07. Juni 2017 · Kommentare deaktiviert für Alarm Phone: „Neue Dimensionen unterlassener Hilfeleistung“ · Kategorien: Europa, Italien, Libyen · Tags: , , , ,

ak – analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 627 / 16.5.2017

Der tödliche Graben um die Festung Europa

International Aktivist_innen von Alarm Phone über neue Dimensionen unterlassener Hilfeleistung im Mittelmeer vor Libyen

Interview: Britta Rabe

Libyen bleibt ein Land im Kriegszustand – die Nachrichten sind bestimmt von Flüchtenden als Opfer von Gewalt und Ausbeutung und gewalttätigen Interessenkonflikten lokaler Machthaber. Bislang ist es der Europäischen Union (EU) nicht gelungen, mit Libyen Vereinbarungen zur Begrenzung der Migration nach Europa zu schließen. Zeitgleich wird in den Gewässern des zentralen Mittelmeers ein vehementer Kampf um Migrationskontrolle geführt – vor der libyschen Küste und auf der Fluchtroute nach Italien. Die libysche Küstenwache hat dabei schon mehrfach Flüchtlingsschiffe und auch Boote privater Rettungsinitiativen in große Gefahr gebracht – und wird weiterhin von der EU durch deren »Grenzschutzagentur« Frontex im Aufbau unterstützt. Aktuell fordert Libyen von der EU unter anderem 130 bewaffnete Boote, um ihren eigenen Kampf gegen Flüchtende zu führen. Mitte April spitzte sich die Situation zu, als vor allem dank privater Rettungsschiffe 8.300 Menschen aus Seenot gerettet wurden. Helrich, Judith, Conni, Hagen, Maurice und Daniel sind Aktivist_innen des transnationalen Netzwerks Watch The Med Alarm Phone. Ende April gaben sie eine Einschätzung zur aktuellen Situation im Mittelmeer.

Im letzten Jahr sind über 180.000 Menschen mit Booten in Italien angekommen, die meisten aus Libyen, ein neuer Rekord. Welche Ursachen haltet ihr dafür am entscheidensten?

Maurice: Dies ist tatsächlich ein neuer Rekord. Aber trotzdem ist es im Vergleich zur Situation in der Ägäis im Jahr 2015 kein sprunghafter Anstieg. Schon 2014 haben etwa 170.000 Menschen die Überfahrt nach Italien überlebt. Auch die Annahme, das EU-Türkei-Abkommen habe zu einem Anstieg der Migration über das zentrale Mittelmeer geführt, ist mit Vorsicht zu betrachten. Sicher, diese Form der EU-Grenzstrategien beeinflussen Migrationsrouten massiv, 2016 erreichten nur noch 1.200 Syrer und Syrerinnen Italien. Bezogen auf Libyen zeigt eine Analyse der Herkunftsländer, dass es noch immer hauptsächlich Menschen aus dem subsaharischen Afrika sind, die die Route über das zentrale Mittelmeer nehmen: Nigeria, Gambia und Eritrea führen die Liste an. Die Ursachen sind eine sehr instabile Sicherheitslage, politische Unterdrückung, die Verfolgung durch den Staat und Milizen, gepaart mit extremer Armut.

In den Medien ist oft von einer hohen Zahl von Menschen zu lesen, die angeblich auf die Überfahrt nach Europa warten, gleichzeitig wird von den brutalen Verhältnissen in den libyschen Lagern und Gefängnissen berichtet. Hat sich die Situation für Flüchtende in Libyen in den letzten Jahren weiter verschärft?

Conni: Bis zum (Bürger-)Krieg ab 2011 konnte ein Teil der Migranten und Migrantinnen in Libyen einigermaßen sicher leben, arbeiten und Geld nach Hause schicken, da das Ghaddafi-Regime ein Interesse an solchen Arbeitskräften hatte. Aber auch damals gab es üble Lager, in denen Geflüchtete ohne Papiere u.a. aus Somalia interniert waren, Pogrome mit hunderten Toten und Massenabschiebungen, auch von Arbeitsmigranten, vor allem nach Westafrika. Nicht nur wegen der alltäglichen Kämpfe zwischen verschiedenen Milizen ist seitdem die Situation in Libyen insbesondere für schwarze Menschen aus Subsahara-Afrika lebensgefährlich geworden. Sie sind mit starkem Rassismus konfrontiert, fühlen sich wie Sklaven behandelt. Da inzwischen alle möglichen Leute in Libyen mangels anderer Einkommen immer brutaler versuchen, Geschäfte mit Geflüchteten zu machen, sind diese in ihrer Bewegungsfreiheit enorm eingeschränkt, tagtäglich von Razzien, Entführung, Inhaftierung, Misshandlung, Erpressung und Zwangsarbeit in menschenunwürdigen Lagern bedroht. In Interviews mit Geflüchteten ist sogar von regelmäßigen Erschießungen dort die Rede, andere sterben an Unterernährung oder Krankheiten. Ghaddafi war der ideale Gendarm der Festung Europa. Ein Unterschied zu damals ist, dass heute viel mehr Menschen von Libyen aus in die Festung Europa gelangen, aber zu einem hohen Preis, nicht nur finanziell.

