03. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Der Dschungel von Calais“ · Kategorien: Frankreich, Großbritannien · Tags:

Quelle: nzz

Vor der Tür zum Paradies

Auf einem Ödland nahe der Hafenstadt Calais leben Tausende von Flüchtlingen in einem Slum. Sie sind Opfer eines Schwarzpeterspiels zwischen Paris und London.

von Nikos Tzermias, Calais

Schon im Hochgeschwindigkeitszug von Paris nach Calais lädt sich die Atmosphäre auf. Ab Lille patrouillieren im TGV bewaffnete Polizisten mit schusssicheren Westen. Am Bahnhof von Calais wird eine Gruppe dunkelhäutiger Menschen von Ordnungshütern abgeführt. Der Taxichauffeur, dessen Auto ich besteige, weiss sofort, wohin ich will, als ich «zum Dschungel» sage. Sofort beginnt er, sich über die Plage mit den Tausenden von Flüchtlingen und Migranten zu beklagen, die in Calais gestrandet sind und ihr Leben riskieren, um nach Grossbritannien zu gelangen.

Der Tourismus habe in der Hafenstadt schwer gelitten. Die Flüchtlinge seien sogar gefährlich. Gestern sei ein Fernsehreporter angefallen worden, erzählt der Fahrer und steckt mir ein Kärtchen mit der Nummer der Taxizentrale zu, als er mich mitten im Dschungel von Calais absetzt – einem sandigen Ödland, wo neben der Autobahn zum Hafen und einer stinkenden Industrieanlage Tausende von Flüchtlingen in einem regelrechten Slum vegetieren. Dies zwischen den Weltmetropolen Paris und London.

Baumaterial von der Müllhalde

Im Dschungel herrscht Baufieber. Viele der Gestrandeten scheinen mit einem längeren Aufenthalt zu rechnen, errichten aus Holzlatten, Plastictüchern und anderem Material, das von Müllhalden zu stammen scheint, Behausungen, um sich vor der bald zu erwartenden kalten Nässe an der nordfranzösischen Atlantikküste zu schützen. Suleiman, ein 32-jähriger Sudanese, hat sein Zelthaus mit Blumentöpfen geschmückt. Auch in der misslichen Lage wolle er sich nicht die letzte Menschenwürde nehmen lassen, sagt er. Der Mann beschreibt Grossbritannien als Mekka, er sei der Hölle von Darfur entronnen.

Dass er in Grossbritannien Asyl suchen und ein neues Leben aufbauen will, begründet Suleiman vor allem damit, dass er recht gut Englisch spreche und zu alt sei, auch noch Französisch zu lernen. Einer seiner jüngeren Leidensgenossen aus Darfur hat es sich dagegen anders überlegt und will in Frankreich Asyl beantragen. Er habe zu viele Sudanesen gesehen, die beim Versuch, den Eurotunnel zu durchqueren, umgekommen seien oder sich schwer verletzt hätten und nun im Spital von Calais lägen.

Weiterhin sein Leben riskieren will Gebre, ein 25-jähriger Mann aus Eritrea, der erst vor wenigen Wochen von Libyen aus über das Mittelmeer nach Europa gelangte. Die Italiener hätten ihm in Lampedusa keine Fingerabdrücke genommen und ihn sofort laufen lassen. Er sei in Eritrea aus politischen und religiösen Gründen verfolgt worden, erzählt Gebre. Wir treffen ihn bei der einzigen orthodoxen Kirche von Calais – nicht in Calais selber, sondern im Dschungel von Calais.

Das Gebetshaus wurde von christlich-orthodoxen Flüchtlingen aus Eritrea und Äthiopien aus grauen Plasticblachen, Ästen und Wellblech errichtet, mit zwei Kirchtürmchen samt Kreuz. Im Innern der Kirche, das mit Teppichen und Tüchern ausgekleidet ist und an dessen Wänden Jesus- und Maria-Plakate geklebt sind, beten auf den Knien zwei in farbige Gewänder gehüllte Eritreerinnen vor zwei kleinen, mit weissem Tuch bedeckten Tischchen, die als Altäre dienen.

Bei der Kirche treffen wir Caven, einen Äthiopier, der mit seiner Frau ebenfalls nach Grossbritannien gelangen will. Er bezeichnet den Dschungel als grossen Schandfleck Europas. Besonders in der Nacht gehe es hier wild zu und her. Viele Flüchtlinge würden sich in ihrer Verzweiflung mit hochgradigem Alkohol sinnlos betrinken, und auch die Prostitution floriere im Dschungel. Die französischen Behörden behandelten die Flüchtlinge wie Tiere im Zoo. Nur Nottoiletten seien bereitgestellt worden. Essen gebe es bloss einmal pro Tag.

Dann bittet Caven mich und einen britischen Kollegen um etwas Geld, um sich Essen und Trinken kaufen zu können. Die Verpflegung gibt es gleich nebenan, in einem Zelt, wo auch Wasserpfeife geraucht werden kann. Der Kiosk und das mit Teppichen ausgelegte Teehaus werden von einem Afghanen betrieben, der uns bedeutet, dass eine Foto von seinem Etablissement schon etwas Geld kosten würde.

Lager in der Türkei war besser

Sonst will der Afghane überhaupt nichts sagen. So kaufe ich eine Büchse Coca-Cola. Für 25 Cents! Nur unweit vom Teehaus entfernt haben Pakistaner einen Take-out errichtet. Das Menu ist auf einem Leintuch, das an der Theke hängt, festgehalten: «Chicken and Chips, Pakura, Samosa, Bulani». Die Haare kann man sich im Dschungel für drei Euro schneiden lassen, bei Hagos, einem 25-jährigen Eritreer, der mit seiner Schwester in einem Zelt seinen Salon betreibt – mit Marienbild an der Wand und zu afrikanischen Klängen. Er will nach England und schwört darauf, dass ihm der liebe Gott schon helfen werde. Er und seine Schwester hätten schon das Gefängnis in Libyen und die Überfahrt nach Lampedusa überstanden.

