28. August 2015 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlinge auf Lesbos · Kategorien: Griechenland, Türkei · Tags: ,

Quelle: nzz

Die Insel der Hoffnung

Die griechische Insel Lesbos ist ein Einfallstor zu Europa: 70 000 Flüchtlinge sind hier dieses Jahr schon angekommen. Die Hilfsbereitschaft ist gross, aber alle sind mit der Situation überfordert

Niklaus Nuspliger, Mytilen

Im Büro der Hafenbehörde von Mytilene, dem Hauptort der griechischen Ägäis-Insel Lesbos, sitzen drei Frauen an wuchtigen Schreibtischen und wühlen in Papierbergen. An den Wänden hängen alte Karten und eine vergilbte griechische Flagge. Ununterbrochen klingelt ein Telefon. Am Apparat sind Fischer, die wegen eines in Seenot geratenen Flüchtlingsbootes die Küstenwache alarmieren. Oder Behördenvertreter, mit denen es die Ankunft eines Schiffs zu organisieren gilt, das zumindest einen Teil der in Lesbos festsitzenden Flüchtlinge ans griechische Festland bringen soll. Weitere Anrufer melden, dass auf dem Hafengelände auch noch Tumulte ausgebrochen sind. «Es ist ein Albtraum», sagt Eleni Kelmali, die resolute Offizierin, die an diesem Augusttag das Kommando über die Hafenbehörde innehat.

10 Kilometer übers Wasser

Von der türkischen Küste aus, die an gewissen Stellen nur rund 10 Kilometer von der südlichsten Ägäis-Insel entfernt ist, erreichen im August an Spitzentagen über 2000 Bootsflüchtlinge Lesbos – Tag für Tag kommen neue hinzu. Zwei Drittel von ihnen sind Syrer, viele stammen aus Afghanistan und einige aus dem Irak, seltener kommen auch Menschen aus Pakistan, Eritrea oder Somalia an. Der Küstenwache fehlen die Kapazitäten, um der Lage Herr zu werden und um das gesamte Meer zu überwachen. Zwar hat Athen ein paar zusätzliche Boote entsandt. Wie viele Rettungsboote in Lesbos insgesamt im Einsatz stehen, halten die griechischen Behörden aber unter Verschluss. «Dass dieses Jahr bisher nur eine Person ertrunken ist, grenzt an ein Wunder», sagt Kelmali.

Die Küstenwache wird auch von einigen europäischen Teams unterstützt, die im Rahmen der Mission «Poseidon» von der EU-Grenzschutzagentur Frontex nach Lesbos entsandt worden sind. Neben einem portugiesischen Patrouillenboot und einem Rettungsschiff aus Norwegen ist auch ein Helikopter aus Litauen im Einsatz, der das Meer aus der Luft überwacht und die Retter auf in Seenot geratene Flüchtlingsboote aufmerksam macht. Auf einem Hügel steht zum gleichen Zweck ein rumänischer Lieferwagen mit Wärmebildkameras. Die meisten Flüchtlinge wagen die Überfahrt in überfrachteten Gummibooten ohne Schlepper an Bord. Wer etwas mehr bezahlt, lässt sich von einem Menschenschmuggler per Schnellboot nach Lesbos führen. Kürzlich orteten die rumänischen Frontex-Experten auf ihren Wärmebildkameras zwei Schlepper, die zwei zahlungskräftige Flüchtlinge auf Jet-Ski nach Lesbos bringen wollten, aber von der Küstenwache dingfest gemacht werden konnten. «Wir sind froh um Frontex», sagt Kelmali. «Aber die Lage ist so prekär, dass wir noch mehr Hilfe brauchen.»

Nachts auf Patrouille

Es ist 3 Uhr morgens, als Gil Cardoso, der Kommandant des portugiesischen Patrouillenboots , mit seiner vierköpfigen Crew in See sticht – ausgerüstet mit einem Nachtsichtgerät und einem Fernglas. An Bord ist auch ein Matrose der griechischen Küstenwache, der für die reibungslose Kommunikation mit der Einsatzzentrale sorgen soll, denn die Küstenwache des Gastlandes hat beim Frontex-Einsatz die Hauptverantwortung. Cardosos Schiff ist nur etwa zehn Meter lang und drei Meter breit, die Wellen peitschen in dieser stürmischen Nacht ins Bootsinnere.

