03. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge: Im Boot war niemals Platz“ · Kategorien: Deutschland · Tags: , ,

Quelle: Zeit Online

Schon in den sechziger Jahren klagte ein fränkischer Bürgermeister, sein Ort sei durch Flüchtlinge „überlastet“. Ein Argument, das bis heute dazu dient, Migranten abzulehnen – vor allem Sinti und Roma.

von Volker Land

Am 27. November 1964 schickte Virgilio Röschlein, Bürgermeister von Zirndorf, einen acht Seiten langen Brief an das Innenministerium in Bonn. Die Einwohner seiner fränkischen Gemeinde seien „außerordentlich beunruhigt“.

In Zirndorf befand sich seit 1961 die Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Das machte die Kommune zum westdeutschen Asylzentrum, denn alle für die Bundesrepublik gestellten Anträge wurden dort bearbeitet. In den frühen sechziger Jahren entschieden die 40 Beschäftigten der Dienststelle über 2.000 bis 3.000 Erst- und Folgeanträge jährlich, 1964, als Virgilio Röschlein Alarm schlug, waren es etwas mehr, rund 4.500. Zum Vergleich: 1980 lagen auf den Schreibtischen der nunmehr 240 Beschäftigten erstmals mehr als 100.000 Akten; 1992 wurde die Arbeit des Bundesamtes dezentralisiert, zeitgleich erreichten die Antragszahlen nach dem Zerfall der Sowjetunion ihren bisherigen Höchststand von knapp 440.000. Diese Zahl wird 2015 erstmals überschritten, um voraussichtlich rund 10.000 Anträge.

Auf dem ehemaligen Kasernengelände in Zirndorf war 1955 außerdem eine Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende eingerichtet worden, das spätere „Bundessammellager“. In den sechziger Jahren hielten sich dort zwar nie mehr als 600 Menschen auf. Doch manchen war das schon zu viel. Die Bevölkerung der Stadt lehne es ab, „diese Belastung auf die Dauer zu tragen“, schrieb Röschlein 1964. So war Zirndorf der wohl erste Ort in Deutschland, der eine „flüchtlingsbedingte Überlastung“ beklagte. „Kein Organ und keine Behörde“ sei ernsthaft bemüht, „die Stadt von der ihr durch Land und Bund aufgebürdeten Last zu befreien“, beschwerte sich der Bürgermeister. Immerzu stünden „das Wohl der Ausländer und die Stimmung im Ausland gegenüber der Bundesrepublik im Vordergrund“, die „Interessen der deutschen Bürger“ würden dagegen „nicht genügend berücksichtigt“.

Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, führte er eine Statistik an, wonach von 1.759 Straftätern in Zirndorf während der ersten zehn Monate des Jahres 1964 exakt 1.626 ausländischer Herkunft gewesen seien – ein Anteil von 92,4 Prozent! Auch in den Vorjahren sei der Anteil nichtdeutscher Kriminalität überproportional hoch gewesen: „Der Sicherheitszustand [ist] durch die Ausländer sehr beeinträchtigt“, resümierte der SPD-Politiker.

Der Brief landete auf dem Schreibtisch des Ministerialrats Kurt Breull. Er sollte für Innenminister Hermann Höcherl (CSU) eine Stellungnahme formulieren. Breull aber vermutete, dass sich bei der Statistik nach „Abzug der Zuwiderhandlungen gegen die paß-, einreise- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften“ ein ganz anderes Bild ergebe. Und tatsächlich waren mehr als 95 Prozent der gezählten Verbrechen solche Passvergehen. Die aber könnten „bei Flüchtlingen, die im allgemeinen gezwungen sind, illegal über die Grenze zu kommen, nicht als Indiz für kriminelle Gesinnung angesehen werden“, erklärte Breull, ja, sie seien bei anerkannten Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention „sogar straffrei“. Von den übrigen fünf Prozent ausländischer Straftäter entfalle zudem ein Prozent auf die im Ort stationierten US-Truppen.

Röschlein jedoch ging es um mehr als nur Zahlen. Unmissverständlich machte er klar, was die Zirndorfer besonders störe: dass die meisten Asylsuchenden damals aus Jugoslawien kamen und viele von ihnen Roma waren. Bonn antwortete etwas ratlos. Die Grenzdienststellen seien schon vor Monaten angewiesen worden, „ganz besonders auf den Versuch der illegalen Einreise sogenannter ›Landfahrer‹ zu achten“. Einmal eingereiste Personen könnten aber „aus rechtsstaatlichen Gründen nicht […] an der Stellung eines Asylantrages gehindert werden, [nur] weil es sich um Zigeuner handelt“.

Wie virulent der Antiromaismus in den sechziger Jahren bundesweit war, lässt sich auch einem Artikel aus der ZEIT vom 11. Dezember 1964 entnehmen. Er berichtet über Röschleins Initiative und schildert das Schicksal der polnischen Romafamilie Cyryl.

