31. August 2015 · Kommentare deaktiviert für Wie Bulgarien sein Flüchtlingsproblem löst · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien

Quelle: Telepolis

von Frank Stier

Bulgarien ist von der Flüchtlingswelle, die von Griechenland über die Balkanroute zieht, bislang weitgehend ausgespart worden

Nur wenige Flüchtlinge halten sich an diesem heißen Sonntagnachmittag Ende August 2015 auf dem Hof des Flüchtlingslager Ovtscha Kupel in Sofia auf. Einige Männer sitzen im Schatten, Kinder spielen, Frauen sind nur vereinzelt zu sehen. Mit seiner Kapazität von 860 Plätzen ist Ovtscha Kupel das größte Flüchtlingslager der bulgarischen Hauptstadt, momentan ist es aber nur zu 60% belegt, vor allem mit syrischen Flüchtlingen.

Einen Steinwurf entfernt von ihm steht die „Hotel Ritz“ genannte Bauruine, die seit Jahren Flüchtlingen als Not-Unterkunft dient, die das Flüchtlingslager nach Abschluss ihres Anerkennungsverfahrens verlassen müssen. Es erinnert nicht viel an die heiße Phase der bulgarischen Flüchtlingskrise im Herbst 2013. Damals verbreiteten nationale und internationale TV-Sender erschütternde Bilder über katastrophale Zustände in überfüllten bulgarischen Flüchtlingslagern.

Mohammed Ibrahim ist vor einem Monat aus Afghanistan nach Bulgarien gekommen. Sein Vater, der als General der afganischen Armee gegen die Taliban kämpft, hat einem Schlepper 5.000 US-Dollar gezahlt, damit er seinen Sohn von Afghanistan nach Frankreich bringe. Kabul, Pakistan, Iran, Istanbul, Sofia – so beschreibt Ibrahim die Route seiner zwei Monate lang dauernden Flucht.

„Drei Tage sind wir zu Fuß von der Türkei über die grüne Grenze nach Bulgarien marschiert. Auf bulgarischer Seite hat uns ein Auto des Schmugglers abgeholt und nach Sofia gebracht. In einem Restaurant wurden wir von der Polizei aufgegriffen und in das Ausländer-Gefängnis Buschmantsi gebracht. Die Verhältnisse dort waren nicht gut und nicht schlecht, doch sie waren besser als hier im Lager in Ovtscha Kupel, wo das Essen nicht gut ist. Jetzt habe ich keinen Kontakt mehr zum Schmuggler und auch kein Geld mehr, so weiß ich nicht, wie ich nach Frankreich komme, doch das ist mein Plan.“ [Mohammed Ibrahim]

Bulgarien will den Grenzzaun ausbauen

Im Juli 2014 hat Bulgarien einen rund dreißig Kilometer langen, vier Meter hohen Stacheldrahtzaun an der Grenze zur Türkei fertiggestellt. Bereits im Mai 2015 alarmierten aber bulgarische Medien, die knapp vier Millionen Euro teure „ingenieurtechnische Anlage verhütenden Typs an der Staatsgrenze zur Türkei“, wie die offizielle Bezeichnung des Zauns lautet, neige sich an mehreren Stellen zur Erde und sei von Flüchtlingen problemlos mit Teppichen zu überdecken und zu überwinden. Stürmisches Wetter habe dem Zaun derart zugesetzt, dass er gestützt werden müsse, gestanden die die zuständigen Behörden ein.

Seit Bulgarien im Spätsommer 2013 einen für das kleine Balkanland ungewohnten Zustrom meist syrischer Flüchtlinge erlebte, sehen viele Bulgaren ihr Land als einen europäischen Frontstaat in der Flüchtlingskrise wie Italien und Griechenland. Unermüdlich fordert ihr Ministerpräsident Boiko Borissov deshalb von der Europäischen Kommission zusätzliche finanzielle Unterstützung: „Wir geben viel Geld für den Unterhalt der Flüchtlinge und für den Bau der Grenzanlage aus; das sind Millionen, die der bulgarische Steuerzahler gibt. Wenn also den einen (Italien und Griechenland, A. d. A. ) gegeben wird, sollen sie (die Europäer in Brüssel, A. d. A.) doch so liebenswürdig sein, auch uns zu beachten“, verlautbarte der bulgarische Regierungschef am Rande des Flüchtlingsgipfels des Europäischen Rats im April 2015 in Brüssel.

Mitte Juli 2015 schritt Bulgariens Innenministerin Rumiana Batschvarova in der Nähe des Grenzübergangs Kapitan Andreevo zum „symbolischen“ Spatenstich“ für die Verlängerung des Grenzzauns um weitere 132 Kilometer. Bis wann er fertiggestellt werden kann und wie teuer er dem armen Bulgarien zu stehen kommen wird, ist noch offen, doch dass das in ihn investierte Geld für die Erweiterung und Modernisierung seiner Flüchtlingslager fehlen wird, steht fest.

