11. August 2015 · Kommentare deaktiviert für Fluchthelferin Meron Estefanos: Stockholm – Mittelmeer · Kategorien: Ägypten, Alarm Phone, Eritrea, Italien, Libyen · Tags: ,

Quelle: Frankfurter Rundschau

Flucht aus Eritrea – Die Retterin der Flüchtlinge

Von Iris Mostegel

Wenn Flüchtlinge aus Eritrea im Mittelmeer kentern, haben sie oft nur noch eine Hoffnung – sie wählen die Telefonnummer von Meron Estefanos in Stockholm. Ein Besuch bei einer Frau, die Tausende rettet.

Es war an einem Tag im Jahr 2010, als die Frau mit den dunklen Augen und den roten Fingernägeln zum ersten Mal einen dieser Anrufe erhielt. Sie stand gerade in ihrer Küche in Stockholm und ihr weißes Samsung-Handy läutete. 00888. Mit diesen fünf Zahlen begann die unbekannte Nummer. Als die Frau abhob, peitschten ihr gellende Schreie entgegen. Es waren Schreie von Kindern, von Frauen und Schreie von Männern. Es waren 425 Eritreer und jeder schrie um sein Leben. Sie trieben am Mittelmeer, das Schiff war leck und langsam kroch das Wasser die Wände hoch. Einer der Passagiere hatte auf einem Papier die Telefonnummer von Meron Estefanos bei sich gehabt und die 13 Ziffern in das Satellitenhandy eingetippt, jenes Handy, das Schleuser den Flüchtlingen üblicherweise für Notfälle mitgeben. Und genau das war der Moment, in dem das Mobiltelefon der damals 35-Jährigen läutete. Ein Albtraum, erzählt sie, sei das Gespräch gewesen.

„Diese Panik, die Menschen, die in den Hörer schrien: Wir sterben! Unser Leben ist in deiner Hand, tu was!“ Jetzt sitzt Meron Estefanos auf einem Plastikstuhl in ihrer schmucklosen Küche, dort, wo sie vor fünf Jahren den Anruf erhalten hatte. „Damals war ich komplett überfordert. Zuerst habe ich die italienischen Behörden angerufen. Die sagten mir: Rufen Sie Malta an! Ich rief Malta an. Die sagten mir: Rufen Sie Italien an! Das ging ewig hin und her.“ Sieben Stunden vergingen, erzählt sie, bis die 425 Menschen wussten, dass sie überleben würden; es waren die Boote der italienischen Küstenwache, die sie retteten. Für ihre Landsleute war es das glückliche Ende einer langen Flucht, doch für Meron Estefanos war es erst der Beginn ihrer Bekanntschaft mit der Zahlenfolge 00888, jenen fünf unheilverkündenden Anfangsziffern, die auf dem Handy-Display erscheinen, wenn ein Anruf von einem Satellitentelefon aus dem Mittelmeer eingeht. Denn nachdem der Vorfall von 2010 in der eritreischen Community die Runde gemacht hatte, erhielt sie immer mehr Anrufe von Menschen in Seenot. Und mittlerweile stellen viele, die beschließen aus Eritrea zu fliehen, vor allem eines sicher – auf einem Stück Papier die 13-stellige Telefonnummer von Meron Estefanos bei sich zu haben.

Die Hand mit den roten Fingernägeln greift nach der Kaffeetasse. Die 40-jährige Mutter von zwei Kindern wirkt erschöpft. Sie selbst hat Eritrea schon als Kind verlassen, nicht als Flüchtling, sondern in einer bequemen Flugreise nach Stockholm, dort, wo ihr Vater Arbeit gefunden hatte und mit seiner Familie ein neues Leben beginnen wollte. Das war vor 28 Jahren, seither lebt Meron Estefanos in Schweden. Doch Folter, Unterdrückung und Armut in ihrer alten Heimat erzeugen Flüchtlinge im Akkord und das schrille Echo davon bekommt sie täglich über ihr Handy im fernen Stockholm zu hören. Allein von Flüchtlingen auf Booten im Mittelmeer, erzählt sie, habe sie dieses Jahr innerhalb von nur drei Monaten 50 Anrufe erhalten. Dass sie damit mehr als 16 000 Eritreern in Seenot das Leben gerettet, erwähnt sie nicht; für Berechnungen dieser Art fehle ihr Interesse und Zeit.