Die Cyryls wollten in Zirndorf einen Asylantrag stellen, doch der Leiter des Sammellagers verwehrte ihnen den Zutritt, weil es sich „bei dieser Rasse“ prinzipiell nicht um Flüchtlinge handeln könne. Um sie vor einer Nacht im Freien zu bewahren, stellte Virgilio Röschlein einen Raum in der Obdachlosen-Unterkunft zur Verfügung und handelte sich dadurch heftige Kritik aus der Bevölkerung, dem Stadtrat und vom Zirndorfer Landtagsabgeordneten ein. Deshalb war er fortan demonstrativ bemüht, sich des „Problems“ anzunehmen.

Den Cyryls – die Großeltern waren in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden – stand noch eine Odyssee bevor. Willkürlich von Stadt zu Stadt geschoben, wurden sie schließlich im Gefängnis Stadelheim interniert. Am vorläufigen Ende der schikanösen Behandlung urteilte das Münchner Verwaltungsgericht, die Familie sei „aus rein wirtschaftlichen Gründen“ in die Bundesrepublik gekommen, „Asylgründe fehlten“. Bei einem anderen ethnischen Hintergrund wäre ihr Antrag vermutlich als mustergültig bewertet worden, denn die Cyryls gaben an, vor der staatssozialistischen Gängelung in Polen geflohen zu sein. Zwar lässt sich aus den Akten nicht rekonstruieren, wie viele Roma nach 1949 in der Bundesrepublik Asyl suchten, weil „die Ausländer nach ihrer Staatsangehörigkeit, nicht hingegen nach rassischen Merkmalen erfaßt werden“, wie Breull erklärte. Für die abweisende Behandlung war es aber gar nicht entscheidend, ob die stigmatisierende Zuschreibung auch wirklich zutraf.

„Weltflüchtlingslager auf eigenem Boden“

Die Klage über die „Asylschwemme“, über „kriminelle Ausländer“ und, wie es jüngst heißt, „Armutseinwanderung“ gehört seit 1949 zur Rhetorik einer auf Ressentiments gestützten Asylablehnung. Röschlein hatte dabei 1964 noch vergleichsweise sorgfältig argumentiert. Nachdem in den siebziger Jahren die Anwerbung von „Gastarbeitern“ gestoppt worden war und die Zahl der Asylanträge daraufhin stark anstieg, landeten gleich stapelweise aggressive Briefe bei Innenminister Gerhart Baum. Sie warfen dem FDP-Politiker vor, zur „Vernichtung Deutschlands“ beizutragen, wenn er „in der Ausländerpolitik nicht endlich eine Kehrtwendung“ vollziehe. Andernfalls drohten die Deutschen als „Volk ohne Raum“ in einem „Weltflüchtlingslager auf eigenem Boden“ unterzugehen. Als die Kehrtwende in Baums Politik ausblieb, beschimpfte man ihn in seinem Wahlkreis Köln mit den Worten: „Die Ausländer hat uns der Jude Baum ins Land geholt!“, wie der Spiegel 1980 berichtete.

Zwei Jahre später zeigte sich im Bundestag, dass am Thema Asylrecht längst „Ausländerpolitik“ im Allgemeinen diskutiert und von der vermeintlichen Überlastung der Ämter auf die Belastbarkeit des gesamten Landes geschlossen wurde. „Die Bundesregierung wird aufgefordert, endlich wirksame Maßnahmen gegen den Mißbrauch des Asylrechts zu treffen, damit der anhaltenden Flut von Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlingen Einhalt geboten wird“, hieß es 1982 in einem Antrag der Unionsfraktion, und im Parlament mahnte der CSU-Abgeordnete Carl-Dieter Spranger: „Wir [müssen] feststellen, daß die Grenzen der wirtschaftlichen, strukturellen, sozialen und psychischen Belastbarkeit des deutschen Volkes durch die Ausländer überschritten sind.“

Trotzdem beschreiben noch immer viele Wissenschaftler und Asylrechtsaktivisten die Zeit zwischen 1949 und 1993 als Phase einer liberalen Asylpraxis. Tatsächlich wurden dem 1949 bewusst offen formulierten Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) mit dem „Asylkompromiss“ 1993 vier einschränkende Absätze hinzugefügt, die das Grundrecht – je nach Standpunkt – präzisierten oder massiv beschnitten. Wie das Beispiel Zirndorf und die Debatten der siebziger und achtziger Jahre zeigen, gab es allerdings auch vor 1993 keinen liberalen Konsens. Selbst dass Anti-Asyl-Argumente immer wieder entkräftet wurden – wie 1964 durch den Mitarbeiter eines CSU-Ministeriums –, änderte nichts an der Permanenz der Ablehnung.

1992 wurde in Zirndorf über 216.356 Anträge befunden; die Anerkennungsquote lag bei 4,3 Prozent. Für Flüchtlinge vom Balkan, zuvorderst Sinti und Roma, soll sie nach dem Willen etlicher Politiker demnächst auf null sinken. Die Argumente, die dazu angeführt werden, sind mehr als ein halbes Jahrhundert alt, die Ressentiments, die ihnen zugrunde liegen, noch viel älter. Zu einer Lösung des Konflikts werden sie auch im Jahr 2015 nichts beitragen.

Kommentare geschlossen.