11. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die große Flüchtlings-Heuchelei“ · Kategorien: Spanien · Tags: , ,

Quelle: Telepolis

Ralf Streck

Während Ungarn an den Pranger gestellt wird, wird bisher sogar ein tödliches Vorgehen Spaniens gegen Flüchtlinge gestützt

In praktisch allen Medien bestimmt nicht nur in Deutschland derzeit das Flüchtlingsdrama das Bild. Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (Juncker: 160.000 Flüchtlinge nach obligatorischen Quoten verteilen) haben nun offenbar ihr Herz für Flüchtlinge entdeckt. Doch in der vorherrschend monochromen Darstellung darf natürlich auch ein Bösewicht nicht fehlen, auf den Versagen abgewälzt wird. Weil auch Ungarn rabiat gegen flüchtende Menschen vorgeht und einen Zaun aufbaut, wird es von denen angegriffen, die genau das bisher mit ihrem Schweigen unterstützt haben. Spanien hat seine Grenzen längst gefährlich aufgerüstet und geht bisweilen sogar mörderisch gegen Flüchtlinge in den Exklaven Ceuta und Melilla vor.

Wie man zweierlei Maß anlegen kann, dass kann in der derzeitigen Situation erneut sehr deutlich aufgezeigt werden. So wird Ungarn auch von Bundeskanzlerin Merkel hart angegriffen, weil der ungarische Regierungschef Viktor Orbán von einem „deutschen Problem“ gesprochen hat (Orban teilt aus – gegen Merkel). Und Juncker wollte Orbán in Brüssel sogar kräftig die Leviten lesen, weil er einen Zaun zur Abwehr der Flüchtlinge errichten ließ und sich auch gegen die Quoten-Lösung wendet. Auf Telepolis wurde längst herausgearbeitet, dass Brüssel und Berlin gegen das ungarische Vorgehen lange Zeit kein Wort verloren und weggeschaut wurde. Erst als es politisch opportun war und man einen Sündenbock brauchte, wurde Orbán für sein Vorgehen angegriffen.

Doch noch viel klarer kann das heuchlerische Vorgehen an anderen Beispielen herausgearbeitet werden. Wie sah es mit der Solidarität mit Flüchtlingen zuvor aus? Wurde nicht etwa zugesehen, wie Italien im vergangenen Herbst aus Kostengründung die Seenotrettungsaktion „Mare Nostrum“ aus Kostengründen eingestellt hat, wodurch das Mittelmeer angesichts der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten zum Massengrab wurde?

Schließlich, so wurde zuletzt beim Treffen der Mittelmeerunion im April auch bekräftigt, steht die Abwehr von Flüchtlingen im Vordergrund. Und so ist es kein Zufall, dass als „Ersatz“ für Mare Nostrum eine Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex gestartet wurde, die zudem nur knapp ein Drittel kosten sollte (Wegschauen, statt Flüchtlinge retten). Deren Aufgabe ist eben primär Grenzschutz und nicht Seenotrettung. Nicht einmal dafür stellten die Mitgliedsländer die nötige technische Ausrüstung und Material zur Verfügung, musste sogar der Frontex-Chef Gil Arias Fernandez kürzlich anprangern.

Noch viel deutlicher wird die Heuchelei aber, wenn man den Umgang vor allem aus Berlin mit Spanien analysiert. Dazu kann man sich anschauen, wie die spanische Flüchtlingsabwehr bisher gedeckt wurde und vermutlich auch weiter gedeckt wird. Zudem hat sich auch das Land auf der Iberischen Halbinsel gegen die Quotenregelung ausgesprochen, wurde dafür aber nicht wie Ungarn hart angegangen.

Vize-Ministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría hat kürzlich behauptet, dass die Aufnahmekapazität Spaniens schon längst durch die illegale Einwanderung „völlig überlastet“ sei. Man wolle sich im Flüchtlingsdrama nun nur im Rahmen wie etwa in Polen einsetzen, fügte sie an. Das viertgrößte Euroland mit gut 46 Millionen Bewohnern könne eine „Anstrengung“ machen und etwa 2000 Flüchtlinge aufnehmen. Und ohne es auszusprechen, ließ die gläubige Katholikin mit dem Beispiel Polen auch durchschimmern, dass man wie dieses katholische Land eigentlich nur zur Aufnahme von Christen bereit ist.

