21. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die Mehrklassengesellschaft des Flüchtlingslebens“ · Kategorien: Griechenland, Türkei

Quelle: Telepolis

Eindrücke von der Insel Kos – Schleuser, Helfer und Abzocker

Wassilis Aswestopoulos

Unter den Flüchtlingen auf der Mittelmeerinsel Kos herrscht eine Mehrklassengesellschaft. Ganz oben auf der Pyramide stehen die Syrer. Sie werden von den Behörden im Eilverfahren als Asylanten anerkannt. Zudem stammen die meisten von ihnen entweder aus der Oberschicht oder aus der oberen Mittelschicht. Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler, Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker und Philologen finden sich zwar obdachlos, selten aber wirklich mittellos auf der Insel ein.

Es mag seltsam anmuten, in der Hand eines am Straßenrand campierenden Syrers ein iPhone jüngster Generation zu entdecken. Viele haben sogar ihr Tablet über die lange Fluchtroute gerettet. Die Antworten auf viele Fragen sind denkbar einfach, zeigen aber auch, dass hinter allem eine profitable Systematik steckt.

Die absolute Oberschicht der Syrer kommt nicht per Schlauchboot. Die Super-Reichen des vom Bürgerkrieg geschüttelten Landes chartern sich in Bodrum eine Yacht und setzen standesgemäß über. Sie mieten sich in teuren Hotels ein und kümmern sich nicht wirklich um das Schicksal der übrigen Landsleute. Der Unterschied in der Klassenzugehörigkeit der Flüchtlinge aller Länder vor ihrer Flucht macht sich an allen Ecken und Enden bemerkbar.

Eine abenteuerliche Überfahrt mit Klassenunterschieden

Bemerkenswert ist, dass Afghanen, Pakistani und Afrikaner im westlich von der Stadt Kos gelegenen Gebiet um den Leuchtturm anlegen und meist tief in der Nacht ankommen. Sie benutzen sehr oft nur Ruder, um ihr Schlauchboot voranzutreiben. Zur weiteren Ausstattung zählen Taschenlampen oder elektrische Laternen, die, wie offenbar von den Schleppern beabsichtigt, nach zehn bis dreißig Minuten den Geist aufgeben. Den Bootsinsassen bleibt nicht viel mehr übrig, als verzweifelt auf das Leuchtturmlicht zuzusteuern.

Die Syrer kommen dagegen bevorzugt im Morgengrauen. Die Boote legen im Bereich der Psalidi Beach an. Hier gibt es die Luxushotels mit All Inclusive Service. Für die Syrer bedeutet dies, dass sie am Strand auf sich sonnende Urlauber treffen können.

Sie haben motorisierte, jedoch auch hoffnungslos überladene Schlauchboote. Kein Boot, ob mit Syrern oder anderen Landsleuten gefüllt, kommt auf Kos an, ohne dass mindestens die Hälfte des Innenraums unter Wasser steht. Zudem wird fast immer eine der Luftkammern der Schlauchboote auf ungefähr der Mitte der Wegstrecke, spätestens jedoch in Strandnähe durchlöchert. Damit gelten die Boote als in Seenot befindlich und können von der Küstenwache nicht wieder abgetrieben werden. Die Fahrt dauert per Ruderboot knapp drei Stunden. Bodrum ist von Kos aus leicht erkennbar. In der Nacht sieht man sogar die Lichter der fahrenden Autos, sofern diese Fernlicht einschalten.

Per Motorboot dauert der Trip für die Syrer knapp eine bis anderthalb Stunden. Ein unter normalen Bedingungen fahrendes Fischerboot könnte die ungefähr vier Kilometer dagegen leicht in einer halben bis dreiviertel Stunde bewältigen.