Flüchtlinge vermeiden den Weg über Bulgarien

Obwohl der Vorsitzende der bulgarischen Staatlichen Agentur für Flüchtlinge (DAB) Nikola Kasakov für dieses Jahr eine Verdoppelung des „Migrationsdrucks“ gegenüber dem Vorjahr konstatiert, ist auffällig, wie Bulgarien im Vergleich zu seinen Nachbarländern Griechenland, Mazedonien und Serbien von der momentan über die sogenannte Balkanroute hinwegrollenden Flüchtlingswelle verschont bleibt. Mitte August haben binnen einer Woche mehr Flüchtlinge Mazedonien von der griechischen zur serbischen Grenze passiert, als in den ersten sieben Monaten dieses Jahres nach Bulgarien gekommen sind.

9.217 Menschen haben nach Angaben der DAB bis Ende Juli in Bulgarien Antrag auf Anerkennung als Flüchtling gestellt. Und obwohl sich damit abzeichnet, dass die Gesamtzahl von 2014, als 11.081 Menschen Asylantrag stellten, übertroffen werden wird, zeigt die Tatsache, dass die sechs bulgarischen Flüchtlingslager gegenwärtig lediglich zu 60% belegt sind, dass die Flüchtlingssituation in Bulgarien relativ entspannt ist, nicht nur im Gegensatz zu anderen südosteuropäischen Länder, sondern auch im Vergleich zur chaotischen Situation im eigenen Land vor zwei Jahren.

Dabei sollen derzeit mehrere Millionen Flüchtlinge aus dem arabischen Raum in der Türkei ausharren, rund einhunderttausend davon in Nähe zur bulgarischen Grenze. Vor diesem Hintergrund muss es erstauenen, dass vergleichsweise wenige Migranten ihren Weg über den Landweg nach Bulgarien in die Europäische Union wählen.

Bulgarien wird in Syrien am schlechtesten bewertet

„Bulgarien steht auf Rang Nr. 1 der Schwarzen Liste des Handbuchs für den Flüchtlingskandidaten“, titelten vor kurzem bulgarische Medien und beriefen sich dabei auf den an der Universität Sofia lehrenden Arabisten Vladimir Tschukov. Eine solche Meldung ruft in bulgarischen Online-Foren für gewöhnlich eher Zustimmung als Betroffenheit bei den Kommentatoren hervor. Viele Bulgaren vertreten die Ansicht, ihr Land solle im Umgang mit Flüchtlingen eher hart als gastfreundlich sein, um auf diese Weise Asylsuchende abzuschrecken.

„Es handelt sich nicht um ein klassisches Handbuch, sondern um einen vom syrischen Online-Medium Cham-Press veröffentlichten Artikel, der mit ‚Welches sind die schlimmsten Länder für Flüchtlinge in Europa?‘ überschrieben ist“, erklärt Vladimir Tschukov im telephonischen Gespräch. Darin bewertet ein anonymer Autor, Tschukov nennt ihn den „Emigrations-Experten“, elf mögliche Transit- und Zielländer nach einer Reihe von Kriterien wie nationale Wirtschaftskraft, Beziehung der Asyl-Behörden zu den Migranten und Einstellung der Bevölkerung zu ihnen.

„Tatsächlich wird Bulgarien dabei am schlechtesten bewertet“, sagt Tschukov. Der an der Universität Sofia lehrende Professor hat die Warnungen und Empfehlungen des syrischen Emigrationsexperten auszugsweise aus dem Arabischen ins Bulgarische übersetzt und auf seiner Facebook-Seite zugänglich gemacht hat.

„In Bulgarien“, so heißt es in dem Cham-Press-Artikel, „werden alle Flüchtlingskandidaten von den Behörden gestellt, man nimmt ihre Fingerabdrücke und bringt sie in Lager mit unmenschlichen Lebensbedingungen. Die Hilfeleistungen für die Flüchtlinge sind bescheiden und das bulgarische Volk ist in großem Maße rassistisch gestimmt, vor allem gegen Flüchtlinge und am meisten gegen die Araber.“ Demgegegenüber seien die wirtschaftlich starken Länder Deutschland, Norwegen und Schweden mit relativ toleranten und zügig arbeitenden Behörden als Zielorte für die Flüchtlingskandidaten unbedingt vorzuziehen.

Eine tendenziell abweisende Haltung gegenüber Migranten geht aus einer Aussage des bulgarischen Ministerpräsident Boiko Borissov hervor, mit der er kürzlich die Verlegung von Truppen und Schwerem Gerät an die Grenze zu Mazedonien begründet hat: „Die Soldaten sind dort, um Respekt zu verbreiten, um zur Sicherheit der lokalen Bevölkerung beizutragen. Für den Fall, dass die Schlechten kommen, dass sie reagieren können. Es kann nicht sein, dass zehntausende Leute unsere Grenze passieren und wir nicht elementare vorbeugende Maßnahmen ergreifen“.

