10. November 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingskrise in Griechenland: Die Vergessenen von Samos“ · Kategorien: Griechenland · Tags:

Spiegel Online | 09.11.2017

Die Kirche spricht von einem „Sturm“, manche Einheimische haben sich bewaffnet – die Stimmung auf der griechischen Insel Samos ist explosiv. Mittendrin sitzen Tausende Flüchtlinge, die nur eins wollen: weg.

Von der Insel Samos berichten Giorgos Christides und Olga Stefatou (Fotos und Video)

Eida war gerade im zweiten Monat schwanger, als sie im September ihr Baby verlor. Seitdem verbringt die Syrerin die Tage in ihrem kleinen Zelt auf der griechischen Insel Samos und erholt sich. Die 18-Jährige ist aufgewühlt. Der Verlust ihres Kindes schmerzt. Und es gibt noch einen weiteren Grund für ihre Verzweiflung: Die Schwangerschaft war ihr Ticket auf das griechische Festland – und heraus aus dem armseligen, kahlen Flüchtlingslager.

Die junge Frau ist einer von rund 3000 Flüchtlingen auf Samos. Auf vier weiteren Inseln hat die griechische Regierung mit Unterstützung der Europäischen Union sogenannte Hotspots in der Ägäis eingerichtet. Sie sollen eine Art Barrikade bilden gegen die unregulierte, illegale Einreise von Flüchtlingen über die Türkei in die EU. Seit Abschluss des EU-Türkei-Deals werden Flüchtlinge außerdem nur noch in bestimmten Ausnahmefällen von den Inseln aufs Festland gebracht – Eida hatte gehofft, als Schwangere einer dieser Ausnahmefälle zu werden.

Wer die Kriterien für einen Transfer nicht erfüllt, hat zwei Möglichkeiten: Im Lager vor sich hinzusiechen, bis über den Asylantrag entschieden wird. Oder einem lokalen Schmugglernetzwerk 1000 Euro oder mehr zahlen, um aufs Festland gebracht zu werden.

Anastasia Theodoridou leitet den Sozialdienst im staatlichen Krankenhaus von Samos. Fälle wie Eida sieht sie regelmäßig. „Ständig kommen Frauen hierher und hoffen verzweifelt darauf, schwanger zu sein. Andere hoffen auf die Diagnose irgendeiner ernsten Krankheit. Und wenn bei ihnen alles in Ordnung ist, bringen sie ihre Ehepartner und Kinder“, sagt sie. Vielleicht lässt sich ja bei denen etwas feststellen. 7857 Mal kamen Flüchtlinge seit Jahresanfang in das Krankenhaus, das geht aus internen Dokumenten hervor.

Die Tatsache, dass Menschen auf Krankheiten hoffen, um von den Hotspots wegzukommen, passt kaum zu den Erfolgsmeldungen der Europäischen Union. Seit dem Deal mit der Türkei ist es still geworden um die Flüchtlinge in Griechenland. Brüssel verkauft das gern als Indiz, dass an dieser Front alles in geregelten Bahnen verläuft.

Das erklärt auch, warum…

  • internationale Medien nur noch selten aus den Hotspots berichten
  • Hilfsorganisationen zusammenpacken und der griechischen Regierung die Arbeit mit den Flüchtlingen überlassen
  • sich nur noch wenige freiwillige Helfer finden
  • die einst erheblichen Spendengelder ausbleiben
  • die Versuchung in der EU groß ist, von einem Erfolg zu sprechen

In der Realität sieht es anders aus. Trotz Millionenzahlungen aus Brüssel leben die Menschen in den Hotspots unter teils erschütternden Bedingungen. Doch weil sich das europäische Interesse derzeit auf die EU-Blockade vor Libyen und die sich entwickelnden Fluchtrouten nach Spanien fokussiert, gerät die Krise in Griechenland in Vergessenheit.

Wie hart das Leben als Flüchtling in Griechenland sein kann, zeigt der Besuch im Camp von Vathy, einer 6200-Einwohner-Stadt auf Samos. Das Lager befindet sich nur wenige Hundert Meter von der Ortsgrenze entfernt. Ausgelegt war es einmal für 700 Menschen, heute leben hier viermal so viele. Ein zweites, notdürftiges Lager haben die Flüchtlinge direkt nebenan auf eigene Faust aufgebaut. Kaum jemand glaubt, dass die Zelte und Hütten die ersten Herbststürme überstehen werden. „Wir fühlen uns verlassen“, sagt Diab, 23 Jahre, aus dem syrischen Homs. Es fehle an allem: Kleidung, Nahrung, Medizin, Hygieneartikeln.

