Quelle: Telepolis
von Thomas Pany
Amnesty Österreich berichtet von unhaltbaren Zuständen im Flüchtlingslager und kritisiert Nichtwollen und Desinteresse der verantwortlichen Politiker
Ende Juli erteilte Amnesty International dem österreichischen Zweig der Menschenrechtsorganisation den Auftrag, sich die Zustände im Erstaufnahmelager Traiskirchen genauer anzuschauen. Dazu holte man sich die Erlaubnis des Innenministeriums in Wien ein.
Die Zustände im Lager wurden seit Wochen kritisiert. Anfang Juli bekamen Journalisten die Erlaubnis, das Flüchtlingslager zu besuchen. Zum ersten Mal seit Jahren, wie in einem Bericht notiert wurde. Der Vertreter des Innenministeriums, Gernot Maier, Leiter der Abteilung für Grundversorgung im Innenministerium, versorgte sie demnach mit folgenden harten Fakten:
3.200 Menschen im Lager, 1.200 ohne Bett, 1.840 in festen Unterkünften untergebracht. 1.500 davon sind minderjährig, davon 900 bereits zum Verfahren zugelassen. Die Flüchtlingszahlen sind vor rund zwei Monaten sprunghaft angestiegen. 350 neue Asylanträge pro Tag gibt es in ganz Österreich. Erwartete Flüchtlinge nächstes Jahr: 70.000 aus Syrien, Irak, Somalia und Afghanistan. Wegen des Ansturms wurden 40 zusätzliche Beamte in Traiskirchen eingesetzt, 42 neue Mitarbeiter hat die Sicherheitsfirma ORS angestellt – noch immer zu wenig. Entlastung soll es bald geben: Die Slowakei will 500 Menschen aus Österreich aufnehmen. Dazu sollen weitere Betten in den Ländern frei werden, im Juli insgesamt 2.187.
Zwar sahen die Journalisten freie Räume und Betten, der Vertreter des Innenministeriums erklärte ihnen aber, dass es feuerpolizeilichen Vorschriften gebe, die einer Nutzung widersprechen. Er beteuert gegenüber den Journalisten:
Sie können uns glauben, wir tun hier unser Möglichstes, ich arbeite 120 Stunden die Woche. Wie auch meine Kollegen in den Bundesländern. Wir sind in jeder Hinsicht momentan am Limit.
Am 24.Juli beklagen Mitarbeiter von Caritas Österreich eine „katastrophale Lage“: „Es geht nicht um die Frage, wer Asyl bekommt, dafür gibt’s Gesetze. Es geht darum, dass mitten unter uns tausende Menschen in ein zu kleines Lager gepfercht werden. In einem der reichsten Länder der Welt.“
Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, schlägt bei seinen Feststellungen in eine ähnliche Kerbe – Österreich hätte die Mittel dazu, mehr zu tun für die Verbesserung der Verhältnisse im Lager:
Österreich ist weder in einer finanziellen Misere noch in einer ressourcenknappen Situation: Das Versagen in der Flüchtlingsversorgung wäre leicht vermeidbar, die Ursachen sind vor allem administrative Fehler. Ein System, das die Menschenrechte von Asylwerbern schützt und respektiert, ließe sich ohne wesentlichen Kostenaufwand verwirklichen.
Das Versagen wird im Bericht der Amnesty-Delegation über den Besuch in Traiskirchen am 6. August anhand folgender Punkte konkretisiert: Überbelegung – 4.500 Personen in einer Betreuungsstelle, deren Kapazität auf 1.800 ausgelegt ist.
Dazu kommt, dass 1.500 Menschen „im Freien schlafen“ – „obdachlose Asylbewerber“ – und “ jene, die außerhalb des Geländes übernachten. Ein unhaltbarer Zustand“. Der Zugang zu adäquaten sanitären Einrichtungen sei limitiert, die Lebensmittelversorgung problematisch wie auch die Gesundheitsversorgung. Kinder würden getrennt von den Eltern schlafen; Asylbewerber, darunter auch Schwangere und Frauen mit Babys, müssten „stundenlang bei sengender Hitze um ihre Identitätskarten anstellen“, wo ein einfaches Wartenummernsystem schon eine deutliche Verbesserung wäre.
Den Flüchtlingskindern, die in vielen Fällen alleine seien, würde keine angemessene Betreuung zukommen:
Die Lage der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen in Traiskirchen ist besonders besorgniserregend. Sie sind zum Großteil sich selbst überlassen und viele von ihnen müssen im Freien nächtigen. Viele erzählten Amnesty International, dass sie über keine Information verfügen würden, an wen sie sich wenden können oder wer ihre Ansprechperson ist. Jene mit denen Amnesty International sprach, hatten von Personen der Jugendwohlfahrt noch nie gehört. Nach Angaben der Kinder und Jugendlichen gegenüber Amnesty (…) wissen (sie) nicht, wie es weitergeht. Vor allem Letzteres belastet sehr viele der Jugendlichen.
Festgestellt wurde auch, dass es bei den Duschen, die wie die Toiletten sowohl von Männern wie Frauen genutzt werden, keine Vorhänge gebe, weswegen Frauen oftmals auf Duschen verzichten. Für den Amnesty-Generalsekretär Heinz Patzelt summieren sich auch „Kleinigkeiten“ wie die letztgenannten Bedingungen in den Duschen auf einen unterirdischen Menschenrechtszustand im Lager:
Es kommt einem ja fast lächerlich vor, wenn ich Dinge wie einen Duschvorhang oder eine Wasserflasche in eine menschenrechtliche Kritik hineinschreiben muss. Aber die Summe dieser Kleinigkeiten senkt den Menschenrechtsstandard unter Null. Für keine Frau, für keinen Mann ist es angenehm, sich vor anderen Menschen nackt ausziehen zu müssen. In unserer Kultur wird man die Zähne zusammenbeißen und trotzdem Duschen gehen, wenn man eine Woche lang gestunken hat. Für Menschen aus Afrika ist das undenkbar. Der stirbt lieber, bevor er das macht. Deswegen ist das so dramatisch.
