14. Januar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Hilflose Attacke gegen das schwedische Modell“ · Kategorien: Skandinavien · Tags:

Quelle: Zeit Online

Die Kehrtwende der schwedischen Regierung in der Asylpolitik wirkt wenig durchdacht. Sie lässt die etablierten Parteien wie Heuchler dastehen.

Ein Gastbeitrag von Christian Fernández

Von meinem Schreibtisch im neunten Stock der Universität Malmö kann ich die Öresundbrücke sehen, die sich über die Meerenge zwischen Malmö und Kopenhagen zieht. Sie ist seit ihrer Eröffnung vor 15 Jahren ein Symbol für Freizügigkeit und transnationale Integration. Tausende fahren täglich über die Brücke hin und her: zur Arbeit, zum Einkaufen, für Freizeitaktivitäten – oder um Asyl zu suchen. Für die rund 160.000 Asylsuchenden, die 2015 nach Schweden kamen, aber auch für viele Flüchtlinge, die nach Norwegen und Finnland weiterziehen, war die Öresundbrücke der wichtigste Einreisepunkt.

Doch binnen zwei Monaten wurden dieser und alle anderen Zugänge nach Schweden geschlossen. Das ist die Folge einer drastischen Kehrtwende, die die Regierung in der Asylpolitik vollzogen hat. Im verzweifelten Versuch, den angeblich nicht zu beherrschenden Zustrom an Asylsuchenden zu begrenzen, beschloss die rot-grüne Minderheitsregierung von Ministerpräsident Stefan Löfven, ihre Politik der „offenen Arme“, wie sie sie stolz genannt hatte, zu beenden. Die Wende gipfelte am 4. Januar 2016 in der Einführung von Grenzkontrollen, um Flüchtlinge wirksam von der Einreise abzuhalten. Die Regierung arbeitet an strengeren Zuwanderungsgesetzen, die Schwedens Engagement auf das EU-Minimum reduzieren werden.

Die neue Asylpolitik ist ein Paradigmenwechsel in der modernen schwedischen Geschichte. Er bereitet der Regierung und den meisten politischen Parteien offensichtlich extreme Schmerzen, denn er trifft Schwedens Stolz, sein humanitäres Bewusstsein ins Mark und richtet sich gegen das Bild, das sich Schweden von seiner Rolle in der Weltpolitik gemacht hat. Die Tränen der stellvertretenden Ministerpräsidentin Åsa Romson, als sie am 24. November die verschärften Regelungen verkündete, versinnbildlichen die Qualen eines Landes, das sich selbst nicht mehr wiedererkennt.

Wie kann man eine so dramatische und schmerzende Kehrtwende erklären? Und was sind seine vorhersehbaren politischen Folgen?

Ein Erklärversuch könnte am 16. August 2014 beginnen. Einen Monat vor den Parlamentswahlen hielt der damalige Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt eine inzwischen berühmte Rede: In ungewohnt offenen Worten appellierte er an die Schweden, ihr „Herz zu öffnen“ und die ökonomischen Lasten der Flüchtlingsaufnahme zu akzeptieren. Es war eine entscheidende Rede, denn sie trieb viele migrationsskeptische Wähler weg von Reinfeldts Mitte-rechts-Koalition zu den Einwanderungsgegnern der Schwedendemokraten (SD). Reinfeldt wurde vielfach vorgeworfen, er habe das stillschweigende Tabu gebrochen, über die Kosten der Immigration zu sprechen, und habe so den fremdenfeindlichen Diskurs der SD ermöglicht.

Die Schwedendemokraten liegen in Umfragen bei 20 Prozent

Für die rechtspopulistische Partei waren die Wahlen Mitte September 2014 ein riesiger Erfolg: Ihr Stimmenanteil stieg von 5,7 auf 12,9 Prozent. Weder die Linke noch die Rechte konnten eine Mehrheitskoalition bilden, ohne die von allen verachtete Partei aufzunehmen. Die parlamentarische Krise schwächte das Vertrauen der Wähler in die rot-grüne Minderheitsregierung und steigerte die Unterstützung der SD weiter. Mittlerweile liegt diese in Umfragen bei 20 Prozent. Angesichts der Popularität der SD bewegen sich einige der Mitte-rechts-Parteien, die viele Jahre lang die liberale Einwanderungspolitik für richtig gehalten haben, um die Stimmen der Einwanderungsskeptiker buhlend nun in eine restriktivere Richtung.

Willkommenssignale wichen Tragbarkeitsberechnungen

Der unmittelbare Auslöser der Kehrtwende ist natürlich die sogenannte Flüchtlingskrise, die im Sommer 2015 begann und im Herbst eskalierte. Zwischen September und November erhielt Schweden 100.000 Asylanträge. Die zunächst zuversichtlichen Willkommenssignale der Regierung wichen schrittweise vorsichtigen Tragbarkeitsberechnungen, Rufen nach einer solidarischeren Lastenverteilung innerhalb der EU und schließlich einer resignierten Kapitulation und geschlossenen Grenzen.