Mit ihrer Familie lebt sie in einem Zelt im Wald, beim letzten Regen ist es voll Wasser gelaufen. Jetzt fragen sie sich, was im Winter werden soll. Wann immer sie im Lager nach warmer Kleidung oder Decken fragen, so Diab, werden sie vertröstet. „Es hieß immer nur: ‚Morgen, morgen.'“

„Entzerrung“ ist ein Wort, das man auf Samos derzeit oft hört. Aktivisten, Politiker und NGOs sind sich einig, dass die Flüchtlinge eigentlich in angemessene Unterkünfte auf dem Festland gehören. Doch das ist derzeit nicht vorgesehen. Solange sie zusammengepfercht auf Samos bleiben müssen, so die Befürchtung, wächst der Widerstand der Inselbewohner.

Barmherzigkeit und Offenheit? Nicht von der Kirche

Die Insel ist durch ihre besondere Lage empfänglich für patriotische – und manchmal eben auch nationalistische – Stimmungsmacher. Gerade einmal 1,6 Kilometer trennen es an der schmalsten Stelle der Straße von Mycale vom wenig geliebten Nachbarn Türkei. Viele der rund 32.000 Inselbewohner wollen sich mit der dauerhaft hohen Flüchtlingszahl nicht abfinden. Die Stimmung ist gereizt. Da hilft es wenig, dass auch Behördenvertreter die Ressentiments schüren. So schwärmen etwa Polizisten im Gespräch von den ruhigen Tagen vor der Flüchtlingskrise. Auf Nachfrage müssen sie allerdings einräumen, dass es durch die Neuankömmlinge keinen spürbaren Ausschlag in der Kriminalstatistik gegeben hat.

Barmherzigkeit oder auch nur Offenheit dürfen die Flüchtlinge auch von der mächtigen Kirche nicht erwarten. Erst kürzlich schickte Bischof Eusebius von Samos und Ikaria einen Brandbrief an den griechischen Premier Alexis Tsipras. Darin beschreibt er die Lage auf Samos als „dramatisch“ und warnt vor einem „Sturm“, der durch die Flüchtlinge entfesselt werden könnte. Ein Priester, der seinen Namen nicht geschrieben sehen will, schildert die angemessene Antwort auf diesen „Sturm“: „Wer hier Gewalt sät, wird Gewalt ernten.“

In diesem gereizten Klima stößt jede Initiative der Inselverwaltung auf schon fast instinktiven Widerstand. Pläne für einen zweiten Hotspot als Alternative zu den wilden Lagern sind geplatzt. Ein Programm, mit dem Flüchtlinge in leerstehenden Häusern untergebracht werden sollen, ebenfalls. Dabei gäbe es auf der Insel genug solcher Objekte. Und zuletzt gab es gewalttätige Auseinandersetzungen unter Dorfbewohnern, weil manche von ihnen Wohnungen an Flüchtlinge vermieten wollten.

Mit der Bürgerwehr gegen die Hilfesuchenden

Nirgends wird die Anti-Flüchtlingshaltung so deutlich wie in Mytilinoi, einem idyllischen Ort mit 2000 Einwohnern, zehn Kilometer von Vathy entfernt. Ortsvorsteher Giorgos Eleftheroglou, über 70 Jahre alt, kündigt Widerstand gegen jeden Versuch an, Flüchtlinge hierher zu bringen. Vielleicht sogar bewaffneten Widerstand. „Wir haben unsere Gewehre und stellen uns gegen die NGOs und jeden, der uns diese Leute aufzwingen will“, so Eleftheroglou.
Schnell schickt er hinterher, dass man nicht vorhabe, auf Flüchtlinge zu schießen. So recht will diese Aussage aber nicht zu der Bürgerwehr passen, die er seine „Angriffstruppe“ nennt. Eleftheroglou versucht, sein Vorgehen zu rechtfertigen: „Was, wenn die hier Unruhe verbreiten oder Feuer legen? Ich habe hier keine Polizei oder Feuerwehr. Soll ich mein Dorf abbrennen lassen?“ Immerhin sei er doch hier in der Verantwortung. Und dann sagt er einen Satz, der schaudern lässt: „Ich muss tun, was getan werden muss.“

 

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