04. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Europäische Kakofonie“ · Kategorien: Deutschland, Europa, Österreich, Ungarn · Tags:

Quelle: nzz

Orban und Juncker streiten um die richtigen Ansätze in der Flüchtlingskrise

EU-Kommissions-Präsident Juncker nimmt Anlauf zu einem neuen Versuch zur Durchsetzung von Flüchtlingsquoten. Derweil repräsentiert Ungarns Ministerpräsident Orban das Lager jener, die vorab auf Grenzsicherung und Abschottung setzen.

NIKLAUS NUSPLIGER, BRÜSSEL

Europa ist mit der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert – und reagiert mit einem konzeptlosen Hüst und Hott auf die Herausforderung. Hier die freiwilligen Helfer am Münchner Hauptbahnhof, welche die Flüchtlinge in Empfang nehmen. Dort die Bilder tschechischer Polizisten, die Flüchtlinge mit Nummern auf dem Vorderarm markieren. Hier die Geschichten unzähliger Bürger aus ganz Europa, die sich bereit erklären, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Dort die Bilder gestrandeter Syrer, die auf griechischen Inseln unter prekären Bedingungen festsitzen oder in Budapest dem Verwirrspiel der überforderten Behörden ausgesetzt sind.

«Ein deutsches Problem»

Irgendwo zwischen Solidarität und Repression taumelt auch die europäische Politik, wobei die geteilten Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten zum Bild der Verantwortungslosigkeit beitragen. Deutlich wurde dies am Donnerstag, als Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban in Brüssel Vertreter der EU-Institutionen und EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker besuchte. Hier der machtlose Juncker, der im Frühjahr mit einem Pilotprojekt für obligatorische Flüchtlingsquoten an nationalen Egoismen und auch am Widerstand Ungarns gescheitert ist. Dort der rechtsnationale Orban, der gegen Einwanderer poltert, an der Grenze zu Serbien einen symbolträchtigen Zaun erstellen liess und sich als Fürsprecher einer Abschottungspolitik sieht, mit der er Europa auch vor der Islamisierung bewahren will.

Auch wenn die beiden von einem gemeinsamen Medienauftritt absahen, nutzte Orban die Reise nach Brüssel zur Klärung seiner Position. Die Flüchtlingskrise bezeichnete er als «deutsches Problem», da die in Ungarn gestrandeten Menschen nach Deutschland weiterreisen wollten. Ungarn ist angesichts der über 150 000 Flüchtlinge, die dieses Jahr ins Land gelangt sind, aber tatsächlich in einer schwierigen Lage, weshalb die EU Finanzhilfen für Budapest freigeben will.

Orban stand in der Kritik, als er die Flüchtlinge nach Deutschland weiterreisen liess. Nun betonte er, dass Ungarn die Dublin-Regeln einhalte und keinen Flüchtling weiterreisen lasse, bevor er registriert worden sei – was ihm ebenfalls Kritik einträgt. Mit der Einhaltung geltender Regeln begründete er auch den Bau des Grenzzauns zu Serbien, mit dem Ungarn der Pflicht zum Schutz der Schengen-Aussengrenze nachkomme. Orban glaubt, dass die EU die Flüchtlinge mit einer zu liberalen Politik anzieht. Sein Rezept ist die Abschreckung durch Grenzsicherung. «Wir haben die Pflicht, den Leuten zu signalisieren: Kommt nicht nach Europa, die Türkei ist ein sicheres Land, bleibt dort!»

Ganz abgesehen davon, dass gerade die Seegrenzen nach Europa kaum wirkungsvoll abzuriegeln sind: Orbans Ansatz dürfte darauf hinauslaufen, auch Flüchtlinge beim Grenzübertritt zu kriminalisieren und damit die Flüchtlingskonvention faktisch ausser Kraft zu setzen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Juncker verfolgen derweil einen Ansatz, der das Völkerrecht respektiert und auf die Entlastung der von den Flüchtlingsströmen besonders betroffenen EU-Staaten hinausläuft – zumal die Zahl der Flüchtlinge zwar hoch sei, aber auf ganz Europa gesehen eigentlich durchaus zu bewältigen wäre.

Neuer Anlauf für Quote

Allerdings ist der EU-Kommissions-Präsident seit Tagen auf Tauchstation, sein Umfeld vertröstet auf die Rede zur «Lage der Union» vor dem Europaparlament von nächster Woche. Dann will Juncker einen neuen Vorstoss für eine obligatorische Quote vorstellen, mit der Flüchtlinge aus akut überlasteten EU-Staaten auf alle Mitgliedstaaten verteilt würden. Ein solcher Vorschlag war für Ende Jahr vorgesehen gewesen, nun werden die Arbeiten beschleunigt. Genannt wird eine Zahl von 160 000 Flüchtlingen, die umzusiedeln wären. Darin enthalten wären wohl auch die 40 000 Flüchtlinge, für welche die Kommission im Mai eine notfallmässige Umsiedlung vorschlug. Fordern dürfte Juncker auch eine EU-Liste mit sicheren Herkunftsstaaten, deren Staatsangehörige in aller Regel kein Asyl erhalten und deren Gesuche darum rasch behandelt werden sollen. Im Visier hat die EU Asylsuchende aus Balkanstaaten.

Gespaltenes Europa

Um die überforderten Behörden gerade in Griechenland zu entlasten, müsste die EU auch eigene Registrierungs-Zentren errichten, wo die Flüchtlinge unter vernünftigen Bedingungen warten könnten, bis sie auf andere Länder verteilt würden. Hierzu scheinen die Pläne Brüssels vage zu sein. Von den Umsiedlungen würden nach den Plänen Junckers neben Italien und Griechenland auch Ungarn profitieren. Dennoch ist fraglich, ob Ungarn und andere Staaten ihren Widerstand aufgeben. Orban erklärte, die falsche Diskussion über Quoten ermuntere Migranten zur Reise nach Europa. Über ein konkretes Angebot, Flüchtlinge aus Ungarn in andere Länder umzusiedeln, würde seine Regierung aber nachdenken.

Ein Richtungsentscheid über das weitere Vorgehen dürfte erst am 14. September fallen, wenn sich die EU-Innenminister zu einer Sondersitzung treffen. EU-Rats-Präsident Donald Tusk warnte am Donnerstag angesichts der Meinungsverschiedenheiten vor einer neuen Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa und erklärte, die Ansätze der Eindämmung und der Solidarität müssten sich nicht gegenseitig ausschliessen.

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