Zur Rechtfertigung der Entscheidung werden vor allem zwei Argumentationslinien herangezogen. Erstens die ganz praktischen Probleme, 10.000 Neuankömmlingen pro Woche Unterkunft, Schule, Gesundheitsversorgung und so weiter bereitzustellen: Schweden bleibe ein liberales und einwandererfreundliches Land, so die Argumentation, aber die lokalen Sozialeinrichtungen seien der Lage einfach nicht gewachsen. Zweitens das Scheitern der EU-Asylpolitik: Die „moralischen Supermächte“ Schweden und Deutschland seien alleingelassen worden. Die Grenzschließung sei zwar ein trauriges Ende des liberalen Asylsystems, aber die Schuld daran trügen die anderen EU-Mitgliedstaaten, weil sie sich einem gemeinsamen humanitären Engagement verweigerten, wird argumentiert.

Dominoeffekt und Spannungen mit Dänemark

Die Kehrtwende hat mehrere komplexe und schwer vorhersehbare Konsequenzen. Auf internationaler Ebene führt sie dazu, dass Angela Merkels Deutschland und die „humanitäre Sache“ einen kleinen, aber wichtigen Partner im anhaltenden Streit um liberale Asylregeln verloren haben. Dass das liberale Schweden seine Grenzen schließt, hat beträchtlichen Symbolcharakter. Eine konkretere und schon wahrzunehmende Folge ist der Dominoeffekt: Von Schweden ausgehend schließen entlang der Flüchtlingsroute rückwärts weitere Länder die Grenzen. Außerdem wachsen die Spannungen zwischen Dänemark und Schweden, weil die dänischen Behörden die verwaltungstechnischen und ökonomischen Lasten gemeinsamer Grenzkontrollen mittragen müssen. Die beiden Länder sind seit vielen Jahren in der Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht einer Meinung, aber die Flüchtlingssituation hat ihre Differenzen verschärft und die gegenseitigen Schuldzuweisungen eskalieren lassen.

Die handfestesten Folgen der Grenzkontrollen auf lokaler und innenpolitischer Ebene: Der Verkehrsfluss über die Öresundbrücke verschlechtert sich aufgrund von Verspätungen und weniger Zügen. Viele Pendler sind sauer, und örtliche Geschäftsleute und Politiker fürchten, dass das Zusammenwachsen der Region über den Öresund zum Stillstand kommt. Mit diesen Problemen kommt in der Region auch wieder das latente, leicht zu entfachende Misstrauen gegen die Zentralregierung auf: Viele unterstellen der Regierung in Stockholm ein arrogantes Desinteresse an den südlichen Provinzen und insbesondere an der Vernetzung von Malmö mit Kopenhagen.

Bisher galt das schwedische Modell als Win-win-Situation

Am interessantesten und schwierigsten zu beantworten ist die Frage nach den langfristigen politischen Auswirkungen auf das „schwedische Modell“. Es basiert auf großzügigen, liberalen Zuwanderungsregeln, die eher auf den humanitären Bedürfnissen anderer fußen als auf dem ökonomischen Eigeninteresse des Staates. Dieses Konstrukt hat einen gravierenden Schlag erhalten, von dem es sich nicht so schnell erholen wird. Bis vor ein paar Monaten galt selbst angesichts der nie dagewesenen Flüchtlingskrise die politische Norm, dass man über Mengen, Obergrenzen und Kosten nicht spricht. Vielmehr stellten mit Ausnahme der SD alle Parteien die Zuwanderung stets als vorteilhaft sowohl für Schweden als auch für die Migranten dar, als Win-win-Situation. Abweichende Meinungen wurden spöttisch zurückgewiesen.

Angesichts dessen wirkt die plötzliche Kehrtwende in der Migrationspolitik verzweifelt und wenig durchdacht. Noch schlimmer ist: Sie führt womöglich dazu, dass die jetzige wie die vorige Regierung, die beide das schwedische Modell unterstützten, als scheinheilig wahrgenommen werden. Als Heuchler, die mehr damit beschäftigt sind, die SD einzudämmen, als ehrlich zu den Wählern zu sein. Warum würden sie sonst so schnell ein Modell fallen lassen, an das sie angeblich so lange glaubten?

Daraus lassen sich ein pessimistischer und ein eher optimistischer Schluss ziehen. Der pessimistische: Die abrupte Kehrtwende wird das Vertrauen der schwedischen Wähler in die etablierten Parteien weiter schwächen. Der optimistischere: Sie ebnet den Weg für eine sachlichere und ausgewogenere Zuwanderungsdebatte, die zwar von einem starken humanitären Engagement ausgeht, aber ohne rosige Klischees und ohne vor Diskussionen über die Schwierigkeiten und tradeoffs großzügiger Asylregeln zurückzuschrecken. Vielleicht ist das eine naive, törichte Hoffnung, da politische Debatten selten nuanciert und nüchtern sind. Ganz klar ist jedenfalls: In Schweden ist das Spektrum der politischen Meinungen über Zuwanderung und Asylpolitik breiter und weniger einvernehmlich, als es lange Zeit war.

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