04. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Routen ändern sich, das Geschäft mit den Menschen bleibt“ · Kategorien: Balkanroute · Tags: ,

Zeit Online | 04.07.2017

Vor einem Jahr wurde die Balkanroute faktisch geschlossen. Seither kommen weniger Flüchtlinge nach Mitteleuropa. Das Risiko steigt – und mit ihm der Gewinn der Schleuser.

Von Thomas Roser

Die Grenze zu Kroatien hat Rachid immer fest im Blick. Sie liegt nur wenige Meter von ihm entfernt, doch für den 25-jährigen Pakistani scheint sie unüberwindbar. Der Mathematiklehrer hockt im Schatten einer Birke im Durchgangslager Principovac unweit von Sid und erzählt die Geschichte seiner kostspieligen Flucht – und seines wiederholten Scheiterns.

Zu Hause in Islamabad hätten die Taliban seinen Vater und die Schwester getötet und er fühle sich „einfach nicht sicher“, sagt Rachid. Also hat er sich vor 16 Monaten nach Deutschland aufgemacht. Ob in Pakistan, Iran, der Türkei, Griechenland, Mazedonien oder Serbien – „überall habe ich für Schleuser bezahlt“, sagt Rachid mit leiser Stimme. In der Türkei sei er von seinen Schleusern so lange festgehalten worden, bis seine Angehörigen in Pakistan ihr Haus verkauft und das Geld für seine Freilassung überwiesen hätten: „Wenn man nicht bezahlt, gibt es keinen Weg zurück. Dann töten sie dich“, sagt er.

15.000 Euro habe er auf diese Weise schon verloren. Weil er kein Geld mehr habe, komme er nur noch zu Fuß und auf eigene Faust voran. „Wenn ich mir noch mehr Geld leihen würde, hätte ich nur noch mehr Probleme und würde meine Familie in noch größere Schwierigkeiten bringen“, sagt er.

Vor mehr als einem Jahr wurde der Flüchtlingskorridor der sogenannten Balkanroute offiziell abgeriegelt. Doch obwohl sich die Zahl der Transitflüchtlinge, die von der Türkei mittlerweile zumeist über Bulgarien und Serbien nach Mitteleuropa kommen, seitdem drastisch verringert hat, florieren nicht nur in Serbien die Geschäfte der Schleuser.

So spürten rumänische Grenzbeamte vergangene Woche an der Grenze zu Ungarn bei Nădlac 91 Menschen aus Syrien und Irak in einem türkischen Lkw nach Norwegen auf. Ein schwerer Unfall hatte Anfang Juni die Fahrt von 18 Afghanen, Pakistani und Syrern in der Nähe der bulgarischen Stadt Plowdiw gestoppt. Der 16-jährige Fahrer war eingeschlafen – und sein Minibus in einen Baum gerast. Neun Menschen wurden getötet. Jeweils 5.000 bis 6.000 Euro hatten die Verunglückten für die Fahrt nach Frankreich bezahlt.

Balkanroute weiter aktiv

80 bis 90 Prozent der in Österreich aufgegriffenen Migranten reisten mittlerweile über die Mittelmeerroute ein, sagt Gerald Tatzgern, Chefermittler der Spezialeinheit gegen Menschenhändler und Schleuser der österreichischen Kripo: „Doch die Balkanroute ist aktiv. Es gibt weiter Transporte und Versuche, Migranten zu schleusen.“

Mehr Zäune erschweren die Grenzpassagen und erhöhen das Risiko – aber auch Preise und Profite

Im ungarischen Kecskemét läuft derzeit ein Prozess, der detaillierte Einblicke in die Abgründe des Schleusergeschäfts gewährt. 71 Menschen waren am 26. August 2015 auf der Fahrt vom ungarischen Mórahalom in Richtung Deutschland in einem Kühlwagen qualvoll erstickt. Er solle die Leute lieber sterben lassen und in Deutschland „im Wald abladen“, so die von der Polizei abgehörte Anweisung des afghanischen Bandenchefs Samsoor L. an den bulgarischen Fahrer. Seine leblose Fracht ließ dieser schließlich auf einer Pannenbucht an der österreichischen Autobahn zurück. Die Ermittlungsakten gegen die elf Angeklagten umfassen ganze 59.000 Seiten.

Trotz drückender Beweislast waren in dem Prozess bisher keine Schuldbekenntnisse zu vernehmen. Stattdessen schieben die bisher gehörten Angeklagten ihrem Chef die alleinige Verantwortung für den Todestransport zu. Er habe Samsoor vorab gewarnt, dass der Kühllaster keineswegs für den Transport von Menschen geeignet sei, versicherte beispielsweise der Bulgare Metodi G. Doch die Einnahmen von 100.000 Euro habe sich sein Chef nicht nehmen lassen wollen: „Die Gier hat gesiegt.“

Mehr Zäune erschweren die Grenzpassagen und erhöhen das Risiko – aber auch Preise und Profite. Die Routen sind ständigen Veränderungen unterworfen, an dem Geschäftsmodell der Schleuser hat sich seit der fatalen Todesfahrt kaum etwas verändert. Als „typische Schleuserorganisation“ bezeichnet Tatzgern die Angeklagten in Kecskemét. Meist rekrutierten sich diese aus Angehörigen von Transitstaaten, doch fast immer seien auch Personen aus den Herkunftsländern der Passagiere beteiligt: „Um kommunizieren und die Transporte organisieren zu können, benötigt man Leute, die die Sprache der Migranten sprechen.“

