23. November 2017 · Kommentare deaktiviert für Öffnet die Inseln – Proteste für Bewegungsfreiheit auf Lesbos · Kategorien: Griechenland · Tags: , ,

Zuerst erschienen in ak 632 vom 14.11.2017

von Valeria Hänsel

Die beschauliche Hafenstadt Mytilene auf der griechischen Insel Lesbos ist ein bekanntes Touristenziel. Direkt an der Küste, im Zentrum des Ortes liegt der Saphous Platz, umringt von Palmen und Cafés, in denen Menschen ein und ausgehen.

Doch seit zwei Wochen hat sich das Bild verändert: Der zentrale Platz ist besetzt worden. Über fünfzig Menschen harren dort aus, unter ihnen viele Kinder, die auf dem Platz umhertoben. Sie trotzen dem nun einsetzenden Herbstwetter, das die Insel mit Stürmen und Regen heimsucht und schlafen mit dünnen Decken auf nacktem Steinboden. Die Menschen weigern sich, am Rande Europas unsichtbar zu bleiben. Sie kämpfen dagegen, nur wenige Kilometer von der Stadt Mytilene entfernt im Flüchtlingslager Moria hinter Stacheldraht interniert zu werden, fernab von jeglicher Öffentlichkeit.

Verbannt auf eine Insel

Vor Monaten haben sie die lebensgefährliche Überfahrt im Schlauchboot riskiert, um in  Europa Schutz zu suchen und ein neues Leben zu beginnen. Doch die Europäische Union lässt sie nicht weiterziehen und Sicherheit finden. Stattdessen werden die Menschen auf den griechischen Inseln festgehalten, wo die meisten von ihnen unter katastrophalen Bedingungen in Lagern leben müssen. Zusammengepfercht in  Zelten oder Containern werden einige von ihnen nun schon ihren zweiten Winter auf der Insel erleben. Stundenlang müssen sie für Essen anstehen, Toiletten und Duschen sind völlig verdreckt und kaum zugänglich, denn Moria ist mit ca. 5000 Personen hoffnungslos überfüllt. Das Lager raubt den Menschen nicht nur ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und Grundversorgung, sondern auch ihre Würde.

„Wir unterstützen vor allem die Menschen, die sich der brutalen europäischen Inhaftierungsmaschinerie entziehen.“

Doch die Menschen wehren sich gegen die Missachtung ihrer Rechte. Mehrere der Protestierenden auf dem Saphous Platz sind in den Hungerstreik getreten, unter ihnen auch minderjährige Mädchen. Sie tragen Schilder mit der Aufschrift „Öffnet die Inseln“, „Moria ist ein Gefängnis“, „Flüchtlinge sind keine Verbrecher“ und „Wir sind Menschen, keine Tiere“. Eine junge Frau aus Afghanistan erklärt: „Moria ist für uns nicht sicher, viele Menschen wurden dort bei einer Auseinandersetzung schwer verletzt. Wir können dort nicht leben und müssen diese Insel verlassen.“

Die Geflüchteten finden starken Rückhalt in der lokalen Bevölkerung und in internationalen Unterstützungsinitiativen. Während sie von Seiten der Polizei fortwährend der Gefahr einer Räumung ausgesetzt sind und sie sich auch vor rechten Gruppierungen in Acht nehmen müssen, bringen ihnen Anwohner_innen Decken und Kleidung. Die lokale Arbeiter_innen Gewerkschaft und die antifaschistische Gruppe Mussaferat haben den Protestierenden bei schlechtem Wetter Übernachtungsplätze angeboten und die internationale No Border Kitchen Lesvos kocht für die Menschen auf dem Platz. „Wir unterstützen vor allem die Menschen, die sich der brutalen europäischen Inhaftierungsmaschinerie entziehen und in besetzten Gebäuden leben und natürlich besonders diejenigen, die es wagen, sich offen gegen die Exklusionspolitik der EU zu wehren“, erklärt ein Aktivist der No Border Kitchen.

Der EU-Türkei Deal – Eine Bankrotterklärung an Humanität und Menschenrechte

Die Frustration der Menschen im europäischen Hotspot-Camp Moria ist greifbar. Im letzten Winter kamen in den von der EU geschaffenen Bedingungen allein in Moria mindestens sechs Menschen ums Leben. Sie erfroren in ihren Zelten oder verbrannten bei dem Versuch, mit einem billigen Gaskocher Essen zuzubereiten. Zudem kommt es immer wieder zu Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen, denn das Leben hinter Stacheldraht treibt die Menschen zur Verzweiflung.

