07. Juli 2016 · Kommentare deaktiviert für „EU-Flüchtlingsabwehr: In Libyen werden Flüchtlinge willkürlich ermordet, gefoltert und vergewaltigt“ · Kategorien: Europa, Libyen

Quelle: Telepolis

Ein Bericht von Human Rights Watch macht deutlich, was passiert, wenn Flüchtlinge auf dem Mittelmeer von der libyschen Küstenwache abgefangen und in Lager in Libyen eingesperrt werden

Florian Rötzer

Im Juni hatte die EU beschlossen, dass die EUNAVFOR MED Operation Sophia im Mittelmeer, die Schleuser bekämpfen und gegen Boote vorgehen kann, die von Schleusern benutzt werden, erweitert wird. Die Operation wurde bis Ende Juli 2017 verlängert, weil man befürchtet, dass nach der Blockierung der Balkanroute, mit der Ausbreitung des IS in Libyen und mit dem Sommer wieder mehr Flüchtlinge die Mittelmeerroute wählen könnten.

Im Rahmen von Sophia will man aber auch die libysche Küstenwache und Marine ausbilden, die anstelle Boote in internationalen Gewässern abfangen sollen, die verdächtigt werden, Waffen in die Region zu schicken. Damit soll das UN-Waffenembargo besser durchgesetzt werden. Im Juni hatte der UN-Sicherheitsrat eine von Frankreich und Großbritannien eingebrachte Resolution gebilligt, nach der Schiffe der Sophia-Operation Schiffe von Waffenschmugglern aufbringen und durchsuchen dürfen. Die libyschen Schiffe sollen aber auch Boote mit Flüchtlingen aufgreifen und zurück nach Libyen bringen. Die EU würde auch gerne die Nato mit dabei haben. Über deren Teilnahme an der Mittelmeeroperation wird auf dem Nato-Gipfel in Warschau entschieden. Bislang dürfen die Schiffe der EU-Operation nicht in libysches Küstengewässer einfahren.

Tatsächlich wächst die Zahl der Flüchtlinge aus Libyen und vermehrt auch aus Ägypten an (Frontex-Chef: Die Route übers Mittelmeer „wächst“), es wurden bereits Tausende gerettet. Am Dienstag hatten erst die deutschen Schiffe Werra und Datteln 500 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. In diesem Jahr sind bereits mehr als 1000 Flüchtlinge ertrunken, alleine im Juni 383. In den ersten beiden Julitagen waren mehr als 700 Flüchtlinge gerettet worden. Insgesamt mehr als 63000 Flüchtlinge kamen 2016 über das Mittelmeer nach Italien, dabei sollen über 2400 ertrunken sein. Die Flüchtlinge werden in Lager auf Sizilien und Lampedusa, in Kalabrien und Apulien gebracht.

Die EU hatte mitgeholfen, den neuen Regierungschef Faiez al-Sarraj in Libyen im März zu installieren. Er soll eine von der UN unterstützte Einheitsregierung (GNA) in Tripoli herstellen, hat aber noch keine Rückendeckung vom Parlament und wird von General Hafta, dem starken Mann im Osten des Landes, nicht anerkannt. Erst letzte Woche sind vier Minister zurückgetreten, der Konflikt zwischen den beiden Regierungen im Osten und im Westen soll sich eher vertieft haben. Ironischerweise sollen britische und französische Soldaten von Bengasi aus operieren und General Haftar unterstützen. In dem von Frankreich seit Februar betriebenen Stützpunkt sollen auch Teams aus Italien, den Vereinten Arabischen Emiraten und Jordanien vertreten sein. Von hier aus sollen auch Drohnenflüge stattfinden.

Im Augenblick versuchen Einheiten und Milizen das vom IS gehaltene Sirte zu erobern und ganz unter Kontrolle zu bekommen, was nahezu gelungen scheint, nachdem bereits ein Küstenstreifen bei Sirte vom IS befreit wurde. Die Existenz der GNA in dem failed state macht es trotz der fehlenden Macht möglich, völkerrechtliche Abkommen mit der Regierung zu schließen. Dabei ist schon unklar, wer die libysche Küstenwache und Marine kontrolliert bzw. welche Verbände ihre zugeordnet sind.

Die EU will mit allen Mitteln versuchen, Flüchtlinge aus Afrika von Europa fernzuhalten. Nach einem Papier, das dem EU-Observer vorliegt, sollen die Mitgliedsländer „alle möglichen Mittel“ zu diesem Ziel anwenden. Die Rede ist von Entwicklungshilfe, Handelsbeziehungen, überhaupt Geld, von einem Investitionsfonds in Höhe von 3,1 Milliarden Euro und davon, Flüchtlinge „auch dann zurückzuschicken, wenn es kein Abkommen gibt“. Nach einem am Montag bekannt gewordenen Vorschlag der EU-Kommission sollen auch Armeen direkt finanziell und mit Technik unterstützt werden, die bei der Flüchtlingsabwehr beispielsweise mit Grenzkontrollen helfen.