Die Schleuser arbeiten laut Tatzgern „in drei Linien“. Die erste Linie seien die Fahrer und „Einteiler“, die in unmittelbarem Kontakt mit den Passagieren stünden. Die zweite Linie seien die sogenannten Checker, die eher punktuell Kontakt mit ihrer Klientel hätten: In Begleitfahrzeugen würden sie häufig den Ablauf des Transports überwachen – und gleichzeitig im ständigen Kontakt zu der dritten Ebene, den eigentlichen Organisatoren der Fahrten, stehen: „Das sind die Oberchecker, die wirklichen Chefs, die keinerlei Kontakt zu ihren Kunden haben.“

Der Späher ist immer eine Autobahnabfahrt voraus

Meist werden die Schleusertransporter von einem oder zwei Fahrzeugen begleitet. Das vorausfahrende Späher-Auto werde in der Regel von einem Vertrauten des „Checkers“ gesteuert, so Tatzgern. Dieser habe zu schauen, ob Kontrollen drohten: „Er fährt immer so, dass auf der Autobahn immer eine Ausfahrt zwischen dem Späher- und dem Transportfahrzeug liegt. So kann er den Lkw-Fahrer vor Kontrollen warnen und dieser rechtzeitig abfahren. Der Checker selbst fahre meist hinterher, „damit er bei Kontrollen möglichst weit weg ist“.

Das Risiko, erwischt zu werden, haben vor allem die Fahrer und Passagiere zu tragen. Lebensgefahr droht fast ausschließlich den Flüchtenden. Der Pakistaner Rachid sagt: „Schleuser sind keine guten Menschen.“ Aber er habe sein Leben retten wollen. „Darum habe ich ihnen immer bezahlt, was sie wollten.“

„Häufig sind die Flüchtlinge sich völlig selbst überlassen“

Laut Tatzgern sind die Schleuserketten „international gut durchorganisiert“. Um das Risiko zu mindern, auf halber Strecke hängengelassen zu werden, würden deren Kunden beispielsweise in Afghanistan die vereinbarte Summe mittlerweile vorab oft bei einem Treuhänder einbezahlen, die von dem sogenannten Hawaladar beim Nachweis bewältigter Teilstrecken in Raten an die Organisatoren ausbezahlt würde. Die Leute würden an Kontrollpunkten an den nächsten Schleuser übergeben, oft seien nur die Fahrer lokale Handlanger. „Die Kontrolle und Organisation liegen bei deren Hintermännern“, sagt Tatzgern.

Nach der Erfahrung von Radoš Đurović, dem Direktor des Belgrader Zentrums zur Hilfe für Asylsuchende, sind es auf der Balkanroute jedoch weniger die internationalen Schleusersysteme als die lokalen Schleuserorganisationen, die seit der Abriegelung verstärkt ins Geschäft drängen: „Häufig sind die Flüchtlinge völlig sich selbst überlassen und müssen selbst sehen, wie sie weiterkommen. Außerdem werden Schleuserketten oft unterbrochen. Damit kommen auch die lokalen Schleuser ins Geschäft.“

Systematische Prügel für die ungewollten Grenzgänger

Meist versuchten gestrandete Flüchtlinge, Verwandte zu mobilisieren, um ihnen Geld für die Weiterreise zu überweisen, sagt Đurović. Immer mehr der geschätzten 8.000 Flüchtlinge in Serbien gingen jedoch bei ihren verzweifelten Versuchen, alleine die Grenzen nach Ungarn oder Kroatien zu überqueren, lebensgefährliche Risiken ein. Bei den Versuchen, sich unter Lkw und in Eisenbahnwaggons zu verstecken, sei es bereits mehrfach zu tödlichen Unfällen gekommen. „Systematische“ Prügel, ausgeschlagene Zähne und gebrochene Rippen drohten den Grenzgängern nicht mehr nur von Ungarns berüchtigten Grenzern, sondern auch in Kroatien: „Die Zahl der Versuche der illegalen Grenzübertritte nimmt trotzdem zu.“

Ohne Geld hängt auch Rachid seit über einem halben Jahr in Serbien fest. Mehrmals versuchte er aus Verzweiflung, über die grüne Grenze nach Kroatien oder Ungarn zu kommen – was er jedes Mal bitter bereute. Bei sieben der zehn Versuche, Ungarns Grenzzaun zu überwinden, sei er von den dortigen Beamten zusammengeschlagen worden: „Sie prügelten mich mit Stöcken, Tritten und Fäusten, hetzten ihre Hunde auf mich – und nahmen mir selbst bei minus 20 Grad die Schuhe und Hosen ab.“

Bei seinen mittlerweile vier Versuchen, Kroatien zu durchqueren, sei er zwar nur einmal von der Polizei verprügelt worden. Doch nach tagelangen Fußmärschen sei er nach seinen Verhaftungen im hundert Kilometer entfernten Slavonski Brod und im 300 Kilometer entfernten Zagreb trotz seiner Bitte um Asyl sofort in einen Polizeitransporter bugsiert und an die serbische Grenze zurückgefahren worden.

Serbien sei selbst viel zu arm, um den Flüchtlingen eine Perspektive geben zu können, sagt Rachid. Europa bestehe aber doch aus „großen und reichen Nationen“, sagt er. Und fügt fragend hinzu: „Warum nehmen die uns nicht auf? Wir sind doch in Not und wir sind Menschen und keine Tiere.“

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