07. September 2015 · Kommentare deaktiviert für «Dublin» ist toter Buchstabe · Kategorien: Deutschland, Europa, Österreich, Ungarn · Tags: , ,

Quelle: nzz

Niklaus Nuspliger, Brüssel

Dass die europäische Asylpolitik gescheitert ist, ist längst eine Binsenwahrheit. In den letzten Jahren sind Hunderttausende von Migranten und Flüchtlingen über das Mittelmeer nach Italien und Griechenland gelangt. Die meisten hätten gemäss der Dublin-Verordnung in jenen EU-Staaten registriert und aufgenommen werden müssen, wo sie europäisches Territorium zuerst betreten haben. Dass dies in der Praxis nicht der Fall ist, zeigt ein kurzer Blick auf die europäischen Asylstatistiken, die von Ländern weitab vom Mittelmeer wie Deutschland und Schweden angeführt werden. Auch die EU-Kommission stellte im Mai in ihrer Migrations-Agenda klar, dass die Dublin-Verordnung nicht funktioniert.

Insofern haben die dramatischen Ereignisse vom Wochenende nur noch verdeutlicht, dass «Dublin» in der gegenwärtigen Krise nicht mehr durchzusetzen und damit toter Buchstabe ist. Mit ihrer Entscheidung, Tausenden von in Ungarn nicht registrierten Flüchtlingen die Durch- und Einreise zu erlauben, haben Wien und Berlin offiziell vor der Macht des Faktischen kapituliert, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Zwar betonte der österreichische Aussenminister Kurz in Luxemburg, dass es sich um einen einmaligen Entscheid handle, dass die Dublin-Regeln weiterhin gelten würden und dass man von Ungarn deren Einhaltung erwarte. Das ist Augenwischerei. Obwohl Griechenland nun mithilfe Brüssels Registrierungs- und Aufnahmekapazitäten errichten will, die diesen Namen auch verdienen: Der Flüchtlingsstrom über den Westbalkan nach Ungarn wird allen Grenzzäunen zum Trotz so bald nicht abreissen. Und da die ungarische Regierung auf fremdenfeindliche Rhetorik setzt, statt ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge zu schaffen, lässt auch der Druck auf Österreich und Deutschland nicht nach. Das historische Ausmass der Flüchtlingsströme wird aus humanitären Gründen und aus Respekt vor der Genfer Flüchtlingskonvention weitere situative Regelverstösse unumgänglich machen.

Es überrascht nicht, dass eine sogenannt gemeinsame europäische Asylpolitik, die auf allen Ebenen Fehlanreize setzt, die Verantwortung wenigen Staaten aufbürdet und national völlig uneinheitlich umgesetzt wird, in einer Krise kollabiert. Lange kann ein Zustand, in dem Recht und Realität so eklatant auseinanderklaffen, aber nicht anhalten. Die Realisierung der EU-Pläne für eine Notaktion und einen langfristigen Mechanismus zur geordneten Umsiedlung und Verteilung einer grossen Zahl von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten ist unumgänglich. Faktisch finden Umsiedlungen längst statt – auf chaotischem Weg und mithilfe krimineller Schlepper. Auch die osteuropäischen Staaten müssen anerkennen, dass diese Situation unhaltbar ist, dass die Dublin-Regeln fundamental reformiert werden müssen und dass Europa die Verantwortung für die Aufnahme der Flüchtlinge nicht einzig Deutschland überlassen kann.

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