24. November 2017 · Kommentare deaktiviert für „Sachverständige fordern Recht auf Familiennachzug für Flüchtlinge“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Migazin | 24.11.2017

Das Verhindern des Familiennachzugs von Flüchtlingen erschwert die Integration, sagen Kritiker der derzeitigen Aussetzung. Experten geben ihnen recht: Ungewissheit und Sorge machten die Konzentration etwa aufs Deutschlernen schwer.

In der politisch erhitzten Debatte über den Familiennachzug haben Integrationsexperten für die Zusammenführung naher Angehöriger plädiert. Nach der zeitweiligen Aussetzung sollte der Familiennachzug auch für die Gruppe der Flüchtlinge mit dem untergeordneten subsidiären Schutz wie geplant ab März 2018 wieder eingeführt werden, heißt es in einer am Donnerstag in Berlin vorgestellten Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Die Autoren halten das Verbot des Familiennachzugs für ein Hindernis bei der Integration.

Bereits während des Asylverfahrens spiele das Thema bei Betroffenen insbesondere aus Syrien eine „wichtige, meist problematische“ Rolle. „Die Ungewissheit und die Sorge um die Zukunft der engsten Familienangehörigen belastet den Alltag und macht es den Menschen schwer, sich auf ihre Integration zu fokussieren“, heißt es in der Studie, für die 62 Flüchtlinge mit noch nicht geklärtem Aufenthaltsstatus aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Westbalkan-Staaten befragt wurden.

Unsicherer Aufenthalt behindert Integration

Integration müsse immer im familiären Kontext gesehen werden, mahnen die Sachverständigen. Sie fordern zudem schnellere Asylentscheidungen. Auch eine unsichere Aufenthaltsperspektive belaste die Antragsteller und behindere Integration. Die Studie wurde erstellt vom Forschungsbereich des Sachverständigenrats und der Robert Bosch Stiftung.

Der Familiennachzug wurde von der großen Koalition im Frühjahr 2016 für die Gruppe der subsidiär Geschützten für zwei Jahre ausgesetzt und wäre demnach ab März 2018 wieder möglich. Betroffen sind vor allem Syrer, die oftmals nicht als politisch Verfolgte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, sondern als Bürgerkriegsflüchtlinge nur den untergeordneten Schutzstatus erhalten. In den Sondierungsgesprächen zwischen Union, FDP und Grünen war der Familiennachzug eines der Hauptstreitthemen. CDU, CSU und FDP wollten die Aussetzung verlängern, die Grünen setzten sich dafür ein, den Familiennachzug wieder zu ermöglichen.

Streit um korrekte Zahlen

Grund für den erbitterten Streit ist unter anderem die unklare Prognose darüber, wie viele zusätzliche Flüchtlinge Deutschland dadurch aufnehmen müsste. Die bislang detaillierteste Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht davon aus, dass über den ohnehin weiter möglichen Nachzug zu Anerkannten nach der Genfer Flüchtlingskonvention 100.000 bis 120.000 Menschen kommen könnten. Mit dem Recht auch für subsidiär Geschützte kämen demnach 50.000 bis 60.000 dazu, insgesamt also weniger als 200.000 Menschen und weniger als ein Familienmitglied pro Flüchtling.

Zweitweise kursierten Zahlen, jeder Flüchtling könne im Durchschnitt bis zu vier Familienmitglieder nachholen. Dies gilt nicht als seriöse Schätzung. Aus der Studie des Sachverständigenrats sind durch die qualitative Methode keine Hochrechnungen möglich. Auch hier zeigt sich aber, dass nicht jeder Asylbewerber Angehörige nachholen will. Von den 62 Befragten reisten 35 bereits mit ihrer Familie ein, von den elf Befragten Syrern waren es sechs, von den 14 Afghanen elf. Das Recht auf Familiennachzug umfasst die sogenannte Kernfamilie, also Kinder und Ehegatten sowie im Falle minderjähriger Kinder die Eltern. (epd/mig)

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taz | 24.11.2017

Debatte Familiennachzug: Hochstilisiertes Problem

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden zu Opfern des politischen Taktierens. Dabei wird mit falschen Voraussetzungen gearbeitet.

Oskar Klemmert

In den Wochen der Koalitionssondierung wurde so getan, als könnte es beim Familiennachzug für subsidiär geschützte Kriegsflüchtlinge nur Alles oder Nichts geben. Warum eigentlich? Die Zahl der Asylanträge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist laut Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwischen Januar und Oktober 2017 auf etwa 8.100 gesunken. Nach einem Bericht der Bundesregierung lebten im Februar 2017 insgesamt knapp 44.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland.

Ferner reisten laut offiziellen Angaben gerade mal 442 Personen im Jahr 2015 – also vor der Aussetzung des Familiennachzugs – als Eltern unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nach Deutschland ein. Ein erheblicher Anteil der flüchtenden Minderjährigen ist während der Flucht von den Angehörigen getrennt worden. Hier von einem Kalkül zu sprechen, dass Familien gezielt ihre Kinder als Vorhut schickten, wirkt leicht zynisch.