Allein im Zentralen Mittelmeer sind letztes Jahr 4.750 Menschen ertrunken, gleichzeitig waren mit zwölf Schiffen die privaten Rettungsinitiativen so stark wie nie zuvor an libyschen Küste vertreten. Schiffe der italienischen Küstenwache, von FRONTEX und Eunavfor Med sind ebenfalls präsent. Wie kommt es dann zu dieser hohen Zahl an Toten?

Judith: Die hohe Zahl der Toten liegt vor allem an den Booten, die die Schlepperorganisationen in Libyen zur Verfügung stellen. Es handelt sich um Schlauchboote mit oftmals defekten Motoren, absolut nicht hochseetauglich. Zudem sind die Boote völlig überladen, so dass sie maximal 20 Seemeilen zurücklegen können. Selbst mit den vorhandenen Rettungsschiffen kann nicht das ganze Gebiet auf Sichtweite abgedeckt werden. Außerdem werden die Boote zum Beispiel von Eunavfor Med nach der Rettung zerstört. Die Schlepper in Libyen haben also keinen Grund, bessere Boote zu besorgen. Damit trägt die EU auch zum Einsatz seeuntauglicher Boote bei. Das Argument des sogenannten Pullfaktors – mehr Rettungsschiffe heißt, mehr Geflüchtete machen sich auf den Weg – wurde gerade durch eine Studie widerlegt: In Zeiten vermehrter Rettungsaktionen sind keineswegs mehr Menschen aus Libyen losgefahren.

Die EU versucht bislang vergeblich, einen »Libyen-Deal« à la Türkei zu installieren. Woran scheitern diese Vorstöße?

Helrich: In Libyen ist die Macht derart fragmentiert, dass ein solcher Deal nicht durchgesetzt werden könnte. Ein weiterer Grund ist das arrogante Vorgehen der EU-Dealer: Sie bestellen die ausgesuchten Vertreter Libyens und anderer nordafrikanischer Staaten nach Gutsherrenart mal in dieser, mal in anderer Zusammensetzung zu »Gipfeltreffen« ein und präsentieren ihnen einen fertig ausgearbeiteten Punkteplan, der unterschrieben und geheim gehalten werden soll. Aus dem algerischen Regierungsapparat wurde das am 21. März 2017 publik gemacht und zum Boykott dieser EU-Diktate aufgerufen. Auch liegt Libyen wirtschaftlich völlig am Boden. Es gibt für die Bevölkerung fast kein Bargeld mehr, das Gesundheitswesen ist zusammengebrochen. Und jetzt Rückaufnahme von Boatpeople? Die Empörung ist groß, auch in den Nachbarländern. Schließlich sind die libyschen Vertreter offensichtlich geschichtserfahrener als die EU: Frankreich und Italien haben während des Kolonialismus Internierungslager errichtet, in Algerien und Libyen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ist dort elend umgekommen. In Nordafrika muss man nicht politisch links sein, um einen antikolonialistischen Konsens wiedererstehen zu lassen. Außerdem attackiert das Projekt riesiger Internierungsstädte unter Verwaltung des globalen Nordens in Libyen die Landessouveränität und damit die eigene Macht. Als der geplante EU-Deal auf immer mehr Ablehnung stieß, arbeitete die EU den Plan einer militärischen Schiffsblockade vor der libyschen Küste aus. Der wurde von der EU-Kommission gestoppt, da er bei militärischer Eskalation die Ölinteressen europäischer Konzerne tangiert hätte.

Seit Oktober trainiert die EU eine libysche Küstenwache. Wie setzt sich diese Küstenwache zusammen und was für Effekte wird dies auf die Rettungs-Saison 2017 haben?