An der Küste haben die Fotografen, abgesehen von den durchnächtigten Arbeitstagen, einen recht simplen Job, wenn es um das Auffinden eines ankommenden syrischen Bootes geht. Die syrischen Boote sind wegen des Lichts des Morgengrauens am Allerleichtesten zu erkennen. Vom Strand aus ist jedes Boot, aber auch das Katz-und-Maus-Spiel der griechischen Küstenwache und der türkischen Schiffe leicht erkennbar.

Oft haben die Türken drei größere Boote im Wasser und auf griechischer Seite steht ihnen ein erheblich kleineres, aber flottes Schnellboot gegenüber. Irgendwann erscheint das winzige Schlauchboot zwischen den türkischen Patrouillenbooten und steuert im Zickzackkurs auf den Strand zu. Dann gilt es für Fotografen und Journalisten, den Strand entlang zu fahren und auf mit Straßenkleidung bekleidete Personen nebst zugehörigem geländegängigem Fahrzeug zu achten. Genau diese Personen geben dem Fahrer des Boots das Zeichen, an welchem Punkt der Küste er anlegen soll.

Die Boote legen an und die Menschen springen ins Wasser. Sie lassen alles zurück, was an die Überfahrt erinnert. Rettungswesten werden achtlos auf den Strand geworfen. Die nasse Kleidung wird gegen trockene Sachen ausgetauscht. Mitgebrachte Kinder werden mit Handtüchern abgetrocknet. Die Syrer streben flugs auf die Strandpromenade und wandern in Richtung Zentrum von Kos Stadt.

Im gleichen Moment tauchen wie Aasgeier Personen auf, welche sich die besten der Schwimmwesten herauspicken. Der Geländewagen wird mit den verwertbaren Materialien des Schlauchboots, oft sogar mit dem leicht beschädigten Boot selbst beladen. Routine im Handeln ist erkennbar.

Dann taucht ein Polizeiwagen auf der Uferstraße auf. Umständlich versuchen die Beamten den Wagen so zu parken, dass er den Verkehr nicht behindert. Sie sind am Ort des Geschehens, wenn die „Aasgeier“ ihr Werk vollendet haben. Kommt es einmal zum Zusammentreffen der Sammler und des Lotsen mit der Polizei, dann ist der typische Spruch zu hören: „Das ist aber das letzte Mal, ja? Beim nächsten verhafte ich Euch auf frischer Tat.“

Für die Beobachtung eines anlegenden Boots der übrigen Flüchtlinge reicht es, sich in die Nähe des Gebiets des Leuchtturms zu setzen. Fotografen kommen in der tiefen Nacht freilich kaum an gute Bilder, es sei denn sie haben die allerneueste und teuerste Ausrüstung, wie sie zum Beispiel bei Reuters zum Standard zählt.

Die frisch angekommenen Flüchtlinge sind bei Journalisten und Fotografen heiß begehrt. Noch sind die meisten kaum misstrauisch und geben frank und frei Auskunft zu allen möglichen Fragen. Je länger der Aufenthalt dauert, umso feindlicher wird die Einstellung der Flüchtlinge gegenüber der Presse. Mit jedem Tag merken sie, dass sie für nahezu alle anderen Personen auf der Insel entweder ein Ärgernis oder eine Quelle zum Geldverdienen sind.

Das Preisgefüge und die falschen Papiere

Tatsächlich variieren sogar die Preise für die riskante Überfahrt per Schlauchboot je nachdem, wie reich oder kräftig der Passagier ist oder welche konkrete Stammeszugehörigkeit er hat. Kräftige Männer zahlen für die vier Kilometer von Bodrum nach Kos von 100 bis knapp 1000 Dollar.

Für 100 Dollar pro Kopf bekam zum Beispiel ein wohltrainierter Afghane, dessen Vater noch in der Heimat ist, für sich und seine Familie einen Platz im mit Rudern vorangetriebenen Schlauchboot, welches von Bodrum zum Strand um den Leuchtturm der Insel Kos übersetzte. Der Vater arbeitet seit dem Afghanistankrieg mit den Streitkräften der USA zusammen. Die Verbindungen aus der Heimat halfen auch beim Feilschen mit den Schleppern.