Es kommen strukturell der gleiche Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit bei rechtskonservativen Spaniern zum Vorschein, wie er auch bei rechtskonservativen Ungarn zu beobachten ist. Doch es gibt zwischen beiden Ländern sogar bisher einen Unterschied. Denn die spanische Volkspartei (PP) tut schon seit vielen Jahren alles, um Flüchtlinge abzuwehren und Einwanderer und Flüchtlinge, die das Land schon erreicht haben, wieder loszuwerden. Und bisweilen hat das spanische Vorgehen sogar tödliche Folgen, was aus Ungarn trotz der großen Zahl der ankommenden Flüchtlinge bisher nicht bekannt wurde.

Zum Skandal werden Vorgänge in Europa nur, wenn sich Kameras darauf richten

Und gegen die ungarische „Mauer“ gleichen die spanischen Grenzzäune zu den Exklaven Melilla und Ceuta eher denen einer fast uneinnehmbaren Festung. Und auch dort sind seit Monaten Flüchtlinge betroffen, die den Kriegen wie in Syrien entfliehen (Spanien riegelt Grenze gegen syrische Flüchtlinge ab). Drei Zäune mit einer Höhe von sechs Metern, die inzwischen auch wieder mit gefährlichem Klingendraht ausgestattet wurden, bilden eine schier unüberwindliche Sperre zwischen dem reichen Europa und dem armen Afrika. Anders als in Ungarn ist der gefährliche Draht aber in Ceuta und Melilla nicht am Boden ausgelegt. Dort kann er relativ einfach hochgehoben werden oder die Flüchtlinge können Teppiche oder Holz darüberlegen, um ihn zu überwinden. In luftiger Höhe geht das nicht. Dort verheddern sich Flüchtlinge darin und schneiden sich zum Teil tiefe Wunden ins Fleisch.

Damit nicht genug schießt die paramilitärische Guardia Civil nicht nur mit Gas oder Pfefferspray auf flüchtende Menschen, wie sogar die Bild-Zeitung anprangert. Die Paramilitärs prügeln zum Teil in einer unglaublichen Brutalität wehrlose Menschen von Zäunen herunter. Sogar dabei Verletzte werden entgegen nationalen und internationalen Rechtsnormen einfach wieder nach Marokko zurückgeschafft, statt sie ärztlich zu versorgen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, Asyl zu beantragen. Diese Praxis nennt man „heiße Abschiebungen“, wovon man in gut bebilderten Zeitungen aber nichts erfährt. Und als die rechte PP kürzlich im Alleingang das Strafrecht reformierte und das „Knebelgesetz“ einführte, wurden auch diese illegalen Abschiebungen „legalisiert“. Dabei wird damit weiterhin gegen internationale Konventionen verstoßen (Meinungsfreiheit futsch und alles kann in Spanien nun Terrorismus sein).

Bisweilen schießt die Guardia Civil sogar mit Gummigeschossen und Tränengas auf schwimmende Flüchtlinge, die versuchen, über das Meer die gefährlichen Grenzzäune zu umgehen. Allein in einem Fall im Februar 2014 verloren dabei mindestens 13 Menschen das Leben. Neu ist das nicht, bisweilen wird sogar scharf auf Flüchtlinge geschossen, wobei es immer wieder Tote gibt. Allerdings ist dabei ungeklärt, ob marokkanische Sicherheitskräfte dafür verantwortlich sind (Spanische Gründlichkeit). Letztlich ist aber auch das nicht sonderlich bedeutsam. Schließlich arbeiten Spanien und die EU in der Flüchtlingsfrage eng mit Marokko zusammen. Und das äußerst brutale Vorgehen des autoritären Königreichs gegen Flüchtlinge ist bekannt. Marokko setzt Flüchtlinge bisweilen sogar schlicht in der Wüste aus („Wir wollen nach Europa – und da gibt es immer einen Weg“).