Daniel: Zunächst einmal gibt es gar keine staatliche libysche Küstenwache. Es gibt einzelne Einheiten, stationiert in den Häfen der Küstenstädte, die völlig autonom voneinander agieren und teilweise extrem unterschiedliche Motivationen haben. Obgleich sich die Einheit in Tripolis als Headquarter bezeichnet, ist es mitnichten so, dass sie Einfluss auf andere Einheiten an der Küste hätte. Die EU trainiert 90 Libyer. Nur eine Handvoll davon sind ausgebildete Offiziere der Marine oder ehemaligen Küstenwache. Etwa die Hälfte von ihnen kommt aus unterschiedlichsten Regionen Libyens, sie gehören unterschiedlichen Milizen an und sind teilweise selbst in die Schleuserei involviert. Sie haben fast alle Bürgerkriegserfahrung und haben in mindestens einem der beiden Bürgerkriege seit 2011 an der Waffe gekämpft und profilieren sich damit auch. Im letzten Jahr ist es zu zahlreichen Zwischenfällen zwischen Einheiten der libyschen Küstenwache und NGO-Schiffen gekommen. Teilweise wurden NGOs Zeuginnen, wie Schlauchboote von Flüchtenden angegriffen wurden, teilweise mit tödlichem Ausgang. Die meisten dieser Zwischenfälle beruhen wahrscheinlich auf Kommunikationsschwierigkeiten. Oft handelt es sich um allgemeine Kontrollen, die dann eskalieren, weil keine gemeinsame Sprache gesprochen wird, auf unterschiedlichen Seefunkkanälen gefunkt wird, oder die Ausrüstung dafür auf Küstenwachenschiffen gänzlich fehlt. Zudem sind vor allem die Einheiten der Küstenwache in Tripolitanien, dort, wo fast alle Boote in See stechen, in das Geschäft involviert. Teils schleusen sie selbst, teils fangen sie Flüchtlingsboote ab und verlangen von den Schleusernetzwerken dahinter eine Art Passiergeld. Wird das nicht bezahlt, werden die Flüchtenden gefangen genommen und in Abschiebezentren in Libyen gebracht. Im Grunde gibt es nur wenige Wege aus diesen Lagern heraus. Entweder die Gefangenen können sich eine weitere Überfahrt – organisiert durch Einheiten der Küstenwache – leisten oder sie werden verkauft oder sterben in Haft. Wenn nun Mitglieder von Küstenwacheneinheiten trainiert werden, die in das Geschäft involviert sind, dann führt das lediglich dazu, dass sie dieses professioneller und mit besserem von der EU finanziertem Equipment betreiben können. Außerdem werden die einzelnen Einheiten gegenüber der EU unter Beweis stellen müssen, wie »gut und effizient« sie ihre Hoheitsgewässer kontrollieren. Das wird zu einem Anstieg der Abfangmanöver in libyschen Gewässern führen, die extrem gefährlich für die Flüchtenden sind und für diese fast immer in den Abschiebezentren enden.

Helrich: Ich schätze, die Abfangmanöver durch die libyschen Küstenwachen liegen aktuell bei etwa 20:1, das heißt, 20 kommen durch, eine Person wird abgefangen. Derzeit ist das zentrale Mittelmeer die Lücke in der Festung Europa; die Handlungsmacht haben die Boatpeople, ganz eindeutig. Obwohl die EU von Jahr zu Jahr mehr aufrüstet, kommen immer mehr Menschen über Libyen.

Wie realistisch ist dann der zuletzt in Malta beschlossene EU-10-Punkte-Plan, der die Migration aus Libyen stoppen soll?

Miriam: Auch auf Malta wurde der immer-gleiche Wunsch-Cocktail europäischer Regierungen bei der Externalisierung des Grenzregimes beschlossen: Ausrüstung und Training für Küstenwachen, aus europäischer Perspektive designte Hilfsfonds für wirtschaftliche Entwicklung, um Fluchtgründe zu stoppen sowie Maßnahmen, um das Business-Modell der Schmuggler »auszutrocknen«. Insgesamt sollen 800 Millionen Euro dafür locker gemacht werden. Das bedeutet viel, viel Geld, was, wie seit Jahren üblich – und das ist eine Kontinuität zu Ghaddafis Zeiten – korrupte Strukturen befördert und das Verständnis der jeweils Herrschenden von Migration und Migrations-Verhinderung als Riesen-Business bestärkt. Diese Maßnahmen fördern nur die internen Machtkämpfe der verschiedenen Milizen-Fraktionen, die zum Teil selbst als Trafficker agieren. Auch in Libyen könnte sich die Situation immer mehr zu einer Art »Proxy-Bürgerkrieg« entwickeln: Frankreich, Italien, USA, Iran, Ägypten, die Golfstaaten und Russland sind schon auf unterschiedlichen Seiten involviert – selbst die EU-Länder Frankreich und Italien setzen in Libyen auf unterschiedliche »Pferde«. Daher sind die Pläne der EU in doppelter Hinsicht zynisch: Wenn Migrationsverhinderung mal wieder einer der treibenden Motoren für die Libyen-Politik ist, führt das für Migrantinnen und Migranten sowie für die libysche Bevölkerung selbst ganz sicher nicht zu konstruktivem politischem Handeln, das am Ende etwas zum Besseren bewirkt. Realistisch finde ich den Plan nicht. Aber Auswirkungen wird er haben. Daher ist eine Gegenöffentlichkeit, die genauer über die Situation in Libyen informiert, so wichtig.

