28. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Dublin-Abkommen: Rückwärts entlang der Balkanroute“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Österreich · Tags:

Quelle: Frankfurter Rundschau

Der Attentäter von Ansbach sollte wie viele andere Flüchtlinge abgeschoben werden. Doch das dahinter stehende Dublin-Abkommen scheint nicht mehr anwendbar.

Norbert Mappes-Niediek

Nach zwei Monaten in Graz malt Maram wieder Häuser, Bäume, ab und zu einen toten Vogel. „Das macht die Therapie“, meint ihre Mutter Tawhid. Als die stille kleine Malerin mit den großen Augen nach Österreich kam, hatte sie nur grässliche Szenen im Repertoire. Bilder mit viel Blut malte die Elfjährige seit jenem Tag in Raqqa, als sie für ihren Papa Zigaretten holen sollte. Sie trat aus der Haustür und fand einen Kopf auf der Schwelle.

„Maram hatte da schon ihren Onkel sterben sehen“, erzählt in einem Grazer Café ihr Vater Shadi Aloar, 36. Das war noch in Homs, der heute unbewohnbaren Heimatstadt der Familie im Süden Syriens. Als dann in Raqqa der IS Einzug hielt, erwies sich der Zufluchtsort als ungeeignet. Die Familie schaffte es an die türkische Grenze. Dort ein paar Wochen im Lager, dann Flucht über die Berge. Nach einem Monat in Antalya fand sich ein Schlauchboot, das Maram, die Eltern, ihre Schwester Rama (10) und ihren Bruder Aghiad (7) für 1300 Dollar pro Person auf eine
griechische Insel brachte.

Balkanroute rückwärts

Zwar erreichten die Aloars nach wenigen Tagen über die Balkanroute am 13. Februar die österreichische Grenze. Ankunft aber war es keine. In den nächsten Tagen wird die Odyssee sich fortsetzen, rückwärts – nach Slowenien, danach vielleicht nach Kroatien und am Ende nach Griechenland. Ob und wann das Ganze ein Ende hat, steht in den Sternen. „Jeden Moment kann die Polizei kommen“, sagt Tawhid, die Mutter. „Maram schlägt sich schon wieder selbst, wie zuletzt an der Grenze. Sie will in den Fluss gehen, hat sie gesagt.“

Das Schicksal der Familie Aloar beruht auf keiner Gesetzeslücke. Betroffen ist ein wachsender Teil der Flüchtlinge, nicht allein traumatisierte Mädchen: Ein Beispiel ist der 27-jährige Selbstmordattentäter von Ansbach, der nach Bulgarien abgeschoben werden sollte, aber nicht konnte.

Geht es nach der EU-Kommission und den europäischen Regierungen, wird das Herumschieben von Flüchtlingen den Behörden in Europa demnächst zur Pflicht gemacht. Gleich nach der Sommerpause der Parlamente soll ein europäisches Asylrecht Mitleid und Verständnis für Härtefälle vertraglich ausschließen. Österreich geht voran, Deutschland versteckt sich lieber hinter der Kommission – ein schon bewährtes Muster.

Rechtsgrundlage für die Aktion „Balkanroute rückwärts“ ist ein schon totgesagter Vertrag zwischen den EU- und vier weiteren europäischen Staaten: das Dublin-Übereinkommen. Danach ist jener Staat für einen Asylantrag zuständig, über den ein Flüchtling „illegal“ eingereist ist. Geht es um die Flüchtlinge des letzten Jahres, ist das in den meisten Fällen Griechenland. Weil der Europäische Gerichtshof Griechenlands Asylsystem aber für untauglich befunden hat, wird niemand dorthin zurückgeschickt: Deutschland verlängert ein entsprechendes Moratorium in immer kürzeren Abständen, neuerdings halbjährlich.

Dublin-Land Nummer 2 auf der Balkanroute war zuerst Ungarn. Als dessen Premier Viktor Orbán im letzten September die Grenzen schloss und der Strom versiegte, rückte Kroatien auf die Position 2, Slowenien auf die Nummer 3. Ehe Österreichs oder gar Deutschlands Behörden zuständig werden, sind zunächst die kleinen Staaten im Südosten an der Reihe. Alle, für die Slowenien und Kroatien zuständig seien, würden „an diese Mitgliedsstaaten überstellt“, versichert ein Sprecher des Berliner Innenministeriums, denn die Dublin-Verordnung gelte „für alle in der EU gestellten Asylanträge“. Deutschland, Ziel der meisten Flüchtlinge, hatte Dublin im Herbst nur für einen Monat „ausgesetzt“, und das auch nur für Syrer.