Ein anderer Afghane, ein wahrer Hüne, der trotz seines jugendlichen Alters von 17 Jahren und der entbehrungsreichen Flucht von Pakistan aus nach Kos kam, zahlte 650 Dollar. „Gott sei Dank hatte der Schlepper Mitleid mit mir“, meinte er. An Gottes Hilfe manifestiert er auch sein weiteres Glück. Denn anders als die Mehrzahl der übrigen auf Kos wortwörtlich gefangenen Afghanen, Pakistani und Afrikaner kam er an passende falsche Papiere für die Überfahrt. Für 150 Euro verteilt ein Schlepperring das notwendige Dokument an all jene, die noch zahlen können und die hinsichtlich ihres Aussehens bei einer Kontrolle auch als Syrer durchgehen könnten.

Bei dem Dokument handelt es sich um eine schlichte, mit Passfoto und Stempeln versehene DIN-A4-Seite. Darauf werden Namen und Herkunft des registrierten Flüchtlings oder Immigranten vermerkt. Für Syrer und Palästinenser aus dem Gaza-Streifen gibt es die so genannte Fast-Track-Anerkennung. Sie erhalten sofort einen sechsmonatigen Aufenthaltsstatus und können sich frei im Land bewegen. Bei den als Migranten eingestuften Leidensgenossen sind die Regionen Attika, Patras, Kilkis und Igoumenitsa als verbotene Zonen vermerkt. Denn von diesen Orten aus ist die Weiterreise ins übrige Europa möglich.

Von Kilkis aus geht es im Landweg über die EJR Mazedonien, die bei den Flüchtlingen nur als Mafidonien bekannt ist, nach Serbien, von dort nach Ungarn und schließlich nach Österreich oder Deutschland. Von Patras und Igoumenitsa aus fahren Fähren nach Italien. Schließlich liegt der Hafen von Piräus in der Attischen Region. Und genau nach Piräus fahren die Fähren der Schiffslinien, über die Kos ans griechische Festland angebunden ist.

Für Menschen ohne offiziellen Flüchtlingsstatus bedeutet dies nichts anderes, als dass sie auf Kos bleiben müssen. Denn auch auf die vom Staat gecharterten Extra-Fähren, die nach Thessaloniki fahren, kommen nur Syrer und Palästinenser.

Allerdings muss auch diese privilegierte Gruppe auf Einschränkungen der eigentlich zu erwartenden Rechte einstellen. Ohne Anbindung an eine Gruppe, offensichtlich also an einen organisierten Schleuserring, werden die Flüchtlinge bei der Polizei immer wieder vertröstet. Zumindest bestätigten dies diejenigen der Einzelreisenden, welche Telepolis finden und sprechen konnte. Eine direkte Korrelation der Passagepreise mit dem Gruppenstatus ließ sich dagegen nicht finden. Die statistischen Angaben für die Überfahrt reichen im Fall allein reisender Damen bis zu 1.200 Dollar.

Woher bekommen die Flüchtlinge das Geld?

Die hohen Preise für die Flucht lassen bei vielen Beobachtern und interessierten Lesern die Frage aufkommen, wie die Flüchtlinge so viel Geld für die beschwerliche und risikoreiche Reise aufbringen können.

Im Fall der Afghanen kostet die Reise aus dem Heimatland in den Iran mindestens 1.000 Dollar. Für die Weitereise in die Türkei nach Istanbul sind wenigstens weitere 1.600 Dollar nötig. Die Passage vom Iran in die Türkei wird überwiegend per Pedes organisiert. „I saw a lot of dead bodies in the mountains“ – „Ich sah viele Leichen in den Bergen“ war ein Teil der typischen Wegbeschreibung eines jungen Afghanen.