«Wir haben den Auftrag, Flüchtlingsboote ausfindig zu machen und ihnen dabei zu helfen, unversehrt die griechische Küste zu erreichen», sagt Cardoso. Mit anderen Worten: Sobald ein Flüchtlingsboot die türkischen Territorialgewässer verlassen hat, unterstützen die griechische Küstenwache und Frontex die Passagiere bei der sicheren Überfahrt nach Lesbos – getreu geltendem Völkerrecht. Viele Bootsflüchtlinge wissen das aber nicht und ergreifen die Flucht, wenn sich ein Patrouillenboot nähert. Oder gefährlicher noch: Sie versuchen, ihr Boot zu zerstören, um die Helfer zu einer Rettungsaktion zu zwingen. «Darum müssen wir uns behutsam nähern und den Flüchtlingen per Megafon erklären, dass wir hier sind, um zu helfen.»

Cardosos Boot fasst eigentlich maximal rund 20 Personen. Doch in die Flüchtlingsboote werden 40 bis 50 Passagiere gepfercht. «Wenn eine Rettungsaktion nötig ist, dann müssen wir improvisieren», sagt Cardoso, «doch darin haben wir Portugiesen Erfahrung.» Über Funk gibt die Einsatzzentrale die Koordinaten eines mutmasslichen Flüchtlingsboots durch, doch die Portugiesen überlassen den Einsatz den griechischen Kollegen. Für Cardosos kleines Patrouillenboot ist die See in dieser Nacht zu stürmisch für einen heiklen Rettungseinsatz. «Sicherheit geht vor», meint der Kommandant und beordert die durchnässte Crew zurück in den Hafen.

Als Cardoso und seine Mannschaft Ende Mai ihren mehrmonatigen Einsatz auf der Insel Lesbos antraten, schickten die Schlepper die Flüchtlinge vor allem in der Nacht von der türkischen Küste los. Mittlerweile kommen die schwarzen Gummiboote vermehrt auch am helllichten Tag auf Lesbos an. Vor allem im Norden der Insel, wo der Seeweg am kürzesten ist. Die verlassenen Strände sind mit Überresten zerstörter Boote übersät, die Kieselsteine sind bedeckt mit Schwimmwesten und Schwimmhilfen für kleine Kinder, deren sich die Ankömmlinge nach der Ankunft auf der Insel entledigt haben.

Die Hitze ist bleiern an diesem frühen Nachmittag. In der Ferne treibt im ruhigen Meer ein diffuser, oranger Fleck. Nach und nach sind sind Menschen in orangen Schwimmwesten auf einem Gummiboot zu erkennen, dann ist das Tuckern eines Motors zu hören. Im Boot, in dem eigentlich nur 20 Personen Platz fänden, sitzen etwa 40 Syrer. Junge Männer, Familien, Frauen mit Kleinkindern im Arm. In ihren Gesichtern spiegeln sich Schock und Erleichterung: Die zweistündige Überfahrt ist überstanden, Europa ist erreicht. Die Menschen springen aus dem Boot ans Ufer, umarmen sich, rufen Angehörige an, machen Erinnerungsfotos. Zwei syrische Buben springen zur Abkühlung ins Meer, zwei bärtige Einheimische entfernen derweil den billigen Motor und den Benzintank vom Boot und machen sich eiligst aus dem Staub.

«Wo genau sind wir hier?»

