19. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge: Die Inseln der Unseligen“ · Kategorien: Österreich · Tags: ,

Quelle: Zeit Online

Wohin mit all den Flüchtlingen? Österreichische Politiker haben da so ihre eigenen Vorstellungen. Ihrer Fantasie sind dabei keine Grenzen mehr gesetzt. Unsere Autorin Anna Kim wagt einen Blick in eine grimmige Zukunft.

Von Anna Kim

Vorbild Australien: Vor einem Monat überraschte Außenminister Sebastian Kurz mit dem tatsächlich ernst gemeinten Vorschlag, die EU solle sich ein Vorbild an dem fünften Kontinent nehmen. „Wir müssen ein völlig neues Asylmodell schaffen“, meinte er. „Das erfordert auch die Änderungen bestehender Bestimmungen.“ Das Modell aus Down Under sieht vor, dass Flüchtlinge gar nicht mehr australisches Festland betreten dürfen, sondern in Zentren auf vorgelagerten Inseln gepfercht werden. Lässt sich diese Praxis auf europäischen Maßstab kopieren? Warum nicht?

Wir schreiben die nicht so ferne Zukunft. Ein paar Jahre sind seit dem Brexit vergangen, und das britische Empire ist endgültig keines mehr. Nachdem Schottland für die Unabhängigkeit stimmte, schloss sich Nordirland der Republik Irland an. Schließlich zerfiel auch das Commonwealth of Nations, das sich von einem dezimierten Großbritannien ohne EU-Mitgliedschaft keine Vorteile mehr versprach.

Die Flüchtlingskrise, die nunmehr als Problem der ungeordneten Migration bezeichnet wurde, ist auf humanitäre Weise gelöst worden. Die massiven Migrationsbewegungen aus Gambia, Eritrea und dem Senegal konnten abgewehrt werden. Die Rechtspopulisten Europas, allen voran Norbert Hofer in seiner Rolle als österreichischer Präsident (mit deutlich erweiterten Befugnissen) und Marine Le Pen als Präsidentin Frankreichs, sind im Begriff, die EU in ein reines Wirtschafts- und Sicherheitsbündnis mit eingeschränktem Personenverkehr zu verwandeln. Sie sorgen dafür, dass die von Außenminister Kurz ausgerufenen und von etlichen EU-Staaten in solidarischem Einverständnis vollzogenen Grenzschließungen selbst in jenen Mitgliedsländern nicht mehr hinterfragt werden, die es sich zumindest theoretisch vorgenommen hatten, die Genfer Flüchtlingskonvention zu achten.

In einer Geheimkonferenz mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras erarbeitet Kurz – neuerdings als Mitglied der FPÖ – zudem einen Rettungsplan, der Griechenland, das noch immer an den Folgen der Bankensanierung leidet, wirtschaftlich auf die Beine helfen soll: Er schlägt vor, die touristisch weniger beliebten und belebten griechischen Inseln zu mieten und auf ihnen jene Flüchtlinge unterzubringen, welche die Union laut Türkei-, Libyen- und Ägypten-Abkommen aufnehmen muss. Der Mietvertrag der Inseln ist auf zwanzig Jahre befristet, nach Ablauf dieser Zeit muss neu verhandelt werden. Polen, Ungarn, Rumänien, die Tschechische Republik, Slowakei, Litauen, Lettland, Estland, Dänemark, die Niederlande und sogar Schweden sind der Ansicht, dass es sich dabei um einen wirksamen Plan handelt.

Die Flüchtlinge stellen sich dem Boulevard vor, die Leser entscheiden, wer bleiben darf

Die restlichen EU-Staaten geben sich zweifelnd, sind aber insgeheim erleichtert (allen voran Finnland, wo die Wahren Finnen die stärkste Partei geworden sind), da sie meinen, zwei Krisen auf einen Schlag gelöst zu haben. Die Bewohner der unbeliebten griechischen Inseln wehren sich gegen die Maßnahme, es kommt zu Demonstrationen, sogar zu gewalttätigen Übergriffen, doch letztlich kann sich die griechische Regierung durchsetzen, die Rebellen einfangen und nach Athen überstellen, wo sie ihren Unmut im Gefängnis ausleben.