Und sein Außenminister Daniel Mitov erklärte den Umstand, dass Bulgarien von den Migranten überwiegend geschnitten wird, folgendermaßen: „Die Flüchtlinge wählen die Route über Griechenland, Mazedonien nach Serbien, weil wir unsere Grenze so gut bewachen“.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Wacht und Pro Asyl kritisieren indes Bulgariens Vorgehen gegen Migranten scharf. In einem ausführlichen Bericht hat Pro Asyl im vergangenen April zahlreiche Fälle des gewaltsamen Zurückdrängens von Flüchtlingen über die türkische Grenze durch bulgarische Grenzpolizisten dokumentiert. Solche sogenannte „Push Backs“ stünden im Widerspruch zu internationalen Abkommen wie der Genfer Flüchtlingskonvention, protestierte Pro Asyl.

Zudem kritisiert Pro Asyl die Verhältnisse in bulgarischen Flüchtlingslagern als weiterhin unangemessen und fordert die europäischen Ländern auf, keine Flüchtlinge nach Bulgarien zurückzuschicken. Manche bulgarischen Kommentatoren bezeichneten den Pro Asyl-Bericht als „böswillige anti-bulgarische Kampagne in Deutschland“.

Der seit Jahrzehnten in Sofia lebende Syrer Akram Naiuf von der „Assoziation freies Syrien“ hält die Situation für arabische Flüchtlinge in Bulgarien für wesentlich entspannter als noch vor ein, zwei Jahren. Die Lebensverhältnisse in den Lagern hätten sich verbessert und die Dauer des Anerkennungsverfahrens habe sich verkürzt.

Weiter nach Westeuropa

Dagegen mache die Integration anerkannter Flüchtlinge kaum Fortschritte, was allerdings auch an den Immigranten liege. „Die Wenigsten von ihnen wollen in Bulgarien bleiben, die meisten drängen nach Westeuropa. Nur wenige Flüchtlinge nehmen an bulgarischen Sprachkursen teil oder bewerben sich auf ausgeschriebene Arbeitsstellen“, sagt Naiuf. Dass Grenzzäune Bulgariens Flüchtlingsproblem lösen werden, glaubt er nicht. „Solange die internationale Gemeinschaft es nicht schafft, im arabischen Raum für Frieden zu sorgen, wird der Flüchtlingsstrom nach Europa nicht versiegen, sondern weiter anschwellen“, meint er.

Ein Blick in die Statistik der bulgarischen Flüchtlingsagentur scheint eine gewisse Interessenkongruenz zwischen Flüchtlingen und bulgarischem Staat nahezulegen, nämlich ein Interesse daran, dass die Flüchtlinge Bulgarien baldmöglichst in Richtung Westeuropa verlassen. Während noch vor drei Jahren zwölf mal mehr Antragssteller auf Gewährung des Flüchtlingsstatus lediglich Humanitären Status zuerkannt bekommen haben, der für Reisen in andere Länder der Europäischen Union Visa erforderlich macht, bekommen heute sechs mal mehr den Flüchtlingsstatus zuerkannt, der Freizügigkeit in der EU gewährt.

Die bulgarische Flüchtlingsagentur bestreitet, dass hinter der auffälligen Umkehr der Statuserteilungen politisches Kalkül stecke. „Der Unterschied zwischen 2013 und 2015 hängt mit den dynamischen Veränderungen in der Arabischen Welt zusammen, mit der Verschärfung des Konflikts mit dem Islamischen Staat in Syrien, Irak und Libyen sowie der allgemeinen Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse und dem Anstieg Asylsuchender aus diesen Staaten“, verlautet die DAB-Pressestelle auf Anfrage. Beispielhaft führt sie Syrien an, einen Staat, „für den es Anfang 2013 nicht genügend bestätigte Fakten und Beweise für einen inneren oder äußeren bewaffneten Konflikts gab. Einige Monate später wurde dieser Staat zur Arena grausamen Blutvergießens, bei dem auch jetzt tausende Bürger sterben“.

Am frappierendsten erscheint die hohe Quote abgebrochener Asylverfahren in der Statistik der bulgarischen Flüchtlingsagentur. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres wurden 4.998 Anerkennungsverfahen vor Erteilung eines Status abgebrochen, das sind über 54% aller 9.217 Anträge. Auf die Frage, worin dieser hohe Anteil begründet liege, antwortet die Pressestelle der Flüchtlingsagentur, ein „großer Teil der Ausländer“ verlasse nach der Registrierung die Flüchtlingslager und verunmögliche so die Durchführung und den Abschluss des Anerkennungsverfahrens. „Es steht den Antragsstellern frei, eine Unterkunft außerhalb unserer Zentren zu beziehen, wenn sie den Wunsch und die finanzielle Möglichkeit dazu haben. Kommen sie aber der Aufforderungen zur Meldung bei unseren Beamten für Interviews zur Fortsetzung ihrer Verfahren für die Anerkennung als Flüchtling oder Erteilung Humanitären Status nicht nach, so werden ihre Verfahren abgebrochen.“

Zwar belebt sich Sofias kleines Araberviertel um die Straße Zar Simeon zusehends, ansonsten sind die Flüchtlinge im Stadtbild der bulgarischen Hauptstadt aber wenig präsent. Alles deutet darauf hin, dass die meisten der in Bulgarien angekommenen Migranten tatsächlich schnellstmöglich ihren Weg nach Westeuropa fortsetzen.

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