Ein junger Flüchtling macht sich mit einem spitzen Stein am Gummiboot zu schaffen. Er stellt sich als Ahmed vor und erklärt, die Schlepper hätten ihn angewiesen, das Boot nach der Ankunft in Griechenland sogleich zu zerstören. Warum, weiss Ahmed nicht. Womöglich wollen die Schlepper die Kontrolle über ihr Geschäft sichern und verhindern, dass das Boot je wieder benutzt werden kann. «Wo genau sind wir hier?», fragt Ahmed. «Und wo ist die Polizeistelle?» Die Schlepper hätten den Flüchtlingen geraten, sich nach der Ankunft registrieren zu lassen, sagt er. Doch erfasst werden Neuankömmlinge nur im Hafen von Mytilene, über 60 Kilometer oder mehr als zwölf Stunden zu Fuss von Ahmeds Ankunftsstelle entfernt. Empfehlenswerter ist der Fussweg ins zwei Stunden entfernte Molivos weiter nordwestlich, wo die Chance besteht, einen Bus nach Mytilene zu erwischen. Guten Mutes eilt Ahmed seiner Reisegruppe hinterher und macht sich auf den hügeligen Weg.

Ein Tuch um den Kopf

Auf dem Weg nach Molivos wird Ahmed unzählige Gruppen von Flüchtlingen antreffen, die in den letzten 24 Stunden irgendwo an der Küste angekommen sind. In Kolonnen marschieren sie am Strassenrand, den Rucksack am Rücken, ein Frottiertuch auf dem Kopf zum Schutz vor der Sonne. Ahmed wird erschöpfte Mütter mit weinenden Kindern sehen, die im Schatten von Bäumen rasten – desorientiert, hungrig und durstig. Auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen die meisten vergeblich, obwohl ein griechisches Gesetz, das den Transport von illegal Eingereisten unter Strafe stellte, kürzlich ausser Kraft gesetzt wurde. Wenn Ahmed Glück hat, wird er in der dünnbesiedelten Gegend Anwohnern oder Touristen begegnen, die den Flüchtlingen Wasser oder Verpflegung spenden.

Bei der Busstation in Molivos im Norden der Insel warten zwei freiwillige Helfer, die etwas Ordnung ins Chaos zu bringen versuchen. Die Küstenwache von Lesbos sollte die erschöpften Flüchtlinge eigentlich nach Mytilene transportieren, doch der einzige Bus ist ausser Betrieb, und offenbar fehlt das Geld für die Reparatur. Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) betreibt drei Passagierbusse, auch ein Bus der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières ist im Einsatz. Da die Kapazitäten nicht für alle Ankömmlinge reichen, gehen viele zu Fuss nach Mytilene.

So tat es auch der auch der 29-jährige Hamid und ist nach Mytilene gewandert. Etwa einen Tag und eine Nacht lang war er unterwegs. So genau weiss er das nicht mehr. Hamid ist Afghane und sagt, er habe als Übersetzer für die Amerikaner gearbeitet. Nach dem Abzug der amerikanischen und der Nato-Truppen geriet er ins Fadenkreuz der Taliban, fürchtete um sein Leben und entschloss sich zur Flucht. Obwohl es ihm schwerfiel, seine Familie zurückzulassen. Vor allem seinen kranken Vater, den er wohl nie mehr wiedersehen wird.

Hamids Weg führte ihn zunächst über eine Schmugglerroute nach Iran, wo er sich nach Teheran und bis zur türkischen Grenze durchschlug. Nach dem Grenzübertritt zu Fuss reiste er mit dem Bus nach Istanbul und von dort an die Küste, von wo Lesbos und Europa zum Greifen nah erscheinen. In der Küstenregion rund um Izmir komme man schnell mit den Schleppern in Kontakt, erzählt er. Es gebe informelle «Reisebüros», welche die Überfahrt nach Griechenland organisierten.

Das Budget beträgt 2000 Dollar

1000 Dollar hat er den Schleppern bezahlt, was knapp der Hälfte seines Budgets für die ganze Flucht entspricht. Die Schlepperorganisationen garantieren den Flüchtlingen, dass die Summe nur fällig wird, wenn die Überfahrt auch glückt. Das Geld hinterlegte Hamid darum bei einem Mittelsmann in der Türkei, den er informierte, als er sicher in Lesbos angekommen war. Die türkische Küstenwache hält zwar immer wieder auslaufende Flüchtlingsboote an und nimmt die Passagiere für kurze Zeit in Haft – bevor sie den nächsten Fluchtversuch unternehmen. Wie die meisten Flüchtlinge passierte aber auch Hamid die türkisch-griechische Seegrenze völlig ungehindert.

