06. Januar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Bootsflüchtlinge in Italien: Ein fast unbemerkter Rekord“ · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: , , , ,

Quelle: NZZ | 05.01.2017

Mehr als 180 000 Migranten sind vergangenes Jahr über das Mittelmeer nach Italien gekommen, so viele wie noch nie. Die Aufnahmezentren sind überfüllt. Ein neuer Konflikt mit der EU ist programmiert.

Andrea Spalinger, Rom

Die Ankunft von Bootsflüchtlingen in Sizilien und anderen Regionen Süditaliens sorgt weltweit kaum mehr für Schlagzeilen. Doch der Strom der Migranten, die von Libyen aus in Richtung Europa aufbrechen, lässt nicht nach. 2016 war sogar ein neues Rekordjahr. Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sind 181 436 Bootsflüchtlinge nach Italien gebracht worden. Im Vorjahr waren es 153 842 gewesen. Während in Griechenland nur noch wenige Boote ankommen, seit die EU im März ein Abkommen mit der Türkei geschlossen hat, herrscht auf dem Mittelmeer vor der libyschen Küste selbst im Winter Hochbetrieb. Die italienische Küstenwache, europäische Rettungskräfte und private Helfer retten noch immer täglich Hunderte von Menschen aus Seenot.

40 Prozent mehr Asylanträge

Während die Ankünfte um fast 20 Prozent gestiegen sind, nahmen die Asylanträge um 40 Prozent zu. Bis Ende Oktober waren es rund 100 000. Damit ist Italien (in absoluten Zahlen) hinter Deutschland in Europa auf Platz zwei aufgestiegen. In früheren Jahren waren viele Migranten untergetaucht und Richtung Nordeuropa weitergereist. Mittlerweile werden aber 95 Prozent der Ankömmlinge registriert. Gleichzeitig haben Frankreich, die Schweiz und Österreich ihre Grenzen weitgehend dichtgemacht. Das heisst, wer in Italien ankommt, bleibt hier, und die Asylgesuche werden weiter rasant steigen.

Im Gegenzug für eine konsequentere Registrierung hatte die EU Italien im Sommer 2015 versprochen, innerhalb von zwei Jahren 40 000 Asylsuchende in andere Mitgliedstaaten umzuverteilen. Doch das Programm funktioniert nicht. Bis zum 6. Dezember sind erst 1950 Flüchtlinge umverteilt worden – mickrige fünf Prozent der versprochenen Quote. Die EU-Kommission hat zwar anerkannt, dass das Dublin-System Staaten an der EU-Aussengrenze übermässig belastet und deshalb überholt werden muss. Weil die Mitgliedstaaten in der Frage zerstritten sind, hat sich in den letzten Monaten aber wenig bewegt. Ein neuer Konflikt zwischen Rom und Brüssel ist deshalb programmiert.

Zu wenig Unterkünfte

Momentan werden 175 000 Asylbewerber in Italien versorgt. Die Zahl hat sich im letzten Jahr fast verdoppelt. Nur knapp 15 Prozent der Betroffenen sind in permanenten Strukturen untergebracht, die Restlichen in Notunterkünften, die vom Staat kaum kontrolliert werden. Das Bild ist sehr durchzogen. Einige der Kooperativen, die diese Unterkünfte führen, leisten grossartige Arbeit. Andere halten Flüchtlinge in menschenunwürdigen Verhältnissen und bereichern sich schamlos an staatlichen Beiträgen. Nach dem Tod einer jungen Frau aus der Elfenbeinküste ist es diese Woche in einem überfüllten Heim in Venetien zu einer Revolte gekommen.

Italiens neuer Innenminister, Marco Minniti, hat Massnahmen an zwei Fronten angekündigt. Zum einen will er deutlich mehr permanente Plätze schaffen. Zum anderen sollen abgewiesene Asylbewerber konsequenter ausgeschafft werden. Bisher haben sich viele Bürgermeister geweigert, Aufnahmezentren einzurichten. Erst 2800 der 8000 Gemeinden haben Asylbewerber aufgenommen. Mitte Dezember hat die Regierung den Gemeinden das Versprechen abgerungen, je 2,5 Migranten pro 1000 Einwohner aufzunehmen. In Gemeinden, die weiterhin Widerstand leisten, können die Präfekten gegen deren Willen öffentliche Gebäude auswählen und Aufnahmezentren einrichten.