Theoretisch könnte Berlin also alle, die im Herbst und Winter über die Balkanroute gekommen sind, zurückschicken. Österreich macht damit tatsächlich ernst: Mehr als 1800 namentlich genannte Flüchtlinge sollten seit Januar nach Kroatien „rücküberstellt“ werden sein, fast vier Mal so viele wie im gesamten Vorjahr. Vorige Woche schickte Wien einen Armee-Hubschrauber mit 14 Afghanen, Iranern und Pakistani nach Bulgarien. Innenminister Wolfgang Sobotka verhandelt mit Ungarn über die Übernahme von Flüchtlingen, die von dort nach Österreich eingereist sind.

Zwar glaubt niemand, dass Deutschland wirklich alle Balkanrouten-Flüchtlinge ins 20 Mal kleinere Kroatien, ins zehn Mal kleinere Österreich oder gar ins 40 Mal kleinere Slowenien zurückschicken will. „Aber es gehen Angst und Schrecken um“, sagt Volker Maria Hügel von „Pro Asyl“. Seine österreichische Kollegin Amy Knapp von der Wiener „Asylkoordination“ vermutet, man wolle Unruhe verbreiten: „Alle sollen glauben: Hier ist unser Status nicht sicher“ – und möglichst viele sollen deshalb lieber in Syrien bleiben.

Knapp hält die ganze Route-rückwärts-Aktion für rechtswidrig. Zuständig, so Knapp, sind Slowenien und Kroatien nur für illegal eingereiste Asylbewerber. „Die Einreisen auf der Balkanroute zwischen Oktober 2015 und März 2016 waren aber gar nicht illegal“, argumentiert sie. „Die Menschen wurden behördlich ins Land gelassen und transportiert.“ Zuständig wären danach nicht Kroatien und Slowenien, sondern Österreich und Deutschland.

Gerichte stoppen häufig Abschiebungen

Tatsächlich muss kaum jemand zurück in ein südöstliches EU-Land. Im ganzen ersten Halbjahr wurden nach Slowenien und Kroatien je zwei Flüchtlinge „rücküberstellt“, wie es auf Amtsdeutsch heißt. In Deutschland stoppen häufig schon Gerichte die Abschiebungen, vor allem die ins feindselige Ungarn, aber auch die ins kaum bessere Bulgarien.

Entsprechende Ambitionen der Österreicher scheitern meist an den Kosten, der Bürokratie oder der Obstruktion der Aufnahmeländer. Ungarn etwa nimmt pro Woche aus dem gesamten Schengen-Raum nur 18 Personen auf – von montags bis donnerstags. Kroatien wiederum antwortet auf Rückübernahmeersuchen kaum. Zwar wird das Land nach einer Zweimonatsfrist dann trotzdem automatisch zuständig. Technisch kann die Übernahme aber nur funktionieren, wenn die kroatische Grenzpolizei mit den österreichischen oder deutschen Kollegen einen Termin vereinbart. Hat die Überstellung sechs Monate lang nicht geklappt, darf der Flüchtling bleiben, wo er ist.

Diese Frist soll nach dem Willen der Kommission nun fallen. Pro Asyl fürchtet „dramatische Folgen für den Flüchtlingsschutz“. Ist Deutschland oder Österreich im Fall eines Asylbewerbers „nicht zuständig“, kann es sich künftig auch nicht für zuständig erklären. Der Flüchtling hat dann in seinem Zufluchtsland auch auf Dauer keinen Zugang zum Asylverfahren – und hängt auf unbestimmte Zeit zwischen Baum und Borke. Integration, Arbeitserlaubnis, Sprachkurse,Trauma-Therapie, alles das ist aufgeschoben bis zur „Klärung“ – die in den meisten Fällen nie kommen wird.

Die Bilder im Kopf des elfjährigen Mädchens aus Homs tun nichts zur Sache. Behörden haben keinen Spielraum mehr, Zuständigkeit geht vor. Ein hilfsbereites Land wird vertragsbrüchig.

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