Während manche Flüchtlinge nur rudimentäre Fluchtpläne haben, hält sich Hamid mit seinem Handy via Facebook über die Entwicklungen entlang seiner Route auf dem Laufenden. Über Mazedonien, Serbien und Ungarn will er nach Deutschland weiterreisen. Dort verfüge er über Kontakte, die ihm dabei helfen wollen, als Übersetzer eine Arbeit zu finden. Besorgt erkundigt er sich nach der Lage an der griechisch-mazedonischen Grenze, wo die Armee die Flüchtlinge gewaltsam am Übertritt zu hindern versuchte. Und nach dem Zaun, den die ungarische Regierung an der Grenze zu Serbien errichtet.

Vorerst aber will Hamid nach Athen weiterreisen – kein leichtes Unterfangen, da in der touristischen Hauptsaison alle Fähren ausgebucht sind. Vor den Ticketschaltern der Fährgesellschaft auf dem Hafengelände von Mytilene bilden sich lange Schlangen, aber nur alle drei bis vier Tage läuft ein von der Regierung in Athen organisiertes Passagierschiff ein, das die Flüchtlinge von den ägäischen Inseln ans griechische Festland bringt. Ganze Zeltstädte von Gestrandeten und Wartenden haben sich am Hafen gebildet – in den lokalen Geschäften sind Zelte längst Mangelware geworden. Immer wieder kommt es zu Handgemengen oder zu kleinen Demonstrationen, bei denen junge Männer auf Transparenten aus Pappkarton mehr Transportmöglichkeiten nach Athen verlangen.

Griechische SIM-Karte

Zwei UNHCR-Busse fahren am Hafen ein und halten neben einer improvisierten Meldestelle, in der zwei Beamte der Hafenbehörde die Personalien jedes einzelnen Flüchtlings aufnehmen. Erschöpft steigen die Neuankömmlinge aus den Bussen und reihen sich in die Schlange vor der Baracke ein, in der sich bereits Hunderte drängeln. Die Wartezeit beträgt Stunden, Mitarbeiter lokaler Telekomanbieter verkaufen den Flüchtlingen griechische SIM-Karten für ihre Mobiltelefone. Wer keinen Pass auf sich trägt, hat bei der ersten Erfassung auf einem rudimentären Zettel seine Personalien anzugeben. Die Hafenbehörde leitet die Daten dann an die Polizei weiter, die ein Verfahren wegen illegaler Einreise einleitet und die Migranten gemäss den EU-Regeln registrieren und ihnen Fingerabdrücke nehmen muss . Erst dann dürfen sich die Flüchtlinge für eine begrenzte Zeit in Griechenland aufhalten, wo sie ein Asylgesuch stellen können. Vor allem aber erhalten sie nach der Registrierung die Erlaubnis, ein Ticket nach Athen zu kaufen – von wo die meisten in Richtung Westeuropa weiterziehen.

Den Hafen von Mytilene bevölkern zu jeder Tages- und Nachtzeit Hunderte von Flüchtlingen. An der angrenzenden Promenade und in den engen Gassen der Altstadt fügen sie sich hingegen nahtlos ins Strassenbild der lebendigen Stadt ein. Eine Gruppe afghanischer Jugendlicher flaniert scherzend zwischen den Einheimischen und den spärlichen Touristen. Junge Syrer sitzen rauchend in Cafés, wo sie ihre Mobiltelefone aufladen und über WiFi-Verbindungen mit Freunden skypen.

Von Athen im Stich gelassen

Über 70 000 Flüchtlinge haben dieses Jahr die Insel Lesbos erreicht, die normalerweise rund 80 000 Einwohner zählt. Die Lokalbevölkerung ist mit dem Ansturm überfordert, und sie fühlt sich von Athen und Europa im Stich gelassen. Dennoch gäbe es viele Geschichten von Einheimischen zu erzählen, die Neuankömmlinge mit trockenen Kleidern, Wasser oder Nahrung versorgen oder gar kleine Lager aufbauen und damit an die Stelle des nicht funktionierenden Staates treten.

