sind Menschenrechte?“, fragt ein anderer.

„Lieber sterbe ich in Bagdad“

Es ist ein langer, anstrengender, öder Tag. Die meisten hier sind seit Tagen unterwegs. Ohne Pause, mit wenig Essen, kaum Schlaf. Von der mazedonischen Grenze trottet Haider Mohammed, 42, zurück. Der Iraker hat aufgegeben. „Ich war einen Tag in Mazedonien. Ich habe die Zugstation gesehen“, sagt er. „Lieber sterbe ich in Bagdad als noch einen Tag länger in Mazedonien zu bleiben.“

Tatsächlich ist die Lage in Gevgelija dramatisch: Flüchtlinge schlafen auf Pappkartons auf der Straße. Tausende warten im Schatten an der Zugstation, außer den Syrern auch viele Pakistaner und Afghanen. Diese Woche wurden die Preise für die Tickets auf Anordnung des Stationsleiters erhöht, sagt die Ticketverkäuferin. Zehn Euro kostet nun die Fahrt quer durch Mazedonien bis an die serbische Grenze. Unbegrenzt viele werden davon verkauft. Jeder muss selbst schauen, wie er einen Platz ergattert.

Der 17-Uhr-Zug fährt ein, Gedränge bricht los. Es gibt keine Vorkehrungen, um den Ansturm zu steuern. Keine Warteschlangen, keine verschiedenen Ticketkategorien, keine Bereiche für Frauen und Kinder. Ein einziges Schieben, Ziehen und Drängen. Vor allem junge Männer schaffen es in den Zug.

Schnell sind die Waggons voll. Mazedonische Polizisten prügeln mit Schlagstöcken auf die Wartenden ein, um sie vom Bahnsteig zu drängen. Eine Syrerin schreit verzweifelt. Sie hat in der Menge ihr Kind verloren. Kurz später findet sie die fünfjährige Tochter und hält sie an sich gedrückt. Der Mutter laufen die Tränen über die Wangen. Trotzdem wird sie morgen wiederkommen.

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