Die EU will die schmutzige Arbeit an libysche Kräfte outsourcen

Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation warnt nun die EU eindringlich davor, mit der Hilfe libyscher Kräfte den Flüchtlingsstrom eindämmen zu wollen. Flüchtlinge und Asylbewerber würden in die Hände von gewalttätigen Milizen, Verbrecherbanden und Regierungsmitarbeitern ausgeliefert werden. So seien erneut schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigungen und Morde in Flüchtlingslagern dokumentiert worden, wo auch Menschen landen, die von der Küstenwache abgefangen wurden. Die EU will, so HRW, die schmutzige Arbeit an libyschen Kräfte outsourcen, um nicht selbst Flüchtlinge zurückschicken zu müssen, was illegal wäre.

Von HRW wurden 47 Flüchtlinge u.a. aus Kamerun, Eritrea, Gambia oder Nigeria in Sizilien befragt, die vor kurzem auf Schleuserbooten aus Libyen gekommen waren. Sie beschrieben schwere Vergehen durch Schleuser, Mitglieder von Banden und Milizen und Regierungsangehörigen, die mitunter auch mit Schleusern zusammenarbeiten. Die Gewalt, die in dem rechtlosen Land herrscht, habe viele dazu gebracht, die einst in Libyen nach Arbeit suchten, nach Europa zu fliehen. Ein Gambier, dessen Frau von Kriminellen vergewaltigt worden sein soll, sagte, die Menschen könnten dort tun, was sie wollten, es gebe kein Gesetz.

Acht der Flüchtlinge erklärten, sie seien vermutlich von der libyschen Küstenwache oder Marine in Booten abgefangen und wieder an Land gebracht worden. Schon bei der „Rettung“ sei es zu Gewalt gekommen. Dort seien sie in Lager mit anderen eingesperrt worden, die irregulär nach Libyen gekommen waren oder keine Aufenthaltsgenehmigung hatten, und hier seien sie auch geschlagen worden. Das Innenministerium der Einheitsregierung betreibt 20 solcher Haftlager mit mehr als 3500 Gefangenen meist im Westen Libyens. Die Lager in Tripoli, Zawiya und Subratha seien „entsetzlich“, so frühere Häftlinge. Sie seien extrem überbelegt und dreckig, es gebe nicht genügend Essen. Hier sei es zu Morden, Schlägen, Zwangsarbeit und sexueller Gewalt gegen Frauen und Männer unter völlig rechtlosen Bedingungen gekommen. Menschen werden dort auf unbegrenzte Zeit inhaftiert. Freigelassen werden sie, wenn entsprechendes Lösegeld zahlen.

Andere Lager werden gleich von Milizen und Schleusern betrieben. Dort werden sie zur Arbeit auf Baustellen oder in der Landwirtschaft gezwungen, um ihre Reise zu bezahlen, oder festgehalten, bis Verwandte weiteres Geld schicken. Es herrscht pure Gewalt, Morde, Folter und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Besonders Mädchen und junge Frauen sind der Gewalt wehrlos ausgesetzt.

Die von HRW dokumentierten Beschreibungen der Zustände in den Lagern sind schrecklich. Auch wenn Übertreibungen dabei sind, wird deutlich, dass die Absicht der EU, die Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen in Libyen festzuhalten oder sie von der libyschen Küstenwache abfangen zu lassen, unmenschlich und ein Hohn auf die angeblich von der EU vertretenen Werte und Menschenrechte ist. Mit dem failed state, in dem es keine wirkliche Zentralregierung, dafür aber zahllose lokale Milizen und Gangs gibt und Bürgerkrieg herrscht, kann man keine solche Abmachungen treffen, wenn es kaum Unterschiede zwischen Polizisten, Soldaten, Milizen, Kriminellen und Terroristen gibt. Die Menschenrechtsorganisation fordert, die EU müsse sicherstellen, dass die Ausbildung, Finanzierung oder materielle Hilfe der Küstenwache und anderer libyscher Behörden nicht Menschenrechtsverletzungen verstärkt. Die Flüchtlingslager müssten überwacht werden, zudem dürfe die EU-Marine-Mission nicht mithelfen, dass Flüchtlinge in Libyen in einer Falle feststecken: „Es ist nicht akzeptabel, Menschen auf See abzufangen oder zu retten und zu Misshandlungen in das Land zurückzubringen.“

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