20. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Sechs Gründe für die steigenden Flüchtlingszahlen“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Zeit Online

Bis zu 800.000 Menschen sollen in diesem Jahr in Deutschland Asyl beantragen. Die Bundesregierung korrigiert eine frühere Prognose deutlich nach oben. Woran liegt das?

von Paul Middelhoff

Manchmal verändern Zahlen die Wahrnehmung einer Krise. So war es auch an diesem Mittwoch, als Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor die Presse trat und eine neue Schätzung darüber abgab, wie viele Menschen in diesem Jahr in Deutschland Asyl beantragen werden. Rund 450.000 Asylbewerber – so lautete die Prognose bisher. Nun geht der Innenminister davon aus, dass in diesem Jahr fast doppelt so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden: 800.000, vielleicht sogar eine Million. Wie viele es genau werden, weiß niemand zu sagen, doch klar ist schon jetzt: Die Planung vieler Kommunen wird kaum zu halten sein. Sie werden weit mehr Unterkünfte, Lebensmittel und Schulplätze zur Verfügung stellen müssen als bisher gedacht.

Allerdings ist fraglich, ob die Prognose nicht zu hoch gegriffen ist. Zwar steigt die Zahl der Asylsuchenden laut der offiziellen Statistik stark an. Doch in den ersten sieben Monaten des Jahres zählte das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) weniger als 200.000 Erstanträge auf Asyl (siehe Grafik). Im Juli registrierte das Amt 37.531 Erstanträge. Die Zahlen müssen also in den verbleibenden Monaten des Jahres drastisch steigen, damit die Prognose des Innenministers zutrifft.

Doch warum steigen die Flüchtlingszahlen im Moment überhaupt so schnell? Im Wesentlichen gibt es dafür sechs Gründe:

1. Das Geschäft mit den Flüchtlingen wächst

Seit Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien im Jahr 2011 und dem Erstarken der Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Irak hat sich im Nahen Osten und Teilen Nordafrikas eine Flüchtlingsindustrie entwickelt. In Libyen, dem Libanon und der Türkei bieten Schlepperbanden den Vertriebenen eine vermeintlich sichere Überfahrt nach Europa an – per Lastkahn von Libyen über das Mittelmeer auf die Insel Lampedusa, im Schlauchboot an der Ägäis-Küste entlang nach Griechenland oder auf der Ladefläche von LKWs über die türkische Grenze nach Ungarn oder Bulgarien.

Der Profit für die Schlepper ist hoch: Für die Überfahrt von Libyen aus bezahlen Flüchtlinge bis zu 6.000 Euro pro Person. Am Handy werden die Details für die Überfahrt besprochen, gezahlt wird im Voraus, dann beginnt die strapaziöse Reise nach Italien oder Spanien. Doch nicht jeder kann sich die teure Fahrt über das Mittelmeer leisten.

In der Türkei bieten Schlepper deshalb eine kostengünstigere Alternative an. Für rund 1.100 Euro werden Flüchtlinge dort mit Schlauchbooten an der Ägäisküste entlang auf die nahen griechischen Inseln Kos, Chios und Samos gebracht. Allein im Juli sind auf diese Weise laut EU-Kommision 50.000 Menschen nach Griechenland gelangt. Von dort aus reisen die Flüchtlinge weiter nach Mitteleuropa – auch nach Deutschland. „Die Schlepper sind ein ökonomisches Phänomen: Sie besitzen ein Monopol auf einem Markt mit extrem hohen Renditen“, sagt der Migrationsforscher Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. „Die vermehrte Seeüberwachung und das hohe Risiko bei Passagen über das Mittelmeer führen wohl zu einer Verlagerung der Ströme von Asylsuchenden.“

2. In vielen Krisenstaaten gibt es keine Aussicht auf Besserung

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind 220.000 Menschen in den Gefechten zwischen den Truppen von Präsident Baschar al-Assad und verschiedenen Rebellen-Gruppen gestorben. Die Regierungsarmee wirft Fassbomben über Wohngebieten ab und nutzt Zivilisten als Schutzschild. Auch die islamistische Terrormiliz „Islamischer Staat“ destabilisiert die Region: Seit Anhänger des IS im vergangenen Jahr im Irak und Teilen Syriens das Kalifat ausriefen, führen sie einen brutalen Glaubenskrieg gegen Schiiten und säkulare Sunniten in der Region. „Eine Aussicht auf Besserung der Konflikte in Syrien und Irak ist derzeit nicht in Sicht. Auch deshalb entschließen sich Menschen, ihre Heimat Richtung Europa zu verlassen“, sagt der Sprecher des Flüchtlingswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR), Stefan Telöken.

