13. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Den europäischen Traum in Sichtweite“ · Kategorien: Griechenland, Türkei · Tags:

Quelle: NZZ Webpaper

An der türkischen Küste bereiten sich Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Griechenland vor

In der Türkei und in Griechenland reisst der Zustrom von Kriegsflüchtlingen und andern Migranten nicht ab. Die beiden Länder sind von der Aufgabe zunehmend überfordert.

Marco Kauffmann Bossart, Izmir

Die wuchtigen Bäume, die den mehrspurigen Sair-Esref-Boulevard mittig teilen, spenden begehrten Schatten. Darunter sitzen Hunderte von Frauen, Männern, Kindern und Teenagern, neben sich in Taschen und Stoffbündel verpackte Habseligkeiten. Das gepflegte Gras in der türkischen Hafenstadt Izmir ist ihr temporäres Zuhause. Einige schlafen auf Karton, ein Tuch über die Augen gelegt. Sie verändern ihre Position lediglich mit dem Sonnenstand und folgen dem Schatten. Das Thermometer steigt schon am Vormittag auf über 35 Grad. Kleinkinder spielen mit der kärglichen Erde, aus der die Bäume wachsen.

Eine Armada von Bötchen

An der türkischen Ägäisküste sammeln sich Tausende von Flüchtlingen und Migranten, um ihre Weiterreise in die Europäische Union zu organisieren, die meisten stammen aus Syrien, andere aus Afghanistan, Pakistan und Iran. Manche Syrer kehrten ihrer vom Bürgerkrieg zerstörten Heimat den Rücken, um der Zwangsrekrutierung durch das Militär zu entgehen. Sie wollen die nächste Etappe ihrer Flucht ohne Schlepper bewältigen.

Die griechischen Inseln Kos, Samos, Lesbos oder Chios befinden sich in Sichtweite des türkischen Festlands. Während sich die Touristen tagsüber am azurblauen Mittelmeer vergnügen oder Ausflüge auf die benachbarten Inseln unternehmen, bereiten sich die in der Türkei gestrandeten Flüchtlinge auf eine nächtliche Überfahrt in die Europäische Union vor. Den Badeort Bodrum, wo sich die türkische Geldelite bräunt, und die Insel Kos trennen bloss 20 Kilometer. Nach Berichten von Augenzeugen sticht Nacht für Nacht eine Armada von Bötchen in See, immer wieder ereignen sich tödliche Unfälle.

Chaos auf Kos

Die türkische Küstenwache sieht dem Treiben nicht tatenlos zu. Laut dem Gouverneur der Provinz Izmir wurden allein in den letzten vier Julitagen 2727 Personen festgenommen, die illegal nach Griechenland übersetzen wollten. Auf der griechischen Seite hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre Überwachungsmissionen ebenfalls verstärkt. Doch wer beim ersten oder zweiten Versuch scheitert, ist vielleicht beim dritten Mal erfolgreich – Beamte sprechen von einer Sisyphusarbeit.

In Griechenland, das gerade von der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg durchgeschüttelt wird, ist die Bürokratie heillos überfordert. Auf der Insel Kos mit ihren 33000 Einwohnern sitzen rund 7000 Flüchtlinge fest, weil es mit der Registrierung nicht vorangeht. Die auf Kos tätige Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) wirft den griechischen Behörden vor, sie habe 1000 Schutzsuchende in der Nacht auf Mittwoch in einem Stadion ohne ausreichenden Zugang zu sanitarischen Einrichtungen und ohne Lebensmittelversorgung festgehalten. Am Dienstag war es zu Zusammenstössen zwischen der Polizei und Flüchtlingen gekommen. Humanitäre Organisationen bezichtigen die Lokalverwaltung, sie verweigere sich bewusst einer Verbesserung der Aufnahmebedingungen, um Flüchtlinge abzuschrecken.

Zwischen Januar und Juli 2015 haben laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) rund 124 000 Flüchtlinge und Migranten Griechenland mit dem Schiff erreicht; allein im Juli waren es 50 000. Gegenüber derselben Periode des Vorjahrs entspricht dies einer Zunahme von 750 Prozent. Ein hoher UNHCR-Beamter verurteilte die Betreuungssituation in Griechenland unlängst als beschämend für die EU. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras rief derweil Brüssel zum Handeln auf. Athen stehen Gelder aus dem sogenannten Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds zu. Doch verzögerte sich die Auszahlung wegen unerfüllter Auflagen.

Unsicherer Status

Die Türkei hat seit Beginn des Aufstands gegen das syrische Regime vor vier Jahren rund 1,8 Millionen Menschen aus dem Nachbarland aufgenommen. Zuerst rechnete die Regierung in Ankara noch damit, dass der Sturz des syrischen Despoten eine Frage von Monaten sei und man daher nur vorübergehend Gastrecht gewähren müsse. Doch ist ein Ende der Feindseligkeiten nicht abzusehen, und der Flüchtlingsstrom hält an. Die türkische Führung beabsichtigt jetzt, auf syrischem Boden einen Korridor einzurichten, wo die Vertriebenen untergebracht würden. Nach den Vorstellungen Ankaras sollen gemässigte Rebellen diese Zone vor Angriffen der Terrormiliz Islamischer Staat schützen.
Für die Syrer, die es bis nach Izmir geschafft haben, sind dies keine erstrebenswerten Perspektiven. Den Traum von einem sicheren Leben in Europa lassen sie sich nicht nehmen.

seeweg

 

 

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