Die Inseln müssen gerodet werden, damit alle Flüchtlinge, die sich legal in Europa aufhalten, auf ihnen untergebracht werden können. Unter den neuen Wohnhäusern gibt es keines, das weniger als zwanzig Stockwerke hat. Die Wohnungen sind Einheiten von maximal 50 Quadratmetern, in denen nicht mehr als fünf Personen leben dürfen. Familien, die diese Anzahl überschreiten, werden getrennt. Jede Wohneinheit ist mit Überwachungskameras und Abhöranlagen ausgestattet, jedem Einwohner werden die Finger- und Handabdrücke abgenommen, außerdem wird ein Ganzkörperscan durchgeführt. All diese Daten werden in eine Datenbank eingespeist, auf die verbündete Geheimdienstorganisationen überall auf der Welt Zugriff haben. Man verspricht sich davon eine wirksame Maßnahme gegen den Terror. Der Protest gegen diese Form der Kriminalisierung Unschuldiger ist minimal, es gibt lediglich ein paar Unterschriftenlisten, die im Netz kursieren. Die Angst, dass es sich bei den aufgenommenen Menschen um getarnte Terroristen handeln könnte, ist in den letzten Jahren überproportional gewachsen. Sie wird vor allem vom neuen Präsidenten der EU-Kommission Geert Wilders geschürt, der seine Position dem mächtigen Rechtsruck in Europa verdankt, den die Wahl von Norbert Hofer zum Bundespräsidenten ausgelöst hatte.

Alle fünf Jahre zum „Flüchtlingscasting“

Jeder Inselbewohner darf für ein Minimum von einem, maximal jedoch fünf Jahre lang Flüchtling sein, danach muss er sich erneut einem mehrstufigen Verfahren stellen. Von Gegnern wie Befürwortern wird dies „Flüchtlingscasting“ genannt; die Anfrage eines niederländischen Privatfernsehsenders, diese Auswahlprozedur als Reality-TV-Show aufzubereiten, liegt bereits vor. Tatsächlich erweckt die Selektion der zukünftigen Flüchtlinge großes Interesse, Zeitungen wie die Krone oder Bild geben viermal im Jahr eine eigene Beilage heraus, in der die Flüchtlingsanwärterinnen und -anwärter mit Foto, Lebenslauf und einem kurzen Bewerbungszitat vorgestellt werden. Petitionen geben oft den Ausschlag, bestimmte Anwärter aufzunehmen und andere abzulehnen.

Bürger mit Migrationshintergrund werden abgeschoben und erst dann abgeurteilt

Wurde der Antragsteller von einem der neun Asyl- und Migrationszentren der EU auf eine Flüchtlingsinsel überführt, erhält er einerseits Schutz. Die Abnahme der Finger- und Handabdrücke sowie des Ganzkörperscans sind auch zu seiner eigenen Sicherheit, und bei einem Vergehen, auch bei einem kleinen, droht dem Schuldigen die sofortige Abschiebung. Andererseits wird ihm Bildung angeboten: Die Lehrer an den Inselschulen werden zu 30 Prozent aus den Reihen der Flüchtlinge gestellt, der Rest setzt sich aus freiwilligen Europäern zusammen, die ihren Schützlingen Demokratie, Menschenrechte und Sprachen (Englisch, Deutsch und Französisch) beibringen sollen. Praktisch jeder Flüchtling ist zweisprachig; das einst EU-weite Ziel der Mehrsprachigkeit ist zumindest auf den Flüchtlingsinseln verwirklicht.

Als Überraschungserfolg hat sich ein Arbeitsprogramm erwiesen, das ursprünglich nur den Inselaufenthalt für anerkannte Flüchtlinge attraktiver machen sollte: Das Ziel der Aktion war es gewesen, die Zeit als Schutzbedürftiger nicht mit Warten zu vergeuden, sondern mit einer sinnvollen Tätigkeit aufzuwerten und zugleich das monatliche Sozialgeld aufzubessern. Schon bald wurde deutlich, dass sowohl das Zusammenleben als auch die kleinen und mittleren Betriebe, welche die griechischen Inseln nicht verlassen konnten, von der Atmosphäre der Betriebsamkeit und Strebsamkeit, die sich durch diese Maßnahme auf den Inseln ausbreiteten, profitierten. Inzwischen sind die Flüchtlingsinseln wegen der Billigarbeitskräfte zu einem äußerst beliebten Wirtschaftsstandort geworden.

