17. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Machen wir die Grenzen auf, die Menschen kommen sowieso“ · Kategorien: Lesetipps, Medien · Tags:

Quelle: Stern

Täglich kommen Tausende von Flüchtlingen nach Europa – oft eher tot als lebendig. Wie lässt sich dieser unhaltbare Zustand ändern? Der Migrationsforscher François Gemenne sagt im Interview mit dem stern: „Machen wir die Grenzen auf – alle!“

Herr Gemenne, Sie sagen, die EU solle alle Grenzen öffnen. Ist das eine Provokation oder Ihr Ernst?

Es ist der einzig vernünftige Schritt.

Warum?

Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als je zuvor. Die reisen ja nicht zum Spaß, sondern um ihr Leben zu retten. Offene Grenzen sind der einfachste und wirkungsvollste Weg, ihnen dabei zu helfen.

Woche für Woche sehen wir, wie Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sterben. Wenn die EU jetzt sagt: Alle Grenzen auf – dann riskieren doch noch mehr Menschen diesen lebensgefährlichen Weg.

Nein. Das ist eine völlige Fehleinschätzung der Ursachen für Migration. Niemand verlässt sein Land, bloß weil zum Beispiel Deutschland seine Grenzen öffnet. Und niemand bleibt, weil die Grenzen zu sind. Offene oder geschlossene Grenzen haben überhaupt keinen Einfluss darauf, ob Leute sich auf den Weg machen oder nicht. Der Unterschied ist allerdings, ob sie lebend ankommen oder tot.

Woher wollen Sie das wissen?

Man braucht ja nur hinzusehen. Man hat gesagt, das italienische Rettungsprogramm Mare Nostrum biete einen Anreiz zur Migration und erleichtere die Arbeit der Schlepper. Also schaffte man das Programm ab – und trotzdem kommen noch mehr Flüchtlinge. Anderes Beispiel: Die Mauer zwischen den USA und Mexiko. Sie hat nichts an der Anzahl der mexikanischen Einwanderer geändert. Umgekehrt gab es in Europa nach dem Öffnen der Grenzen keineswegs eine unkontrollierbare Armutsmigration von Ost nach West, wie man zunächst befürchtet hatte. Dasselbe gilt für die Öffnung der Grenze zwischen Indien und Nepal. Der Wille, auszuwandern, hängt von strukturellen Faktoren ab, die sich jeder Migrationspolitik entziehen: Armut, Hunger Krieg. Aber wenn wir den Menschen erlauben würden, mit Flugzeugen oder Fähren zu kommen, müssten sie nicht im Meer ertrinken.

Trotzdem steckt dahinter ein Geschäft. Schlepperbanden verdienen viel Geld damit, dass sie immer mehr Menschen auf viel zu kleinen Booten losschicken. Dieses System muss doch bekämpft werden.

Ja. Aber Abschottung und Überwachung der Grenzen bringen überhaupt nichts. Im Gegenteil: Die aktuelle Praxis befeuert das Business der Menschenhändler sogar noch. Denn je schwieriger es ist, nach Europa zu kommen, desto mehr Geld verdienen die Schlepper.

Was sollten die EU-Politiker denn tun, um die Lage zu kontrollieren?

Es ist naiv zu glauben, dass sich die Situation mittels abgeriegelter Grenzen lösen ließe. Überhaupt ist die Idee, Migration kontrollieren oder einschränken zu wollen, absurd. Es gibt Menschen, die rennen um ihr Leben. Und keine Grenze der Welt wird sie in ihrer Todesangst aufhalten. Dann gibt es jene, die losgeschickt werden, um der Familie oder der Gemeinschaft ein besseres Leben zu ermöglichen. Diese Leute haben oft jahrelang Geld gespart. Das Überleben vieler Menschen hängt von ihnen ab – sie werden sich ebenfalls von keiner Grenze stoppen lassen. Was in der Zukunft noch zunehmen wird, ist Auswanderung aufgrund sich verändernder Umweltbedingungen. Klimaflüchtlinge. Wir müssen endlich umdenken und Migration als Teil unserer Realität akzeptieren.

Aber genau deshalb muss sie doch reguliert werden. Niemand will, dass in Paris oder Berlin Menschen in Slums leben. Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit – das sind doch Probleme, die entstehen.

Ja, unbestritten. Man muss sich aber auch genau ansehen, wodurch sich diese Probleme manifestieren. Die Vorstellung, dass Migranten soziale Verelendung befördern, ist völlig falsch. Studien haben gezeigt, dass Migranten langfristig betrachtet positiv zur wirtschaftlichen Entwicklung ihres Ziellandes beitragen. Je offener und clegaler“ Einwanderung möglich ist, desto besser können Migranten ihr Potenzial entfalten. Kriminalität, Slums und soziale Verelendung sind die Folgen der prekären und illegalen Situation, in der sich die Menschen oft wiederfinden. Daher nochmals: Grenzen auf! Damit würde illegale Migration de facto abgeschafft. Das wäre auch ein signifikanter Schritt zur Lösung dieser Elendsprobleme.

Was sollte die EU also tun?

Die EU braucht eine einheitliche Migrationspolitik. Und sie sollte wirtschaftliche Einwanderung erlauben. Die Menschen müssen wissen, dass es legale Möglichkeiten gibt. Bisher ist Asyl der einzige Weg – deswegen versucht das jeder, was wiederum dazu führt, dass das Asylsystem nahezu zusammengebrochen ist. Legale Einwanderung, temporäre Migration – das sind Maßnahmen, die im Interesse aller wären.

Sie haben vorhin gesagt, Migration sei eine natürliche Begleiterscheinung der Globalisierung. Könnte es sein, dass wir unsere Haltung grundsätzlich überdenken müssen?

Ich glaube, dass wir immer noch in dem gefangen sind, was ich das „Paradigma der Immobilität“ nenne. Wir betrachten Migration als etwas Unnormales. Als Problem. Wir haben immer noch nicht verinnerlicht, dass Migration ein Teil unserer Realität ist – und ein Grundrecht jedes Menschen. Das Recht auf Mobilität. Das Recht, dorthin zu gehen, wo die Lebensbedingungen besser sind. Migration verhindern zu wollen ist, als würde man versuchen, die Sonne am Aufgehen zu hindern: Komplett sinnlos. Schon das Wort „Flüchtlingswelle“ ist Unsinn. Es ist keine Welle und es wird auch nicht „abebben“. Migration ist Normalität in einer globalisierten Welt, in der der Unterschied zwischen arm und reich eklatant ist.

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