31. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Lesbos: Station auf der Flüchtlingsroute nach Mitteleuropa“ · Kategorien: Balkanroute, Griechenland, Türkei

Quelle: Telepolis

von Elke Dangeleit

An der Grenze zum Machbaren: Die wohlwollende Stimmung in der Bevölkerung der Insel kippt und weicht einer Resignation. Behörden und Hilfsorganisationen sind heillos überfordert

Die griechische Insel Lesbos liegt gegenüber der türkischen Küste. Die Ankunft mit der Fähre von Ayvalik (Türkei) im Hafen von Mytilini, der Hauptstadt der Ägäis-Insel Lesbos, ist die Ankunft in ein Drama.

Die kleine Fähre mit einigen Touristen und Inselbewohnern, die zum Einkauf auf dem türkischen Festland waren, hält neben einer riesigen Fähre nach Athen. Auf dem hinteren Deck drängen sich ca. 400 Flüchtlinge, die sich ein Ticket ergattern konnten – nach einer tagelangen Odyssee durch die Insel – unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Einen ersten Eindruck, was uns auf der Insel erwartet, bekommen wir schon am Hafen von Mytilini: Rechts von Zoll- und Passkontrollengebäude warten hunderte Flüchtlinge am Kai hinter einem Maschendrahtzaun, rechts ein Berg zerstörter Schlauchboote.

Die Weiterfahrt nach Skala Sikamineas führt vorbei an dem heillos überfüllten Flüchtlingslager von Mytilini. 5.000 Menschen warten dort auf ihre Registrierung und ein Ticket nach Athen. Immer wieder begegnen wir Gruppen von Menschen mit kleinen Kindern, die auf der gefährlich kurvenreichen Straße zu Fuß Richtung Mytilini unterwegs sind. In Buchten am Strassenrand lodern Lagerfeuer – die Waldbrandgefahr ist groß.

Skala Sikamineas ist ca. 50 km von Mytilini entfernt und liegt im Nordosten der Insel. In Serpentinen schlängelt sich die Strasse vom kleinen Hafen hoch zur Hauptstrasse nach Mytilini. An der Kreuzung ist ein Sammelpunkt der Flüchtlinge. Müll säumt die Strassen, es stinkt nach Kot und Urin, weil die Menschen ihre Notdurft in jeder kleinen Nische, im Gebüsch verrichten müssen.

Auf einem Plateau in einer Kurve der Serpentinenstrasse türmen sich aufgeschlitzte Schlauchboote, Schwimmwesten, Rettungsdecken, zurückgelassene Kleidung – es stinkt erbärmlich nach Gummi, keiner weiß, wohin mit dem ganzen Abfall. Die Dorfbewohner haben Angst, dass sich über den Müll und die Fäkalien Krankheiten übertragen könnten, dass die Erde in den Feldern, Wegen und Vorgärten kontaminiert werden und das Grundwasser verseucht werden könnte.

In einer Müllsammelaktion hatte die Dorfbevölkerung versucht, den Weg vom Hafen bis zur Kreuzung zu säubern – ein hoffnungsloses Unterfangen, denn ständig kommen neue Boote mit 50-80 Menschen an Bord, die sich angesichts der Hitze allen unnötigen Ballasts entledigen. Dorfbewohner haben am Strand Müllsäcke und Schilder in Arabisch und Farsi mit Piktogrammen aufgestellt, damit der Müll gleich dort entsorgt wird, doch sie werden von den Flüchtlingen kaum wahrgenommen.

Auch hier, wie auf der Insel Kos kommen die Einheimischen, um sich die Motoren oder anderes Brauchbares zu holen. Aber es gibt die Regel, dass derjenige, der sich Dinge einpackt, auch das Schlauchboot auf die Sammelstelle entsorgen muss. Das funktioniert scheinbar (noch) ganz gut, denn im Dorf ist das Gesprächsthema – wer war vor Ort und wer hat was mitgenommen.

Die meisten Flüchtlinge sind Syrer aus Damaskus und Aleppo

An der Kreuzung drängen sich hunderte von Menschen im kargen Schatten am Strassenrand, darunter viele erschöpfte Kleinkinder. Die Bevölkerung und freiwillige Helfer der Initiative ‚Help for refugees in Molyvos’ versorgen die Menschen mit Wasser, Keksen und Sandwiches für den Marsch nach Moria, einem Dorf bei Mytilini, wo das zentrale Aufnahme- und Registrierungszentrum ist. Busse, die die Flüchtlinge aufsammeln können, kommen hier selten vorbei. UNHCR und ‚Ärzte ohne Grenzen’ haben zwar Busse gechartert, aber die kommen meist an anderen Anlandestellen zum Einsatz.