Viele tauchen in die Illegalität ab

Nach Italien kommen vor allem Migranten aus Afrika, vorwiegend aus Nigeria, Eritrea, Guinea, Gambia, Sudan und Somalia. Viele von ihnen sind glaubwürdige Asylfälle, so etwa nigerianische Opfer von Boko Haram oder politisch verfolgte Eritreer. Viele sind aber Wirtschaftsflüchtlinge, die keinen Anspruch auf humanitären Schutz haben. Zwischen Januar und Oktober 2016 sind in Italien 62 Prozent der 75 000 Asylentscheide negativ ausgefallen. Die Hälfte der Antragsteller erhebt Einspruch, und die Verfahren dauern weitere zwei bis vier Jahre. Nach der letzten Instanz bekommen die Betroffenen einen Ausweisungsbescheid und müssten innert Tagen ausreisen. Die meisten tauchen dann aber in die Illegalität ab.

Das Asylsystem kann nur funktionieren, wenn jene, die abgewiesen werden, auch zurückgeführt werden. Doch das ist alles andere als einfach. Offizielle Zahlen sind schwer zu finden. Laut dem Bericht einer Senatskommission sind von Januar bis Anfang Oktober 2016 nur 876 Ausländer zurückgeschafft worden. Rückführungen sind nicht nur kostspielig, sondern in vielen Fällen ganz unmöglich. Italien hat bisher nur mit Tunesien, Ägypten und Nigeria entsprechende Abkommen geschlossen, und selbst Rückführungen in diese Staaten gestalten sich schwierig. Die anderen Länder weigern sich schlicht, ihre Staatsbürger zurückzunehmen.

Feilschen um Rückführungen

Nächste Woche besucht Innenminister Minniti verschiedene afrikanische Staaten, um über neue Rückführungsabkommen im Tausch für Entwicklungshilfe zu verhandeln. Ähnliche Bemühungen laufen derzeit auch auf EU-Ebene. Bis solche Massnahmen Erfolg zeitigen, dürfte es aber einige Zeit dauern. Deshalb trifft Minniti während seiner Reise auch den libyschen Regierungschef, mit dem er über eine Vertiefung der Kooperation im Kampf gegen Schleuser sprechen will. Rom will im Gegenzug Fahrzeuge und Patrouillenboote liefern und der libyschen Küstenwache bei der Ausbildung von Beamten helfen.

Laut offiziellen Angaben hielten sich 2016 etwa 40 000 Personen illegal in Italien auf. In Wirklichkeit dürften es deutlich mehr sein. Landesweit gibt es derzeit nur vier Ausschaffungszentren mit 359 Plätzen. Innenminister Minniti hat nun angeordnet, dass zurückgewiesene Asylbewerber konsequenter überwacht werden. In Rom fürchtet man nicht zuletzt, dass in dem Heer von Illegalen auch Terroristen untertauchen könnten. In jeder Region soll deshalb mindestens ein Ausschaffungszentrum eingerichtet werden.

Abschiebehaft umstritten

Der Chef der oppositionellen Fünf-Sterne-Bewegung, Beppe Grillo, hat den Plan vehement kritisiert. Solche Zentren seien eine Geldverschwendung und würden die Ausschaffung nur verlangsamen, schreibt er in seinem Blog. «Falsche Flüchtlinge» sollten vielmehr innert weniger Tage ausgeschafft werden. Dass dies völlig unrealistisch ist, interessiert den Populisten nicht.

Doch auch in der linken Regierungspartei regt sich Widerstand gegen die geplanten Ausschaffungszentren. Es sei nicht nur logistisch schwierig, sondern auch rechtlich höchst fragwürdig, Zehntausende von zurückgewiesenen Asylbewerbern über längere Zeit hinweg einzusperren, argumentieren einige Politiker. Wenigstens im Fall von Migranten, die Arbeit gefunden und sich integriert hätten, müsse der Staat ein Auge zudrücken und Aufenthaltsbewilligungen erteilen.

Kommentare geschlossen.