„Meron, bist du es? Hilf uns, wir treiben am Mittelmeer, der Bootsmotor ist eingegangen!“
„Geh sofort zum Kompass und gib mir die Koordinaten durch!“
„Ich kann den Kompass nicht lesen!“
„Beschreib mir, welche Zahlen du darauf siehst!“

Meron Estefanos drückt die Stopptaste. Es ist nur einer von vielen Mitschnitten der Anrufe aus dem Mittelmeer, die sie auf ihrem weißen Samsung-Handy gespeichert hat. Jetzt liegt das Handy auf dem Holztisch in ihrer kleinen Küche. Alle paar Minuten vibriert es. Al Jazeera aus Katar. Eine Journalistin aus Amerika. Dann ein eritreischer Pfarrer aus der Schweiz. „Sorry, da muss ich jetzt ran, das ist wegen des IS“, entschuldigt sich Estefanos und verschwindet auf ihren Balkon aus grauem Beton.Vor Wochen hatte die Terrormiliz Islamischer Staat 87 Eritreer in Libyen gefangengenommen. 14 von ihnen hatten Glück im Unglück, denn wie durch ein Wunder gelang es ihnen, sich zu befreien. Mit dem Handy ans Ohr gepresst, sitzt die 40-Jährige jetzt auf dem Balkon und bespricht mit dem Pfarrer, wie sie die noch immer in Libyen festsitzenden 14 Flüchtlinge in Sicherheit bringen können. „Was“, fragt Meron Estefanos später, als sie in die Küche zurückkommt, „wäre in den Fernsehstationen wohl los, wenn der IS 87 Schweden entführt?“ Die Frage hängt noch im Raum, als das Handy erneut läutet. Estefanos und ihr Handy: 24 Stunden sind die beiden untrennbar verbunden. Das ist viel. „Du dummes, dummes Telefon!“, hatte kürzlich ihr sechsjähriger Sohn das Mobiltelefon angefaucht, als es wieder einmal unablässig läutete. Er habe ja recht, meint die alleinerziehende Mutter, familienkompatibel sei es nicht. Nur: Wenn sie mit einem Anruf so viele Leben retten könne?

Eigentlich arbeitet die 40-Jährige seit 2010 als Radiojournalistin für den in Paris stationierten Sender Erena. Als Aufnahmestudio dient ihre kleine Küche in Stockholm. Dort setzt sie sich jeden Donnerstag Vormittag mit Headset und Notebook an den Esstisch und geht mit dem Programm „Voices of Eritrean Refugees“ on air. Schon von 2006 bis 2010 arbeitete sie für einen anderen Sender und erzählte auch dort die Geschichten der eritreischen Flüchtlingen. Ihre Telefonnummer machte sie früh öffentlich, um jederzeit erreichbar zu sein.

Es sind die Geschichten von geflüchteten Landsleuten, die in ihrer Sendung eine Stimme bekommen: Geschichten von Künstlern, Geschäftsfrauen und Arbeitslosen, Geschichten von jenen, die im Mittelmeer ertrunken sind und Geschichten von anderen, die überlebt und im Westen ein neues Leben begonnen haben. Und während sie mit ihrer leisen, aber durchdringenden Stimme in das Mikrofon spricht, sitzen 5200 Kilometer von ihr entfernt Frauen und Männer in Eritrea vor ihren Radiogeräten und lauschen dem Programm, wenngleich im Geheimen, denn das eritreische Regime versucht die Ausstrahlung von Programmen des regimekritischen Senders zu verhindern. Laut der US-amerikanischen NGO Committee to Protect Journalists ist Eritrea derzeit meist zensierte Staat der Welt, noch vor Nordkorea.

Stichwort Nordkorea: Das „Nordkorea Afrikas“, so wird Eritrea – es ist so groß wie die Schweiz und Österreich zusammen – oft genannt. Seit der Unabhängigkeit von Äthiopien 1993 regiert Präsident Isaias Afewerki (69) das vom Rest der Welt abgeschottete Land am Horn von Afrika. Zu Beginn war er gefeierter Nationalheld, heute ist er gefürchteter Diktator, der Eritrea mit „gnadenloser Repression“ regiere und Menschenrechtsverletzungen begehe „in einem Ausmaß und einer Dimension, selten anderswo in dieser Form gesehen“, wie es die UN in einem aktuellen Bericht Juni 2015 formulierte.

Willkürliche Hinrichtungen von Regimegegnern, systematische Folter von Häftlingen, sexuelle Versklavung von Frauen in staatlichen Militärausbildungscamps, dazu Spitzelwesen, Armut und Unterernährung machen den Alltag für viele kaum ertragbar. Viele Gründe für eine Flucht, doch das Hauptmotiv für den Massenexodus aus Eritrea – nach Syrien ist es derzeit das Land, aus dem die meisten Menschen über das Mittelmeer nach Europa fliehen – ist der sogenannte National Service: Unter dem Mantel dieser Bezeichnung zieht das eritreische Regime Männer wie Frauen zwischen 18 und 50 Jahren verpflichtend zu Militärdienst und Zwangsarbeit ein und zwar auf unbefristete Dauer, sprich: Jahre bis Jahrzehnte.