Schuld an den katastrophalen Zuständen ist nicht die sogenannte „Flüchtlingskrise“, sondern eine bewusste Externalisierungs-Politik der Europäischen Union. Die EU-Türkei Erklärung vom 18. März 2016 sieht vor, alle Menschen, die auf den griechischen Inseln ankommen, zurück in die Türkei zu schicken. Eingeführt als „vorübergehende und außerordentliche Maßnahme, die zur Beendigung des menschlichen Leids und zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“ als notwendig galt, wurde auf den griechischen Inseln eine anhaltende Ausnahmesituation kreiert, in der basale Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden. Die Betroffenen werden zum Spielball der europäischen Politik gemacht.

Es ist ein Armutszeugnis für die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Was von der Bundesregierung als „Lösung der Flüchtlingskrise“ präsentiert wurde, entpuppt sich als extreme Form von Rassismus und Diskriminierung. Schutzsuchende fernab des Festlands auf Inseln einzupferchen – bisher vor allem eine australische Methode – ist eine Bankrotterklärung an Humanität und Menschenrechte.

Solidarität – gemeinsam für ein Ende der Inhaftierung

Auf Lesbos werden immer mehr Personen direkt nach ihrer Ankunft im Abschiebegefängnis des Lagers Moria inhaftiert – allein aufgrund ihrer Nationalität. In der Gefängnis Sektion B warten die meisten von ihnen ohne jegliche juristische Unterstützung auf die Entscheidung ihres Asylverfahrens. Ihr Asylantrag wird einem beschleunigten Grenzverfahren unterzogen, an dessen Ende mit höchster Wahrscheinlichkeit die Einstufung des Antrags als „unzulässig“ steht. Dies bedeutet, dass Schutzsuchende ohne eine weitere Prüfung ihrer Asylgründe in die Türkei abgeschoben werden. Anwält_innen vor Ort sind fassungslos über die rechtswidrige Praxis der Inhaftierung: „Man darf Menschen nicht aufgrund ihrer Nationalität inhaftieren, das verstößt gegen das grundlegende Nicht-Diskriminierungs-Gebot“, erklärt die Koordinatorin des Legal Centres Lesbos, Lorraine Leete.

Auf den griechischen Inseln springt das Unrecht ins Auge. Die Forderungen der protestierenden Geflüchteten nach Bewegungsfreiheit werden durch ein breites Bündnis von über 100 lokalen und internationalen Solidaritätsinitiativen gestützt, die im Oktober eine gemeinsame Stellungnahme mit dem Titel „Öffnet die Inseln! Keine weiteren Kältetoten“ verfassten.

Die geflüchteten Aktivist_innen sind sich dieser Solidarität bewusst. In einem Presseaufruf erklären sie:

Wir fordern, unseren Weg nach Kontinentaleuropa fortsetzen zu können und einen Flüchtlingsstatus zu bekommen. Dies ist in Übereinstimmung mit den Forderungen der örtlichen Bevölkerung von Lesbos, die die höllische Inhaftierung Morias geschlossen sehen möchte, sodass Lesbos nicht länger ein weitläufiges Gefängnis ist. Sie fordern ebenso die Aufhebung des EU-Türkei Abkommens und letztlich den Umsturz aller Anti-Flüchtlingspolitiken, die gegenwärtig von der EU und der griechischen Regierung umgesetzt werden.

Doch die griechische Regierung, die europäischen Mitgliedsstaaten und die Europäische Kommission bleiben tatenlos. Auch diesen Winter sind wieder Menschen gezwungen, in dünnen Zelten zu leben und auch diesen Winter werden wohl wieder Menschen aufgrund der Bedingungen zu Tode kommen. Aber niemand ist bereit, dafür Verantwortung zu übernehmen. Das europäische System von Exklusion und Entrechtung ist in vollem Gange und setzt sich unaufhaltsam fort. Menschen in Europa haben Angst: vor dem Fremden, den Andersdenkenden und Terrorismus. Wer Angst hat, handelt irrational und egoistisch. Der Zug ist ins Rollen geraten und es wird nicht leicht, ihn wieder zu stoppen und Menschen und Regierungen zu verstehen zu geben: Menschenrechte sind kein Privatbesitz einer Wohlstandselite, sie gelten für alle Menschen.

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