Die meisten Flüchtlinge, die im Moment anlanden sind Syrer aus Damaskus und Aleppo, aber auch Afghanen, Iraker und Pakistani sind darunter. Schon der Weg durch die Türkei ist beschwerlich, wer das Geld besitzt, fährt mit dem Überlandbus nach Istanbul, der Rest macht sich zu Fuß auf den Weg.

Von Istanbul aus werden sie von Schleppern, die ihren Sitz in Istanbul haben, für 1500-2000 Euro mit Bussen von Istanbul incl. Überfahrt zum Ablegeort der Schlauchboote nahe Assos gebracht. Schon dort herrschen unvorstellbare Zustände: es gibt keine Toiletten, kein Wasser, keine Versorgungsmöglichkeiten für die Menschen, die in der glühenden Hitze auf das Schlauchboot warten – manchmal tagelang.

Die türkischen Behörden fühlen sich nicht zuständig. Ein Mädchen aus Damaskus berichtet an der Kreuzung nach Mytilini, dass sie von der türkischen Polizei geschlagen wurden. Voller Hoffnung erzählen die Kinder, dass sie nun in Sicherheit seien und weiter nach Deutschland möchten.

Das möchte auch der kurdische Syrer aus der Umgebung von Kobane, der vor dem IS geflohen ist und alles verloren hat – der IS hat sein ganzes Dorf zerstört. Diesen Nachmittag kommen noch 7 weitere Boote mit ca. 60 Insassen an, überwiegend ärmere Syrer und ein paar Afghanen.

Mittlerweile versuchen die Flüchtlinge im Dorf in die Gärten zu gelangen, um ihre Notdurft zu verrichten oder sich mit reifen Früchten zu versorgen.

Viele Häuser im Dorf stehen leer, weil die Besitzer auf dem Festland oder in Europa arbeiten. Das Dorf zählt mittlerweile nur noch ca. 250 Einwohner, die Zahl der Flüchtlinge übersteigt die Einwohnerzahl bei weitem.

Die Dorfbewohner kapitulieren: „Was sollen wir machen? Es sind zu viele“

Ein freiwilliger Helfer aus Molyvos ist vor Ort an der Kreuzung und berichtet, dass ein Bus von ‚Ärzte ohne Grenzen’ für ca. 50 Menschen kommen wird, wann, weiß keiner. Der Rest der aktuell 300 Menschen wird die Nacht auf der Straße verbringen müssen. Allein an diesem Tag sollen 1.000 Menschen an 3 verschiedenen Stellen auf der Insel gelandet sein, berichtet der Helfer. Das Camp bei Mytilini sei aber voll, deshalb gibt es erstmal keine weiteren Busse. Sobald die nächste Fähre zur Überfahrt nach Athen kommt, wird es wieder ein paar hundert Plätze darauf geben.

Wir sitzen in einem Innenhof im Dorf und diskutieren über die unkoordinierte Hilfe von Staat und Hilfsorganisationen, als es klopft und eine syrische Frau mit zwei kleinen Kindern darum bittet, die Toilette benutzen zu dürfen. Die Toilette der benachbarten Schule, gestern noch vereinzelt benutzt, dient heute den Massen als Toilette und Dusche, der Schulhof als Schlafplatz für die Nacht. Schnell ist die Toilette verstopft und nicht mehr benutzbar. Am nächsten Tag ist der Schulhof mit einem dicken Vorhängeschloss versehen, der Zaun um die Schule um weitere Gitter in die Höhe ergänzt, damit niemand mehr darüber klettern kann.

Die Dorfbewohner kapitulieren: „Was sollen wir machen? Es sind zu viele.“ Unmut über die Politiker wird laut: „Die Politiker hier machen nichts, weil sie Angst haben, wenn sie etwas an der Situation der Flüchtlinge verbessern, kommen noch mehr.“ In vielen Gesprächen hört man: „Welches Spiel spielt Europa, warum helfen sie uns nicht?“

Schnell werden die USA und Europa als die Hauptschuldigen ausgemacht. In der Tat übernimmt die Bevölkerung die Hauptversorgung der Flüchtlinge, UNHCR, Ärzte ohne Grenzen und lokale Hilfsprojekte sind jedoch auf die kaum vorhandene Logistik der Insel angewiesen. Die lokalen Behörden müssten Logistik wie Busse und fahrbare Toiletten zur Verfügung stellen, es müsste mehr Registrierungsstellen geben.