Textildiscounter lassen ihre Kleider und Schuhe nicht mehr in Bangladesch, Myanmar oder Äthiopien herstellen, sondern auf den griechischen Inseln, da diese politisch stabiler sind und zudem durch den Euro an eine Weltwährung gebunden sind. Es existieren auch vereinzelt kleine Fair-Trade-Werkstätten; deren Waren sind (mit einem entsprechenden Gütesiegel versehen) für den Verkauf in Europa gedacht.

Seit die Wirtschaft Griechenlands durch die Vermietung der Flüchtlingsinseln beziehungsweise den Einsatz der Billigarbeitskräfte rapide gewachsen ist, haben britische Politiker und Investoren ebenfalls Interesse angemeldet. Sie ziehen es in Erwägung, die spärlich besiedelten Teile von Wales – im Extremfall käme sogar ganz Wales infrage – der EU als Flüchtlingsinsel zu vermieten. Daran geknüpft ist die Bedingung, dass sie die legalen Migranten in ihren eigenen Betrieben als Billigarbeitskräfte anstellen dürfen.

Zu diesem Zweck wurden bereits Überlegungen angestellt, wohin und wie man die walisische Bevölkerung umsiedeln könnte. Eine zeitweilige Unterbringung in Schottland wurde vom sezessionistischen Nachbarn jedoch abgelehnt, Irland hingegen zeigte sich einsichtig, eine dritte Bevölkerungsgruppe könnte zwischen den Unruhen, die in Nordirland seit der Wiedervereinigung mit der Republik Irland nicht verebben wollen, vermitteln.

Die Asyl- und Migrationszentren, die in den letzten Jahren an der nordafrikanischen Küste errichtet wurden, funktionieren tadellos. Mit ihrer Hilfe konnte man die Schlepper besiegen, die Völkerwanderung eindämmen, kurz: selbst entscheiden, wer nach Europa kommen darf und wer nicht. Die Win-win-Situation, die Sebastian Kurz prophezeit hatte, ist eingetroffen: Die Abkommen, die mit den jeweiligen Staaten abgeschlossen wurden, haben ihnen und Europa zu mehr Sicherheit, Stabilität und Stärke verholfen. Zudem hat sich ein weiterer praktischer Nutzen der Asyl- und Migrationszentren offenbart: als Abschiebeorte für vormals eingebürgerte, nunmehr staatenlose Staatsbürger der jeweiligen EU-Länder. „Resettlement“, das Lieblingswort des österreichischen Außenministers, ist zu einer Paradelösung für ausländische Verbrecher und Verdächtige geworden, nicht selten werden migrantische EU-Bürger zuerst abgeschoben und dann erst abgeurteilt.

Die Existenz von Migrantinnen und Migranten, selbst wenn sie sich legal in Europa aufhalten, ist zu einer Zumutung geworden: Multikulturalismus wird als Gefahr gesehen, und diejenigen, die fremde Kulturen in Städte und Dörfer bringen, als Belästigung, der einzig mit Abschiebung beizukommen ist. In vielen europäischen Ländern sind ausschließlich erwünschte Einwanderer anzutreffen: Akademiker und höhere Angestellte, von denen man weiß, dass sie sich an diesem Ort nicht dauerhaft niederlassen werden. Mit ihnen zu verkehren, kommt den meisten so ähnlich vor, wie in einem außereuropäischen Land Urlaub zu machen.

Der Migrant ist in dieser Zukunft eine aussterbende Gattung. Eines Tages wird man sich fragen, was das eigentlich war, ein Migrant. Und was war das für eine vollkommen absurde Idee, in einem anderen Land leben zu wollen?

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