Alim zeigt mir seine Brandwunden, die ihm die französische Polizei mit Pfefferspray bei der Verhaftung im Eurostar Richtung London zugefügt habe. Der 23-Jährige haust mit zwei Dutzend anderen Syrern nicht im Dschungel, sondern unter dem Vordach eines Lagerhauses beim Terminal der Autofähren, die Calais mit Dover verbinden. Der Dschungel, wo sich vorab Sudanesen, Eritreer, Afghanen und Äthiopier befinden, sei nichts für sie, sagt Alim und macht eine despektierliche Miene. Die Syrer stammen aus Darah, einer vom Bürgerkrieg besonders stark gepeinigten Stadt. Alim und seine Landsleute gelangten über die Balkanroute nach Calais. Sie sind entsetzt, wie misslich sie nach all den Strapazen hier behandelt werden. Das Flüchtlingslager in der Türkei sei besser gewesen.

Doch dann leuchten die Augen von Alim plötzlich freudig auf. Er erzählt von seinem Traum, nach Grossbritannien zu gelangen, wo er bereits Angehörige habe. Er meint, dass Flüchtlinge jenseits des Ärmelkanals weit menschlicher behandelt würden als in Frankreich. Dort warte ein Hotelzimmer auf ihn, wogegen er hier weder eine Unterkunft noch Verpflegung erhalten habe und von der Polizei erst noch wie ein Verbrecher behandelt worden sei. Deshalb werde er weiterhin sein Leben aufs Spiel setzen und versuchen, auf einen Lastwagen aufzuspringen, um auf diesem nach England zu gelangen.

300 Steckdosen für Handys

Gegen 12 Uhr mittags herrscht vor dem stählernen Portal des Centre Jules Ferry, das an den Dschungel grenzt, dichtes Gedränge. Hunderte von Flüchtlingen warten darauf, in das von der Hilfsorganisation «La Vie Active» im Auftrag der französischen Regierung betriebene «Empfangszentrum» eingelassen zu werden, das Anfang Jahr nach langem Zögern der Behörden eröffnet wurde. Die meisten Migranten warten nicht allzu ungeduldig darauf, die sechzig Duschen und dreissig Toiletten benutzen zu können. Erste Priorität hat vielmehr das Aufladen der Mobiltelefone, wofür im Camp über 300 Steckdosen bereitgestellt worden sind.

Ins Centre Jules Ferry werden am Mittag alle eingelassen ausser Journalisten, die sich als solche zu erkennen geben. Eine junge Mitarbeiterin von «La Vie Active» lässt sich nicht erweichen und beharrt darauf, dass Besuche von Journalisten einer Sonderbewilligung der Präfektur bedürften. Zu viele negative Berichte habe es über das Zentrum gegeben. Immerhin ist die Helferin bereit, ein paar Fragen zu beantworten. Sie räumt ein, dass immer noch viele Frauen und Kinder im Dschungel übernachten müssten. Das offizielle Camp zähle nur 100 reguläre Schlafstellen und sei überfüllt.

Vor dem Centre Jules Ferry treffen ich auch Céline Schmitt, eine Sprecherin des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge. Sie bezeichnet die Zustände im Dschungel als skandalös. Das umso mehr, als die Mehrheit der schätzungsweise 3000 bis 5000 Migranten schutzbedürftige Flüchtlinge seien. Wie viele Migranten in Calais während der letzten Monate und Jahre angekommen und weitergezogen sind, kann Schmitt nicht sagen. Sie beanstandet aber, dass Frankreich zu wenig Notunterkünfte bereitstelle und das Verfahren zur Einreichung von Asylgesuchen viel zu komplex und langwierig sei. Nun soll nach den neuesten Plänen des französischen Premierministers Manuel Valls ab Januar eine Zeltstadt für 1500 Migranten in Calais zur Verfügung stehen.

Umgekehrt weist die Uno-Vertreterin darauf hin, dass in Frankreich im letzten Jahr über 63 000 Asylgesuche eingereicht worden seien, doppelt so viele wie in Grossbritannien. Zudem hätten seit Anfang Jahr bereits 1000 Bewohner des Dschungels dazu bewogen werden können, in Frankreich Asyl zu beantragen. Schliesslich hat das Uno-Flüchtlingswerk unlängst einen Appell an Grossbritannien gerichtet, zumindest zur Erleichterung von Familienzusammenführungen Hand zu bieten.

Mehr Polizei und Stacheldraht

Bisher haben sich die Regierungen dies- und jenseits des Ärmelkanals aber bloss auf eine noch engere Zusammenarbeit im Grenzschutz einigen können, mit zusätzlichen Polizeiaufgeboten und noch mehr Stacheldraht. Unlängst erklärten der französische Innenminister Bernard Cazeneuve und seine britische Amtskollegin Theresa May in Calais, sie wollten das Signal aussenden, dass die Grenze gemeinsam gesichert werde und illegale Grenzübertritte verhindert würden. Cazeneuve stellte auch fest, dass die Zahl der Versuche, illegal nach Grossbritannien zu gelangen, bereits abgenommen habe.

Der Dschungel ist indes geblieben und eher noch grösser geworden. Vertreter von Hilfsorganisationen vermuten, dass die Schlepperbanden bereits Ausweichrouten über nahe gelegene Häfen gefunden haben.

Kommentare geschlossen.