Ein Blick in die Alters- und Geschlechterstatistik unbegleiteter Kriegsflüchtlinge zeigt, dass es sich überwiegend um männliche Jugendliche handelt. In Syrien, im Irak und in Afghanistan sind jedoch Familien mit nur einem Kind eine Seltenheit. Die betroffenen Eltern werden also durch das bestehende deutsche Aufenthaltsgesetz vor die unmenschliche (Schein-)Alternative gestellt, entweder ihre noch jüngeren Kinder im Kriegsgebiet allein lassen zu müssen oder aber ihrem durch Flucht geretteten älteren Kind nicht nach Deutschland folgen zu können.

Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im März ausdrücklich ihre Auffassung bekräftigt, dass das deutsche Aufenthaltsgesetz keinen Geschwisternachzug kennt. Obwohl auf diese Weise bereits nach geltender Rechtslage ein wirksamer Hebel für die Verhinderung von Familiennachzug bestand, hat die Regierung mit der Aussetzung des Rechts auf Familiennachzug auch unbegleitete Minderjährige einbezogen. Das Argument, dass ein massenhafter Familiennachzug zu befürchten sei, kann zumindest in Bezug auf diese Gruppe im Ergebnis als grob tatsachenwidrig entlarvt werden. Wo ist also der Anlass, ein zahlenmäßig derart geringfügiges Scheinproblem derart hochzustilisieren?

Flüchtlinge sind für die CSU reine Manövermasse

Wie sehr bei der CSU die Ablehnung des Fami­liennachzugs zur reinen Prinzipienreiterei geworden ist, zeigte ihre Ablehnung des lächerlichen Kompromissvorschlags der Kanzlerin, man könne monatlich 500 Familienangehörige von subsidiär geschützten Kriegsflüchtlingen aufnehmen. Horst Seehofer erklärte daraufhin lediglich, man wolle eigentlich überhaupt keine Familienangehörigen nachziehen lassen. Es hat Tradition bei der CSU, auf den möglichen Verlust der absoluten Mehrheit bei den Landtagswahlen mit Hysterie zu reagieren. Zunehmend entsteht der Eindruck, dass die Flüchtlinge für die bayerische Parteiführung reine Manövriermasse ohne menschliche Bedeutung sind.

Solange die Kirchen die CDU gegen die CSU verteidigen konnten, hatten sie sich öffentlich vor die Flüchtlinge gestellt. Jetzt, wo sich die Union in vereinter Stellung gegen die Forderungen der Grünen nach Familiennachzug befindet, halten sich die Kirchen in wenig vornehmem Schweigen zurück. Im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Gegenideologie ist vor allem aus Kreisen der CDU die Frage gestellt worden, ob es sinnvoll sei, Flüchtlingsfamilien in Deutschland zu integrieren, die voraussichtlich in einigen Monaten wieder in ihr Heimatland zurückgeführt würden. Diese Frage zielt offenbar überwiegend auf das Drittel syrischer Flüchtlinge, das vielleicht nach einer endgültigen Niederlage des „Islamischen Staats“ in befriedete Regionen Syriens zurückkehren könnte.

Auch wenn angesichts der vielfältigen Konfliktlinien im syrischen Bürgerkrieg eine solche Rückführungsperspektive in absehbarer Zeit gewagt erscheint, weist diese Frage indirekt den Weg zu einem Kompromiss in der Frage des Familiennachzugs: Man könnte genau denjenigen Familienangehörigen den Nachzug nach Deutschland gewähren, deren körperliche Unversehrtheit akut bedroht ist. Ein solches Kriterium ist weit humaner als der eher eigennützige Gedanke der FDP-Führung, über das neu zu schaffende Einwanderungsgesetz einigen wenigen Flüchtlingen, die bereits eine Arbeitsstelle haben, den Nachzug ihrer Familienangehörigen zu ermöglichen.

Aber wie denkt die Bevölkerung über den Familiennachzug? Gerade wenn man die 13 Prozent der AFD-Anhänger pauschal als Gegner der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin wertet, wird man umgekehrt anerkennen müssen, dass die restlichen 87 Prozent für diese votiert haben. Die Penetranz, mit der in politischen Diskussionssendungen der Unmut der Bevölkerung über die hohe Zahl von Flüchtlingen behauptet wird, ist sicherlich nicht ohne Folgen geblieben. Als guter Bürger will man schließlich gern Teil des aktuellen Mainstreams sein.

Schon die Frage ist falsch

Das Meinungsforschungsinstitut YouGov hat im Auftrag der Nachrichtenagentur dpa Anfang Oktober herausgefunden, dass 56 Prozent der Befragten die Forderung der CSU nach einer Flüchtlingsobergrenze unterstützen. Nur 28 Prozent sprachen sich dagegen aus. Die Frage, ob man dafür sei, den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland zu begrenzen, suggeriert die reale Möglichkeit, dass die Zahl der Flüchtlinge grenzenlos steigen könnte, obwohl längst nichts mehr dafür spricht, dass sich die Ausnahmesituation des Jahres 2015 wiederholen wird.

Man könnte ja stattdessen fragen: Sollen alle 44.000 unbegleiteten minderjährigen Kriegsflüchtlinge prinzipiell in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht werden – oder soll ihnen das Zusammenleben mit ihren Eltern und Geschwistern ermöglicht werden? Und ein mögliche Nachfrage wäre: Sollte ihnen zumindest dann dieses Zusammenleben ermöglicht werden, wenn die Familienangehörigen im Herkunftsland weiterhin durch die Kriegswirren mit dem Tode bedroht sind? Es ist nicht nur zu hoffen, sondern auch anzunehmen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit Ja antworten würde. Auch in Bayern.

 

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