Durch diese staatlich gelenkte Zuteilung der Bevölkerung für „nationale Dienste“, argumentiert das Regime, wolle es zum einen die wirtschaftliche Autarkie des Landes garantieren, zum anderen die militärische Stärke zur Erhaltung der territorialen Integrität. Als Einrichtung „mit sklavereiähnlichen Praktiken“ und „aberwitzigen Löhnen“ bezeichnet die UN den National Service, welcher der jungen Generation – 60 Prozent der eritreischen Bevölkerung sind unter 24 – jegliche freie Lebensgestaltung versagt. Um dem zu entkommen, machen sich derzeit jeden Monat rund 5000 Eritreer auf die Flucht; trotz des Wissens an der Grenze von ihrer eigenen Armee wegen Landesverrats erschossen werden zu können. Schaffen sie es hingegen in den benachbarten Sudan weiter bis nach Libyen, wartet dort das nächste russische Roulette auf sie: die Mittelmeerüberfahrt nach Europa. Und hier schließt sich der Kreis mit Meron Estefanos und ihrem weißen Samsung-Handy.

Doch manchmal schließt sich der Kreis auch schon vorher.

Der beißende Gestank verbrannter Haare. Schmelzendes Plastik auf offenem Menschenfleisch. Vergewaltigte Frauenkörper am Boden. Daneben lebende Kinderkörper an Eisengestängen, sie baumeln ins Leere. Das sind die berüchtigten Folterlager für eritreische Flüchtlinge. Vor etwa vier Jahren kamen erstmals Schlagzeilen in westliche Medien, die über die Kidnapping-Praxis von Menschenhändlern berichteten, (vorwiegend) Eritreer auf ihrem Weg nach Europa zu entführen und sie in Folterlagern am Sinai in Ägypten festzuhalten. Politische Gründe gibt es nicht, es geht ums Geld: Von den Verwandten der gekidnappten Flüchtlinge erpressen die Menschenhändler Lösegeld, immer geht es um mehrere tausend Dollar und die Folter ist ihr wirksamstes Instrument. Aufgrund der politischen Situation am ägyptischen Sinai hat sich die Geografie dieser torture camps seit kurzem zwar Richtung Sudan und Libyen verlegt, doch die Täter sind die gleichen. Wie viele Frauen, Kinder und Männer in den Lagern festsitzen? Meron Estefanos weiß es nicht. Es müssen viele sein, meint sie, denn in jedem Lager seien mehr als einhundert Personen interniert und die Anrufe von dort an sie reißen seit mehreren Jahren nicht ab.

„Geschenk Gottes“ – das bedeutet Estefanos Vorname Meron. Und als genau das empfinden sie viele Eritreer in den Foltercamps, denn die 40-jährige Radiojournalistin gehört zu jenen, die nicht lange überlegen, sondern handeln: Sie verhandelt mit den Menschenhändlern am Telefon, hilft beim Organisieren der Lösegelder, tröstet verzweifelte Angehörige, die sich flehend an sie wenden. Ihr Büro ist ihre Küche in Stockholm, ihre Überzeugungskraft am Telefon ihre Waffe. Oft, sagt Meron Estefanos, nehme es ihr bei den Horrorgeschichten, den Atem. „Du glaubst, es kann nicht schlimmer kommen und dann ist die nächste Geschichte noch grausamer als die vorhergehende.“

Auch nach Jahren gehen sie ihr noch nahe, haben nicht zu übersehende Spuren in ihrem dunklen Gesicht hinterlassen. „In den Foltercamps am Sinai“, erzählt sie, „haben die Menschenhändler eine besonders grausame Technik angewendet: Zuerst haben sie den Flüchtlingen die Telefonnummern ihrer Familien im Ausland herausgepresst. Dann riefen die Menschenhändler sie an, um das Lösegeld zu fordern. Das Perfide: Während sie mit den Familien am Telefon waren, haben sie deren Angehörige live gefoltert.“

Jeden einzelnen Menschenhändler, der damit Geld mache, sagt die 40-Jährige wütend, werde sie vor Gericht bringen. Sie sammle Beweismaterial, mache Mitschnitte von den Telefongesprächen, führe Protokoll über die Lösegeldsummen. „Wenn du in Schweden eine Katze tötest, kommst du ins Gefängnis. Ich höre währenddessen die Geschichten von Flüchtlingen, die stündlich gefoltert werden. Und die ganze Welt schaut weg.“ Diesen Satz sagte sie 2013 in einem preisgekrönten israelischen Dokumentarfilm über die Folterlager am Sinai. Wie viele Menschenhändler hat sie seither vor Gericht gebracht? „Keinen!“, sagt Estefanos trotzig. „Aber glauben Sie mir: Der Tag der Gerechtigkeit wird kommen.“

Es läutet an der Tür. Ihre zwei Söhne, der 14-jährige Christian und der sechsjährige Nathan, sind aus der Schule zurück. Estefanos so ernstes Gesicht der vergangenen Stunden verwandelt sich in scheinbar unbeschwerte Heiterkeit. Die 40-Jährige lässt sich von den Buben umarmen, scherzt mit ihnen auf Schwedisch, beutelt dann herzhaft lachend die Turnschuhe ihres Jüngsten über dem Mistkübel aus: „Jeden Tag hat er vom Spielplatz diese ganze Ladung Kiesel in den Schuhen! Ist das nicht unglaublich?“

Und in diesen Momenten sind Folter und Flucht auf einmal unendlich weit weg.

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