12. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „Perfider Plan des erzwungenen Bevölkerungsaustausches für Machterhalt der AKP?“ · Kategorien: Syrien, Türkei

Quelle: Telepolis

Türkische Regierung vertuscht Verbrechen im Südosten des Landes und will Hunderttausende syrischer Flüchtlinge einbürgern – streng nach Nutzen selektiert


Florian Rötzer

Die türkische Regierung lässt weiterhin keine Untersuchung von unabhängigen Beobachtern über die mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen, Tötungen von unbewaffneten Zivilisten und Zerstörungen ganzer Stadtteile seitens der türkischen Sicherheitskräfte beim Kampf gegen die PKK in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosttürkei zu. Noch immer hat Ankara nicht auf die Aufforderung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, vom 10. Mai geantwortet, unabhängigen Untersuchern, auch von der UNO, ungehinderten Zutritt in die Gebiete zu gewähren.

Offenbar üben weder die USA, noch die EU oder gar Deutschland Druck auf die Türkei aus, um eigene Interessen nicht zu gefährden. So werden das Flüchtlingsabkommen, d.h. die Abwehr der Flüchtlinge v.a. aus den Kriegsgebieten Afghanistan, Syrien und Irak, oder der Krieg gegen den IS, für den man den Luftwaffenstützpunkt in Incirlik sowie die Kooperation der Türkei benötigt, mit der Duldung von mutmaßlichen schweren Menschenrechtsverletzungen und neuen Vertreibungen bezahlt.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fordert in einem neuen Bericht nun die internationalen Partner auf, Druck auf die Türkei auszuüben, damit glaubwürdig belegte Vorwürfe überprüft und Verantwortliche belangt werden können, zudem wird gefordert, dass Menschenrechtsgruppen in die Gebiete einreisen dürfen, um die Vorkommnisse zu dokumentieren. Kaum denkbar, dass die türkische Regierung darauf reagieren wird, erst vor kurzem wurde ein Gesetz erlassen, dass den türkischen Sicherheitskräften im Kampf gegen den Terror auch rückwirkend Immunität zusichert.

Human Rights Watch wiederholt die Vorwürfe, die schon lange erhoben werden. Seit Juli 2015, als der Kriegszug gegen die PKK im Nordirak und im Südosten der Türkei begonnen wurde, kam es mit den Verhängungen von Ausgangssperren über ganze Städte wie Cizre und Stadtviertel, die auch dem Zweck dienten, Beobachter fernzuhalten, immer wieder zu Tötungen von Zivilisten, erzwungenen Umsiedlungen und Vertreibungen und weitläufigen Zerstörungen von Häusern. Nach glaubwürdigen Berichten wurden auch Zivilisten erschossen, die mit weißen Fahnen auf Straßen gingen, zudem hätten Sicherheitskräfte drei Gebäude umringt und in den Kellerräumen 130 unbewaffnete Zivilisten und verletzte Kämpfer getötet.

Emma Sinclair-Webb, bei HRW zuständig für die Türkei, spricht von einer „Blockade“, die den Verdacht einer „großen Vertuschung“ erweckt. Mindestens 338 Zivilisten seien an Orten getötet worden, wo es Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften und den kurdischen Selbstverteidigungskräften YPS, bestehend aus Jugendlichen, gegeben hat. Die PKK hat sich nach eigenen Angaben zurückgehalten und den YPS auch keine Waffen und Munition gegeben. Es seien auch an Orten, wo es keine Kämpfe mit den YPS und keine Barrikaden oder Gräben gegeben hat, Zivilisten getötet worden. Mehr als 330.000 Menschen seien zumindest zeitweise vertrieben worden. Hunderte von Politikern und 18 Bürgermeister wurden inhaftiert.

HRW selbst hat den Tod von 66 Zivilisten untersucht und den von 8 Zivilisten im September 2015 in Cizre und von weiteren 8 im April, darunter ein dreijähriges Kind und zwei Kinder mit 11 und 13 Jahren, dokumentiert, bis die Antiterrorabteilung der Polizei Gespräche mit Zeugen und Familienangehörigen der Opfer unterband. HRW moniert, dass rechtlich Gespräche mit Zeugen und Betroffenen nicht genehmigt werden müssten. Die Tötungen erfolgten nicht im Kontext von Kämpfen, betont die Menschenrechtsorganisation.