Zum Skandal werden Vorgänge in Europa aber bestenfalls, wenn sich Kameras darauf richten, wie im Fall der 13 Toten im vergangenen Jahr in Ceuta. Angesichts dieses Skandals, den die spanischen Behörden scheibchenweise zugeben mussten, wurde sogar in Brüssel Innenkommissarin Cecilia Malmström aktiv. Sie zeigte sich „sehr besorgt“ über die Vorgänge und fordert Aufklärung von Spanien. Ob sie die jemals erhalten hat, darf bezweifelt werden, nicht einmal ein Minister übernahm die Verantwortung für die Vorgänge und trat zurück. Vermutlich gab sich aber auch Malmström damit zufrieden, dass Spanien zwischenzeitlich versichert hat, nun kein Material zur Aufstandsbekämpfung mehr an den Grenzen der Exklaven einsetzen zu wollen.

Hat man jemals eine Kritik von Juncker oder Merkel angesichts von Toten an den spanischen Außengrenzen der EU gehört?

Hat Merkel den Spanier Mariano Rajoy dafür kritisiert. Hat sie jemals den Spanier gemaßregelt und ihn wie Orbán jemals auf die Genfer Flüchtlingskonvention hingewiesen, die in jedem Mitgliedsstaat gilt. Hat sie Spanien jemals entgegengehalten, dass das Land eben nicht das tue, „was moralisch und was rechtlich geboten ist“?

Nein! Das Vorgehen Spaniens wurde durch ihr Schweigen als stets gedeckt. Es war bisher auch kein Wort der Kritik von ihr oder der EU-Kommission an dem Gesetz zu hören, mit dem die heißen Abschiebungen legalisiert werden sollen. Denn damit sollen Beamten vor Richtern geschützt werden, die auf die Einhaltung bestehender Gesetze und Normen beharren und sich nicht einfach den regierungsamtlichen Vorgaben beugen. Denn es gibt immer wieder mutige Richter, die zu ermitteln versuchen und auch Mitglieder der Sicherheitskräfte vorladen und anklagen.

Anders als für Orbán hat Merkel für den rechten spanischen Regierungschef Rajoy aber nur Lob übrig. Sie tut alles, egal, was Rajoy macht, um die Wiederwahl des Konservativen im Dezember zu sichern, wie sich gerade bei dessen Besuch in Berlin gezeigt hat. Weder ist Kritik am Umgang mit Flüchtlingen ist zu hören, noch wird das Knebelgesetz kritisiert, dass längst knebelt und sogar nach Ansicht von Uno-Experten Menschenrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit aushebelt.

Es ist ein Gesetz, das sogar Richtervereinigungen in der Franco-Diktatur verorten, mit dem auch die heißen Abschiebungen von Flüchtlingen ohne jede Prüfung legalisiert werden sollen. Doch letztlich muss ein solches Vorgehen bei einer Partei und ihrem Chef nicht wirklich erstaunen, die sich bis heute nicht vom Putsch und der Franco-Diktatur distanziert hat. Es waren Führungsmitglieder der Franco-Regierung, die Rajoys Partei gegründet haben. Und mit ihrem Schweigen zu den Vorgängen in Spanien, hat sich Merkel eigens längst jeden Boden für eine Kritik an Ungarn entzogen, so berechtigt sie eigentlich ist.

Und deshalb reicht es Merkel vermutlich nun auch, dass die spanische Regierung in der Frage der Verteilung der Flüchtlinge offiziell umgeschwenkt ist. Die Regierung Rajoy will nun mehr Flüchtlinge aufnehmen, um nicht ins Schlaglicht zu geraten. Sie behauptet sogar, dass die von Juncker geforderte Quote erfüllt werde. Allerdings zweifeln Medien das nach Recherchen schon jetzt an. Sogar nach den Zusagen würden etwa 3000 Menschen weniger aufgenommen, als nach der Quote eigentlich notwendig sei. Und ob das jemals umgesetzt wird, steht noch auf einem ganz anderen Blatt. Papier ist besonders geduldig in Spanien. Und es ist zu erwarten, dass Merkel bei ihrem Freund Rajoy wieder einmal das rechte Auge zudrückt.

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