Offene Feindseligkeit gegenüber den Flüchtlingen ist hingegen relativ selten. Aber unter der Oberfläche gärt es. In Mytilene machen Gerüchte von sexuellen Übergriffen die Runde oder von ansteckenden Krankheiten, welche die Flüchtlinge verbreiteten. «Diese Leute müssen weg von hier, es sind einfach zu viele», sagt ein älterer griechischer Beamter, der auf einer Parkbank im Schatten sitzt. «Die Türken schicken uns die alle rüber», klagt er, «sie müssen die Lage unter Kontrolle bringen.» Die Türkei hat über 1,8 der gut 4 Millionen syrischen Flüchtlinge aufgenommen. In Europa haben seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 nach Zahlen der Uno etwa 350 000 Syrer ein Asylgesuch gestellt.

Das alte Militärcamp von Moria liegt in einer staubigen Einöde etwa zehn Kilometer nördlich von Mytilene. Die Stacheldrahtzäune erinnern an ein Internierungslager. Hierhin bringt die Polizei die Flüchtlinge zur offiziellen Registrierung – abgesehen von den unzähligen Syrern, die aus Kapazitätsgründen anderswo untergebracht sind. Die überfüllten Baracken fassen etwa 700 Menschen – was nicht einmal annähernd reicht, um allen Anwesenden einen Schlafplatz zu geben. Rund um das Camp haben die Behörden und die Flüchtlinge Zelte aufgestellt und gebastelt, in denen fast 2000 Personen unter prekären Bedingungen tagelang darauf warten, bis sie zur Registrierung ins Innere des Camps vorgelassen werden.

Der Zugang zu medizinischer Versorgung und Wasser ist limitiert. Als ein Wagen mit Nahrungsrationen vorfährt, die die Polizei bestellt hat, umzingelt eine Horde junger Männer das Auto, um im Handgemenge einen Teller zu ergattern. Da kein Polizist eingreift, sorgen einige Afghanen selber dafür, dass Frauen und Kinder nicht leer ausgehen.

Polizeimajor Kostas Papazoglou sitzt in einer klimatisierten Baracke, auf dem Plastic-Tisch vor ihm liegt eine Frontex-Wegleitung zur Befragung von Migranten. «Wir haben hier nur acht Polizisten, die jeden Tag im Einsatz stehen», sagt Papazoglou. «Wir würden etwa 50 Beamte brauchen, um die Sicherheit auch draussen vor dem Camp gewährleisten zu können.» Doch habe die Regierung in Athen angesichts des Sparprogramms kein Geld, um Verstärkung zu schicken. Und von den mehreren Millionen Euro, welche die EU Mitte August zur akuten Bewältigung der Flüchtlingskrise für die griechische Regierung freigab , sei noch kein Cent in Moria angekommen.

Der Polizeimajor wünscht sich mehr europäische Hilfe. Anwesend im Camp sind immerhin eine Handvoll Experten und Übersetzer von Frontex. Sie führen Interviews mit den Neuankömmlingen, um deren Nationalität zu bestimmen und zu überprüfen, ob sie ihre Herkunft zu verschleiern versuchen. Das ist in Lesbos aber selten der Fall, da es sich beim Grossteil der Migranten unbestreitbar um Flüchtlinge aus Konfliktgebieten handelt. Eigentlich wäre bei Frontex Geld für zusätzliche Unterstützung vorhanden. Doch müssten die europäischen Staaten bereit sein, über Frontex mehr Schiffe und Personal nach Griechenland zu entsenden.

Obwohl es den Beamten an Computern und Scannern mangelt, versichert Papazoglou, dass in Moria allen anwesenden Flüchtlingen ordnungsgemäss die Fingerabdrücke genommen werden. Überprüfen lässt sich das nicht. Fest steht allerdings, dass die Tausenden von Syrern, die nicht im Camp von Moria untergebracht sind, die Insel wieder verlassen, bevor sie offiziell registriert worden sind.

