27. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Das EU-Asylrecht bleibt ein System der Unverantwortlichkeit“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags: ,

Süddeutsche Zeitung | 26.07.2017

Warum das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Flüchtlingspolitik uninspiriert, mutlos und hasenfüßig ist.

Kommentar von Heribert Prantl

Von den Dakota-Indianern stammt der Spruch: Wenn Du ein totes Pferd reitest, steig ab! Das tote Pferd ist in diesem Fall die sogenannte Dublin-Verordnung, die die Zuständigkeit für Asylverfahren in Europa regelt. Die Richter steigen aber nicht ab, sie rufen stattdessen: „Weiter so, weiter reiten.“ Sie tun so, als könne man mit der Dublin-Verordnung noch vorankommen. Fast jeder weiß, dass das nicht stimmt.

Man kann die Indianer-Weisheit in die Gegenwart übersetzen: Die Dublin-Verordnung ist dann so etwas wie der Diesel-Motor der Flüchtlingspolitik, nur noch schlimmer. Die Richter lassen ihn weiterstinken.

Die Dublin-Regeln bedeuten bekanntlich: Zuständig für die Asylprüfung und die Gewährung von Schutz ist der Staat, in dem ein Flüchtling zuerst ankommt. Das ist immer der Staat an der EU-Außengrenze. Die Richter scheren sich nicht sehr viel darum, was dort dann geschieht; sie scheren sich wenig darum, dass kleine EU-Grenzländer Hundertausende von Flüchtlingsverfahren unmöglich alleine bewältigen konnten und können. Die Richter erklären nur: Die anderen Staaten, die nach den Dublin-Regeln fein heraus sind, weil sie von einem Kranz anderer EU-Staaten umgeben sind (Deutschland zumal), dürfen ja, wenn sie mögen, den überlasteten Staaten freiwillig helfen. Anders gesagt: Solidarität ist freiwillig, Stupidität ist Trumpf.

Das Urteil des Gerichts ist ein Ausdruck von richterlichem Eskapismus: Es flieht vor der Wirklichkeit und wird den realen Anforderungen der Flüchtlingspolitik nicht gerecht. Die Richter spüren das und preisen deshalb die Freiwilligkeit und den Geist der Solidarität in der Flüchtlingspolitik. Aber ein Recht, das das Richtige zur freiwilligen Sache macht, ist ein seltsames Recht. Soll es wirklich Recht sein und bleiben, dass die Schwachen grundsätzlich und verpflichtend die schwere Last und die Starken grundsätzlich nur die leichte Last zu tragen haben?

Die Richter wissen sehr wohl, dass Griechenland und Kroatien und Bulgarien die Lasten, die die Dublin-Verordnung ihnen aufbürdet, nicht bewältigen können – auch ein so großes Land wie Italien kann das nicht. Die Richter wissen sehr wohl, wie es in einem Teil dieser Länder an der Außengrenze zugeht. Sie wissen, dass es in Griechenland, in Bulgarien, in Ungarn keinen Asylschutz gibt, der diesen Namen verdient. Deshalb sagen die Richter, dass man Flüchtlinge, die über diese Staaten nach Österreich oder Deutschland gekommen sind, nicht dorthin zurückschicken darf – wenn und weil sie dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten haben; oder weil schlicht kein System vorhanden ist, das ihnen Schutz und Hilfe geben könnte. Aber die Richter scheuen sich, aus diesen Erkenntnissen die Folgerungen für die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa zu ziehen.

Das auf den Dublin-Zuständigkeitsregeln aufbauende europäische Asylrecht ist ein System der Unverantwortlichkeit. Die Europarichter haben es versäumt, diesem System ein Ende zu setzen. Sie haben es versäumt, dieses System wenigstens deutlich zu kritisieren und neue, praktikablere und gerechtere Regeln vorzuschlagen. Sie haben es versäumt, Perspektiven für eine neue Flüchtlingspolitik aufzuzeigen. Die Richter hätten den Grundstein für eine solidarische Flüchtlingspolitik in Europa legen können. Sie haben es nicht getan. Sie überlassen die Flüchtlingspolitik und die Flüchtlinge ihrem Schicksal.

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Telepolis | 26.07.2017

Rechte von Migranten werden vom EuGH ignoriert

Mit der Stabilisierung des ins Wanken geratenen Systems von Dublin soll die Autonomie der Migration ausgebremst werden. Ein Kommentar

Peter Nowak

Gleich drei Mal gab es heute von dem europäischen Gerichtshof in Luxemburg Urteile bzw. juristische Vorentscheidungen. In zwei Fällen wurde das Recht von Migranten ignoriert, in einem Fall bekam der Kläger Recht, weil die Frist abgelaufen war.

Die am meisten diskutierte Entscheidung soll das Dubliner Flüchtlingsregime wieder ins Recht setzen, das seit Jahren von Flüchtlingsorganisationen bekämpft und von Migranten im Herbst 2015 real außer Kraft gesetzt wurde. Die als Flüchtlingskrise apostrophierte Situation im Herbst 2015 war eigentlich nichts anderes als die Ermächtigung von Migranten, sich über die Regularien hinwegzusetzen, die ohne und gegen ihren Willen gemacht wurden.

Auch die Kläger gehörten dazu. Geklagt hatte ein Syrer, der über die Westbalkanroute nach Slowenien eingereist war, sowie zwei Afghaninnen, die ebenfalls über die Westbalkanroute nach Österreich gekommen waren. Sie stellten ihre Asylanträge in Slowenien und Österreich, doch die Länder wollten die Anträge nach Kroatien übergeben, da es das erste EU-Land war, das sie während der Durchreise betreten hatten.