Unklarheit herrscht, was im Südosten vor sich geht und wie viele Tote es wirklich gegeben hat. Die Angaben gehen weit auseinander. Das türkische Militär sprach im Mai davon, dass 6.623 „Terroristen“ ausgeschaltet wurden („rendered ineffective“), 4.571 davon seien getötet worden. Nach Medienberichten seien bislang 450 Soldaten und Polizisten getötet worden. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei geht bis Ende April von mindestens 338 getöteten Zivilisten aus. 76 Opfer gehen auch zu Lasten der PKK, wenn man die Terroranschläge der TAK (Kurdische Freiheitsfalken) zur PKK rechnet.

Elke Dangeleit hatte bereits berichtet, dass im Hintergrund des Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte und der damit verbundenen Vertuschungsbemühungen das Ziel darin bestehen dürfte, die Bevölkerungsstruktur im Südosten durch Vertreibungen und Umsiedlungen zugunsten der AKP zu verändern (Erdogan sucht neue Wahlbürger). Den Verdacht äußern nicht nur Politiker der HDP, sondern auch der übrigen Oppositionsparteien.

Ein Schachzug in dem Plan wäre ein zynisches Spiel mit syrischen Flüchtlingen. Präsident Erdogan hatte bereits am 2. Juli die Möglichkeit aufgebracht, dass die Türkei syrische Flüchtlinge einbürgern könnte. Gestern deutete der türkische Vizeregierungschef Numan Kurtulmuş weitere Einhelheiten des Plans an, der gerade ausgearbeitet wird.

Bei der Aufnahme soll streng selektiert werden. Die Syrer müssen eine weiße Weste haben, dürfen nicht mit dem Terrorismus verbunden gewesen sein, was immer das näher heißen mag, und sollen eine „Brücke zwischen Syrien und Türkei“ bilden, also Syrien an die Türkei binden. Zudem müssen sie auch sonst für die Türkei nützlich sind. Gefragt sind „hochqualifizierte Menschen mit wichtigen beruflichen Fähigkeiten und einem breiten Wissen“. Das für die Aufnahme zuständige Innenministerium habe aber die Einbürgerungskriterien und -prozeduren noch nicht abgeschlossen.

Während von der CHP, der größten Oppositionspartei, die Selektion kritisiert wurden, nur denen helfen und die Staatsbürgerschaft andienen zu wollen, die gut gebildet und nützlich sind, spricht die nationalistische MHP von „politischem Populismus“. Syrer würden damit abgehalten, nach Syrien zurückzukehren, allein um der AKP neue Wähler zu verschaffen. Und die HDP warnte, dass eine solche Maßnahme in dem Land, in dem sich bereits 3 Millionen Syrer aufhalten, zu Konflikten und Ablehnung führen könne.

Tatsächlich war es in der anatolischen Provinz Konya am Samstag zu einem blutigen Streit zwischen Türken und Syrern gekommen, bei dem zwei Menschen starben und drei verletzt wurden. Kurtulmuş versuchte den Vorfall herunterzuspielen und bezeichnete ihn als lediglich lokales Ereignis. Die Absicht, 300.000 Syrer einzubürgern, wie Medien berichten, würden nach ihm „keine Fremdenfeindlichkeit und keinen Rassismus“ auslösen. Am Sonntag kam es zu Protesten gegen die Anwesenheit von syrischen Flüchtlingen in der Provinz Şanlıurfa im Südosten. Die Menschen waren aufgebracht, weil sie der Überzeugung waren, dass ein junger Mann von syrischen Flüchtlingen angegriffen und mit einem Messer verletzt worden sei.

Wenn die Syrer aber in den zerstörten Stadtvierteln im Südosten der Türkei, wo die meist kurdische Bevölkerung vertrieben wurde, angesiedelt werden sollten, sind weitere Konflikte programmiert. Schließlich sollen die Viertel im Rahmen von staatlichen Programmen wiederaufgebaut werden. Würde man hier Syrer zwischen den Kurden ansiedeln, dann könnte man nicht nur politisch die Kurden zur Minderheit machen und damit verhindern, dass sich bei Wahlen kurdische Kandidaten durchsetzen, sondern man würde auch die Verbindungen zwischen den Kurden in der Türkei und den syrischen Kurden schwächen und die Grenzregion im Sinne der Türkei sicherer machen, d.h. den kurdischen Widerstand ebenso schwächen wie das von Kurden in Syrien kontrollierte Gebiet Royava, das zudem ein multiethnisches und multikulturelles demokratisches Projekt ist – ein Gegenmodell zum IS und den anderen syrischen Islamisten, aber auch zur Islamisierung der Türkei durch Erdogan.

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