Der Transport nach Athen oder Thessaloniki müsste schneller gehen, die Weiterreise in die Nachbarländer müsste organisiert werden. Denn auch die Zustände in Athen sind anscheinend ähnlich schlimm. Auch von der für die Belange der Asylsuchenden zuständige Ministerin Tasia Christodoulopoulou hört man die gleiche Antwort wie von den Dorfbewohnern: „Aber was soll ich denn tun?“

Grenzen lösen sich auf. Neue Flüchtlinge aus der Osttürkei

An der griechisch-mazedonischen Grenze ist die Situation, wie bekannt, bereits dramatisch, dabei sind noch tausende auf dem Weg dorthin. Allein im Camp von Mytilini auf Lesbos warten 5.000 Menschen auf die Überfahrt aufs Festland und täglich landen neue Flüchtlinge. Ähnliches wird von den Inseln Samos, Kos oder Chios gemeldet.

Entspannung ist aber noch lange nicht in Sicht. Auch aus einem ganz anderen Grund, der noch nicht in den Fokus der westlichen Medien gerückt ist: angesichts der sich zuspitzenden Lage in der Osttürkei ist auch von dort – aus den kurdischen Flüchtlingslagern – mit noch mehr Flüchtlingen zu rechnen.

Angesichts der Bombardierungen des türkischen Militärs und des Polizeiterrors gegen die Bevölkerung in der Osttürkei werden sich die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak dort nicht mehr sicher fühlen. Niemand wird aber ernsthaft erwägen, sich in Nordsyrien in einer von Erdogan angestrebten ‚Sicherheitszone’ unter der Kontrolle der islamistischen Al Nusra – Front niederzulassen.

Die Angriffe der türkischen Armee auf die kurdischen Gebiete dürften weitere Hunderttausende in die Flucht treiben: nach Istanbul, auf die griechischen Inseln, in der Hoffnung auf ein sichereres Leben in Europa. Die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland existiert faktisch nicht mehr. Wer das Geld hat, riskiert die gefährliche Überfahrt mit Schleppern, zerreisst seinen Pass oder die UNHCR-Registrierungspapiere und reist ohne Papiere gen Europa. Diese Situation würde es natürlich auch IS-Terroristen sehr leicht machen, sich unter die Flüchtlinge zu mischen und so völlig unauffällig nach Europa einzusickern.

Nachtrag: An den Ufern bei Behramkale/Assos (Türkei) hat sich der Staat verabschiedet

Allein am Freitag, den 28. August, Tag kamen in Skala über 2000 Flüchtlinge an. Während hier die Bevölkerung und freiwilligen Helfer versuchen, den Flüchtlingsstrom an die Kreuzung zur Straße nach Mytilini zu organisieren, spielen sich auf der türkischen Seite Dramen ab, über die in der Presse nicht berichtet wird, weil sich kaum ein Journalist dort hinwagt.

Am Strand „Sokakağzı“ nahe dem Dorf „Sivrice koyu“, westlich von Behramkale (Assos), dem Startpunkt der Schlauchboote, regiert mittlerweile die Schlepper-Mafia.

Ein kanadischer Journalist berichtet mir, die Mafia würde in die Sommerhäuser der Istanbuler eindringen und diese als Stützpunkt verwenden. Sie laufen mit Maschinenpistolen herum, „von der türkischen Polizei keine Spur“.

Die Flüchtlinge, die nicht das gesamte Paket der Schlepper aus Istanbul buchen konnten, leben in wilden Camps, ohne Schatten, ohne Wasser, ohne jegliche Versorgung. Hier harren die Ärmsten der Armen der Dinge, in der Hoffnung doch noch einen erschwinglichen Platz für eine Überfahrt zu ergattern.

Auch hier herrscht die Klassengesellschaft: Während die meisten syrischen Flüchtlinge über die finanziellen Mittel für eine Überfahrt in den vergleichsweise „komfortablen“ großen, hochseefähigen Schlauchbooten verfügen, setzen die Afghanen, Iraker, Pakistani oder Somalier in völlig überladenen, kleinen Schlauchbooten über, die bei hohem Seegang manövrierunfähig sind – oder sie versuchen zu schwimmen: Fischer von Skala Sikamineas retteten am Freitag drei Personen aus dem Meer, die offensichtlich versucht hatten, die ca. 10 km schwimmend zu überqueren. Möglich ist auch, dass ihr Boot kurz nach dem Ablegen von der türkischen Küste gekentert ist.

Als Journalist kann man dort nicht arbeiten, berichtet der kanadische Journalist, weil die Schlepper die Journalisten bedrohen. Zuviel Aufmerksamkeit ist geschäftsschädigend. „Dort drüben existiert kein Staat mehr, es ist unfassbar, was sich dort abspielt“, berichtete der Kanadier mit sichtlichem Entsetzen im Gesicht. Er war vor einer Woche auf der türkischen Seite.

Meine Meinung: Es scheint, dass Erdogan sein Land absichtlich ins Chaos stürzen will, um am Ende putschartig sein Präsidialsystem durchsetzen zu können. Bleibt nur zu hoffen, dass die Bevölkerung dieses Spiel durchschaut.

Kommentare geschlossen.