Die Richter des EuGH verwarfen ihre Klage und entschieden, dass sie ihren Asylantrag in dem Land stellen müssen, in dem sie zuerst den EU-Raum betreten haben, in diesem Fall war es Kroatien

Aber immer an die Fristen halten

In einem zweiten Verfahren zum Dublin-System bestimmten die Luxemburger Richter Fristen im Asylverfahren. Ein in Deutschland lebender Eritreer wehrt sich gegen seine Überstellung aus der Bundesrepublik nach Italien, wo er zuerst den EU-Raum betrat. Das Land wäre also nach dem Dublin-System für ihn zuständig.

Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aber Fristen nicht eingehalten hat, muss jetzt Deutschland über seinen Asylantrag entscheiden. Während das BAMF erst ein Jahr, nachdem der Mann seinen Antrag gestellt hatte, die Rückkehr nach Italien verlangte, hätte das bereits nach drei Monaten erfolgen müssen. Ein zentraler Passus dieses Urteil stärkt tatsächlich die Rechte von Geflüchteten:

Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn der mit der Durchführung der sich aus der Dublin III – Verordnung ergebenden Verpflichtungen betrauten Behörde ein Schriftstück zugegangen ist, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes um internationalen Schutz ersucht hat, oder , gegebenenfalls, wenn ihr nur die wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen (und nicht das Schriftstück selbst oder eine Kopie davon) zugegangen sind.
EuGH-Urteil

Klage von osteuropäischen Ländern soll abgewiesen werden

Zudem wurde heute der Antrag des Generalanwalts des EuGH bekannt, die Klage der ungarischen und slowakischen Regierung gegen die Aufnahme von Migranten abzuweisen. Beide Länder hatten sich dagegen gewehrt, dass sie der Europäische Rat durch einen Mehrheitsbeschluss zur Aufnahme von Migranten zwingen will.

In der Empfehlung zur Ablehnung der Klage sind die technokratische Begründung und strukturell rassistische Metaphern auffallend. So heißt es dort zur Begründung über die Regelung zur Verteilung der Menschen:

Dieser Mechanismus trägt wirksam und in verhältnismäßiger Weise dazu bei, dass Griechenland und Italien die Folgen der Flüchtlingskrise von 2015 bewältigen können. Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise, die im Laufe des Sommers 2015 über Europa hereinbrach, erließ der Rat der Europäischen Union einen Beschluss, um Italien und Griechenland bei der Bewältigung des massiven Zustroms von Migranten zu unterstützen. Der Beschluss sieht vor, dass 120.000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, über einen Zeitraum von zwei Jahren aus diesen beiden Mitgliedstaaten in die anderen Mitgliedstaaten der Union umgesiedelt werden.
EuGH

Das Recht der Migranten, mit zu entscheiden, in welchem Land sie leben wollen, wird nicht erwähnt. Zudem werden mit der Metapher von der Flüchtlingskrise, die im Sommer 2015 über Europa hereingebrochen sein soll, Bilder von einer Menschenflut aufgerufen, die die EU überschwemmen würde. Was hier als „Flüchtlingskrise“ apostrophiert wird, ist die Weigerung sämtlicher europäischer Regierungen, legale Einreisemöglichkeiten für Migranten einzurichten.

Dass nun besonders Italien und Griechenland von der Autonomie der Migration betroffen sind, liegt genau an dem Dubliner Regime, das der EUGH wieder stabilisieren will. Es soll verhindern, dass die Länder in Kerneuropa, vor allem Deutschland, Zielort für die Migranten werden. Deshalb wurde dieses Dubliner System auch auf wesentliche Initiative von Deutschland errichtet und wird auch von deutschen Politikern verteidigt.

Innerhalb der EU ist das Dublin-Abkommen daher sehr umstritten. Der EuGH hat sich hier auch wieder einmal zum Vollstrecker der Interessen des europäischen Hegemons Deutschland gemacht. Die Interessen der Migranten hingegen werden durch den Versuch, das längt gescheiterte Dublin-Regime wieder aufzurichten, ebenso ignoriert wie durch den Versuch, Migranten in Länder wie Ungarn und die Slowakei anzusiedeln, wo sie in der Regel nicht leben wollen.

Eine Neuauflage des Herbst 2015 könnte das Dublin-System noch mehr erschüttern

Bei der Kommentierung der heutigen Urteile wurde viel Zeit dafür aufgebracht zu erklären, dass der EuGH ausdrücklich erklärt hat, dass Länder vom Dublin-Abkommen abweichen und Geflüchtete aus anderen Ländern aufnehmen können.

Damit sollte Merkel gegen den Vorwurf von rechts verteidigt werden, sie habe im Herbst 2015 mit der Aufnahme von Migranten Recht gebrochen. Das aber die Entscheidungen die Rechte der Migranten negieren und die Menschen wie Pakete hin- und herschieben sollen, wurde kaum thematisiert. Schon wird nicht nur in rechten Kreisen vor einer Neuauflage des Herbst 2015 gewarnt. Nach diesem Szenario könnte Italien allen Migranten die Ausreise in den Norden gestatten.

Die Gründe dafür sind größtenteils ebenso rassistisch wie die der osteuropäischen Regierungen, die keine Migranten aufnehmen wollen. Doch für die Migranten wäre eine solche Regelung ein Glück, weil sie bis auf wenige Ausnahmen gar nicht in diesen Ländern leben wollen.

So könnte eine Neuauflage des Herbstes 2015 das System von Dublin, das nur den Interessen von Deutschland dient, endgültig zum Einsturz und die Rechte der Migranten wieder auf die Tagesordnung bringen. Die werden eben nicht durch Gerichte, sondern die Selbstorganisation der Betroffenen erkämpft, das machten die heutigen Entscheidungen des EuGH wieder deutlich.

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