FRONTEX wirft den privaten Rettungsinitiativen vor, ein »Pullfaktor« für Flüchtende zu sein. Was steckt dahinter und wie wird diesen Anschuldigungen begegnet?

Helrich: FRONTEX und Eunavfor Med sind mit ihrer Mission derart erfolglos, was die eigene Zielsetzung angeht, dass sie zunehmend von Neofaschisten angegriffen werden, nicht hart genug durchzugreifen, und beispielsweise nicht in libysche Hoheitsgewässer einzudringen, wofür ein UN-Mandat nötig wäre. Dadurch scheint eine interne Radikalisierung aufgrund ihres Versagens eingesetzt zu haben, und vor allem FRONTEX greift seit letztem Herbst zunehmend NGOs an. Dass diese einen nennenswerten Pullfaktor darstellen, ist angesichts der zahlreichen Pushfaktoren in den Staaten Subsahara-Afrikas, aber auch in Libyen selbst zu vernachlässigen. Kritiker und Kritikerinnen vergessen aber oft die Folge ihrer Kritik, denn die wäre, dass sich die NGOs zurückziehen und die Flüchtenden ertrinken lassen, da die Boote fast alle in so schlechtem Zustand sind, dass sie praktisch keine Chance haben, auch nur annähernd den Boden der Europäischen Union zu erreichen.

Daniel: Dass eine Situation wie am Osterwochenende, als mehr als 8.300 Menschen in Libyen in See stachen, bei besserem Wetter eintreten würde, war allen klar, die sich mit Libyen und Migration befassen. Dank der Einsätze der »humanitären Flotte« konnte eine Katastrophe wie in den letzten Jahren verhindert werden. Dabei mussten zwei NGO-Schiffe selbst MAYDAY aussenden, weil sie mit den Geretteten an Bord manövrierunfähig Gefahr liefen, bei aufkommendem schlechtem Wetter in Seenot zu geraten. Erstmals kamen sogar zwei zivile Kleinflugzeuge zur Überwachung und Rettungskoordination aus der Luft zum erfolgreichen Einsatz. Gleichzeitig ist mittlerweile auch offiziell dokumentiert, dass FRONTEX und Eunavfor Med an diesem Wochenende jeweils nur ein (!) von mindestens 15 zur Verfügung stehenden Schiffen zur Rettung bereitgestellt hatten. Während also die zivilen Retter »eine neue Dimension unterlassener Hilfeleistung« erleben mussten, sehen sie sich selbst einer Denunziations- und Kriminalisierungskampagne ausgesetzt, die von FRONTEX initiiert und von rechten Medien und mittlerweile auch italienischen Staatsanwaltschaften aufgegriffen wurde.

Hagen: Immerhin musste zumindest eine Pressesprecherin von FRONTEX nach der Berichterstattung über das Wochenende zurückrudern und verkündete, sie hätten nie einen Vorwurf gegen die NGOs erhoben. Dies ist auch ein Ergebnis der sehr guten Vernetzungsarbeit unter den zivilen Akteuren. Wir sollten diese öffentlichen Bündnisse festigen, um durch solchen gemeinsamen Bemühungen wie am Osterwochenende der Kriminalisierung erfolgreich zu begegnen, aber auch um neue Offensiven unsererseits zu entfalten.

Trotz der steigenden Zahl der Ertrinkenden ist in Medien und Öffentlichkeit eine Gewöhnung an derartige Unglücke zu beobachten. Wie setzt man in dieser Situation die Forderung nach legalen Fluchtwegen auf die Agenda?

Hagen: Eigentlich wäre eine offensive Fähraktion angesagt, also in einer breit getragenen Aktion zivilen Ungehorsams die Menschen an der Küste abzuholen und damit zu demonstrieren, dass niemand sein Leben riskieren müsste. Solange es solche Fähren und sichere Fluchtwege nicht gibt, müssen wir immer wieder laut und deutlich sagen: Das EU-Grenzregime tötet tagtäglich durch Ertrinken lassen! Morgen hätte das Massensterben ein Ende, wenn es legale Wege gäbe. Ohne Visazwang und FRONTEX gäbe es keine Toten und auch keine Schlepper. Wir müssen zuspitzen: der Erhalt des tödlichen Festungsgrabens ist und bleibt ein Verbrechen. Statt Abschreckung und Vorverlagerung muss Europa zu einer neuen Migrationspolitik bewegt werden und sich öffnen. Gemeinsam mit Geflüchteten müssen wir versuchen, eine andere Politik durchzusetzen.

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