Von Istanbul aus zur Mittelmeerküste der Türkei sind erneut knapp 1.000 Dollar fällig. Und schließlich muss auch noch die Passage nach Kos, Lesbos oder eine der anderen griechischen Inseln bezahlt werden. Falls das Schlauchboot, mit dem die Flüchtenden die Türkei verlassen möchten, die Überfahrt aus welchen Gründen auch immer nicht schafft, dann müssen die Betroffenen erneut für eine Passage zahlen. Ermäßigungen gibt es nicht.

Summa summarum kommen viele Flüchtlinge und Immigranten auf Kosten von 6.000 Dollar, um in die ersehnte EU zu gelangen. Bei den meisten Syrern ist die Frage der Geldquelle leicht zu klären. Die Mittelschicht des umkämpften Landes verkauft all ihr Hab und Gut und macht sich dann auf den Weg. Das mitgebrachte Tablet oder das iPhone ist dann meist die einzige Erinnerung an ein früheres, unbeschwertes Leben. Zudem dient es für den Kontakt in die Heimat.

Dieser Kontakt wiederum ist auch Schleppern wichtig. Denn so gelangen sie über die Mundpropaganda an neue Kunden. Die Schlepper tun im Übrigen alles, um die gesamte Fahrt und Passage gefährlich erscheinen zu lassen. Das gilt auch für die Weiterreise ins übrige Europa. Die Schlepper lassen sich alle ihrer Dienste teuer bezahlen.

Für Flüchtlinge aus Afghanistan oder Pakistan bedeutet dies, dass sie auf ihren Zwischenstationen nach Arbeit suchen. Sie dienen im Iran oder in der Türkei als willkommene Arbeitssklaven, die klaglos und bis zur Erschöpfung oft gesundheitsgefährdende Arbeiten ausführen. Rechtlos und sparsam versuchen sie, dabei so viel wie möglich zur Seite zu schaffen. Kommt es dennoch zu einem finanziellen Engpass, so bitten sie die Verwandtschaft in der Heimat um ein Darlehen, welches dann per Überweisung via Western Union gewährt wird. Somit ist das Mobiltelefon, welches vor Ort mit der jeweils passenden SIM-Karte ausgestattet wird, für die Reisenden wortwörtlich überlebenswichtig.

Das weitere Schicksal

Hilfe erhalten die Gestrandeten auf den griechischen Inseln meist vor allem von den Bürgern, aber auch von Touristen. Der griechische Staat ist vollkommen überfordert und kann vor allem in seiner jetzigen finanziellen Lage kaum etwas bewegen.

So sind auf Kos die Glücklicheren der Afghanen, Pakistani und Afrikaner im vollkommen desolaten Hotel Captain Elias untergebracht. Sie vegetieren dort ohne sanitäre Anlagen und elektrischen Strom buchstäblich Körper an Körper schlafend.

Für die Syrer wurde die Fähre Eleftherios Venizelos gechartert. Diese fährt am Donnerstag zum ersten Mal 2500 Syrer und Palästinenser nach Athen. Für die Überfahrt müssen die Flüchtlinge ungefähr 65 Euro bezahlen. Tickets, die sie für andere Linienschiffe erworben hatten werden nicht erstattet.

Schließlich kommen trotz Ticket nur diejenigen auf ein Schiff, die einen echten oder perfekt gefälschten Passierschein vorweisen können. Mehrere Tausend Flüchtlinge und Immigranten sitzen somit auf Kos für unbestimmte Zeit fest.

Täglich kommen nach Angaben, die Staatsminister Alekos Flabouraris bei der Eröffnung des Flüchtlingscamps Eleonas bei Athen machte, 5.000 neue Bootsflüchtlinge auf den griechischen Inseln an. Das Camp Eleonas bietet jedoch nur wenigen hundert Menschen Platz. Somit ist mitten im politischen Chaos in Athen ein humanitäres Drama vorprogrammiert.

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