Die Polizei stellt den syrischen Flüchtlingen ein paar Tage nach der ersten Erfassung am Hafen direkt eine Reiseerlaubnis nach Athen aus, wo sie sich bei der Polizei registrieren lassen sollen. Ob sie dieser Aufforderung nachkommen, überprüft in Athen niemand. Selbst wenn sich ein Syrer an die EU-Regeln halten wollte, statt irregulär nach Westeuropa weiterzureisen, müsste er in Athen Wochen auf einen Termin zur Registrierung warten. Eine Infrastruktur zur Aufnahme der Flüchtlinge gibt es auf dem Festland nicht.

Dreizehnköpfige Grossfamilie

Manche Syrer können es sich leisten, in Mytilene in einem Hotel auf die Weiterreise nach Athen zu warten. Der 17-jährige Abdur Rahim hingegen verbringt die Wartezeit wie die meisten seiner syrischen Landsleute im improvisierten Auffanglager «Kara Tepe» auf halbem Weg zwischen Mytilene und Moria. Abdur Rahims dreizehnköpfige Grossfamilie hat hier ein Zelt ergattert, in dem es heiss ist wie in einem Treibhaus. Das Familienoberhaupt ist Abdur Rahims Schwager Mohammed, das jüngste der sechs kleinen Kinder ist drei Jahre alt. Abdur Rahim hat an der Universität Französisch studiert und beherrscht als einziger der Reisegruppe Fremdsprachen.

Seine sunnitische Bauernfamilie stammt aus einem Dorf im Osten Syriens am Ufer des Euphrats. Aus einem ländlichen Gebiet, das unlängst unter die Kontrolle der Terrororganisation Islamischer Staat gefallen ist. «Nach den Greueln von Präsident Asad will ich nicht, dass meine Kinder auch noch in einem fundamentalistischen Gewaltregime aufwachsen müssen», übersetzt Abdur Rahim die Worte seines Schwagers. Darum hat sich Mohammed entschieden, alles Geld zusammenzukratzen und mit der Familie nach Europa zu fliehen – ohne klares Ziel vor Augen.

Thunfisch von Lidl

Mohammed will versuchen, von Athen nach Deutschland zu gelangen, wo sich am einfachsten eine Arbeit finden lasse. Ein Bruder Mohammeds erkundigt sich nach den Verhältnissen in Belgien und fragt, wie einfach es denn sei, von Frankreich über den Ärmelkanal nach Grossbritannien zu gelangen. Alle aber hoffen sie, wieder in ihr Heimatdorf zurückzukehren, wenn der Krieg in Syrien dereinst zu Ende ist. Insha’Allah – so Gott will.

Abdur Rahims Schwester trägt Brot auf und Büchsenthunfisch aus dem Lidl-Supermarkt gleich neben dem Auffanglager. Dazu Zwiebeln und Tomaten, die Mohammed lokalen Fahrenden abgekauft hat. Diese haben das Auffanglager als lukrativen Marktplatz entdeckt. Eine zuverlässige und ausreichende Versorgung mit Mahlzeiten gibt es im Lager ebenso wenig wie eine Polizeipräsenz. Es mangelt an Zelten, die sanitären Anlagen sind schmutzig und rudimentär. Das Angebot des UNHCR, den Aufbau und die Leitung des Camps zu übernehmen, haben die Lokalbehörden von Mytilene bisher wegen bürokratischer Vorbehalte abgelehnt.

«Es ist schlimm hier», sagt Abdur Rahim, «schlimmer als in den Lagern in der Türkei.» Er lässt den Blick aus dem Zelt ins Freie schweifen. Auf dem Boden liegen alte Flaschen, Plasticsäcke und Papierfetzen, in der Luft liegt der Geruch von Urin und Schweiss. «Wir erhoffen uns viel von Europa. Aber auf Lesbos hat sich der europäische Traum vorerst zerschlagen.»

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