Patzelt zieht den Schluss, dass die Situation genau so gewollt wird. Von der Politik herbeigeführt, ihr würde der Wille dazu fehlen, daran etwas zu ändern, man bleibe aus Desinteresse untätig.
Ich unterstelle nicht einmal Bösartigkeit, denn Bösartigkeit verlangt Nachdenken. Ich vermute Desinteresse, völlige Gedankenlosigkeit, Wurschtigkeit. Nach dem Motto: „Wir haben einen Job zu machen, Menschenwürde steht nicht in unserem Leitbild“
Hochwasserkatastrophen würden in Tagen gelöst, hier gehe es ums „Nicht-Wollen“. Österreich verletze damit fast alle menschenrechtlichen Konventionen, die ihm einfallen, so Patzelt.
Das Innenministerium nehme den Bericht ernst, heißt es. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) erklärte dazu, dass man jetzt keine Polarisierungen und keinen Wettbewerb in der Beschreibung von Missständen brauche.
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siehe auch: Spiegel Online
Amnesty prangert Zustände im Flüchtlingslager Traiskirchen an
Das Lager ist überfüllt, die Versorgung katastrophal: Im österreichischen Flüchtlingscamp Traiskirchen herrschen nach Angaben von Amnesty International chaotische Zustände. Das Land wurde aufgefordert, die Lage umgehend zu verbessern. […]
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siehe auch: der Standard
In Traiskirchen kippt das politische System
Kommentar Hans Rauscher
Der Bericht von Amnesty zeigt das monumentale Staatsversagen auf
Wer die Berichte über Traiskirchen in den letzten Wochen verfolgt hat, konnte über das Urteil von Amnesty International (AI) nicht erstaunt sein: Es ist zusammengefasst genauso arg, wie man es stückweise mitgekriegt hat – und noch ärger. Es ist ein monumentales Staatsversagen.
AI-Generalsekretär Heinz Patzelt sagt, er habe „so etwas in Österreich nicht für möglich gehalten“. Dieses „so etwas“ sieht so aus:
Der Staat Österreich kann tausenden Kriegsflüchtlingen kein Dach über dem Kopf beschaffen. Er steckt Neugeborene bei Sonnenglut in Autobusse.
Der Staat Österreich kann diesen Menschen auch nicht ausreichend Essen und Wasser beschaffen. Letzteres, weil keiner auf die Idee gekommen ist, den Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zu erklären, dass man im Unterschied zu ihrer Heimat hierzulande das Wasser aus der Leitung trinken kann.
Der Staat Österreich bringt keine getrennten Duschen für Frauen und Männer aus überwiegend muslimischen Ländern zusammen. Patzelt: „Für 20 Meter Plane ist kein Geld da.“
Der Staat Österreich schafft es nicht, unbegleitete Minderjährige und Kinder nicht sich selbst zu überlassen.
Der Staat Österreich schafft es auch nicht, die Häusl seiner größten Erstaufnahme-Einrichtung sauber zu halten und auch sonst für Hygiene zu sorgen. Es gibt auch viel zu wenige Ärzte und Psychologen.
Der Staat Österreich gestaltet die bürokratischen Formalitäten (Registrierung) derart, dass Menschen stunden- und tagelang in der prallen Sonne Schlange stehen müssen. Die verwaltungstechnische Errungenschaft früherer Jahrhunderte, die Zählkarte, ist offensichtlich in Vergessenheit geraten. Vor hundert Jahren ließ Karl Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ das „österreichische Antlitz“ hinter dem Schalter erscheinen und „mit teuflischem Behagen“ verkünden: „Wird kane Koaten ausgeben! Wird kane Koaten ausgeben!“
Ist das bloß unfassbare Inkompetenz in stufenförmiger Anordnung von der Bundesregierung herunter bis zum letzten überforderten Beamten? Oder ist da Böswilligkeit, Unwille, vielleicht sogar eine, wenn auch hirnrissige, „Abschreckungsstrategie“?
Wahrscheinlich beides. Und politische Furcht vor den Ländern und den Bürgermeistern – und da wieder die Furcht vor den Rechtspopulisten.
Das ist ein Rezept für den politischen Untergang. Den ärgsten Fremdenhassern und Flüchtlingsfürchtern wird man es nie recht machen können. Sie sind aber eine, wenn auch nicht gar so kleine, Minderheit. Die anderen, die mit einer Grundierung von Menschlichkeit, die aber gewisse Sorgen haben, doch die zu gewinnen wären, die teilweise auch jetzt schon aus privater Initiative helfen – die kann man nur politisch überzeugen, indem man rasch, entschlossen, unbürokratisch handelt. Es geht, liebe Bundesregierung, es geht. Das Problem ist in den Griff zu bekommen. Vor über 20 Jahren mit den Bosniern ging es auch.
Der Staat Österreich wird schon seit Jahren von Entscheidungsunlust und populistischem Rücksichtnehmen auf die Rücksichtslosen behindert. Diese Flüchtlingsmalaise wird, wenn weiter so dilettiert wird, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit der Punkt sein, wo die Stimmung im ganzen Land kippt. Wo die Leute den traditionellen Parteien nichts mehr zutrauen werden und sich endgültig den Rechtspopulisten zuwenden. Dann wird dieser Staat nicht mehr wiederzuerkennen sein.