Während immer mehr Menschen im Nahen und Mittleren Osten vor Bürgerkriegen fliehen, verlassen die Einwohner der Balkanstaaten aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise zu Tausenden ihr Land. Im Kosovo, dem ärmsten Land Europas mit 1,7 Millionen Einwohnern, lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt laut UN bei 35 Prozent. Ähnlich sieht die Situation in Albanien, Serbien und Mazedonien aus – besonders junge Leute verlassen ihre Heimat, um in anderen europäischen Staaten Arbeit und damit ein geregeltes Einkommen zu finden.

3. Die Nachbarstaaten schauen weg

Eigentlich gilt in der EU das Dublin-Abkommen. Demnach ist jedes Land für die Flüchtlinge verantwortlich, die dort zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Faktisch könnte so kaum ein Flüchtling nach Deutschland gelangen: Die Bundesrepublik liegt weder am Mittelmeer noch an der Grenze zu den Balkanstaaten und kann deshalb nicht zum Erstaufnahmeland für Flüchtlinge werden. Und trotzdem kommen jeden Tag Tausende Asylsuchende in Deutschland an. „Die Anrainer der sogenannten Balkan-Route haben kein Interesse an der Umsetzung des Dublin-Abkommens, da sie sonst die Kosten für die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge übernehmen müssten“, sagt Brücker. „Das Abkommen schafft perverse finanzielle Anreize, die Flüchtlinge ziehen zu lassen, anstatt sich zu kümmern.“ Auch Staaten wie Italien und Österreich führen offenbar zunehmend seltener Kontrollen an Bahnhöfen und Grenzübergängen durch. Die Flüchtlinge können so ungehindert nach Deutschland weiterreisen.

4. Viele Syrer in der Türkei fürchten die Abschiebung

Zwei Millionen meist syrische Flüchtlinge halten sich laut UNHCR derzeit in der Türkei auf. 300.000 von ihnen leben demnach in insgesamt 27 Lagern nahe der Grenze zu Syrien. 1,7 Millionen weitere Flüchtlinge haben in der Türkei Privatwohnungen angemietet oder sind bei Verwandten und Freunden untergekommen. Offenbar sorgt derzeit ein Gerücht unter den syrischen Vertriebenen für Aufruhr: Wie die Zeitung Hürriyet berichtet, fürchten junge syrische Männer, von der türkischen Regierung in ihr Heimatland abgeschoben zu werden. In Syrien droht ihnen die Zwangsrekrutierung in die Armee des Präsidenten Assad. Um diesem Schicksal zu entfliehen, verlassen laut Hürriyet derzeit besonders viele syrische Flüchtlinge das Land in Richtung Europa – oft auf dem Seeweg nach Griechenland.

5. Serbien kämpft mit den Folgen der Flut

Die Finanzkrise hat in Serbien tiefe Spuren hinterlassen. Seit dem Jahr 2008 erlebt das Land bereits das sechste Jahr Rezession in Folge. Allein im Jahr 2014 sank das Bruttoinlandsprodukt um 1,8 Prozent. Im Mai vergangenen Jahres zerstörte eine schwere Flut die Häuser von 32.000 Menschen – die Regierung des Landes beziffert den Schaden auf 1,7 Milliarden Euro. Landwirtschaft und Industrie leiden noch heute unter den Auswirkungen der Katastrophe. Während die Bevölkerung des Landes ohnehin unter Korruption und organisiertem Verbrechen leidet, rutschten durch die Flut laut einer Schätzung der UN weitere 125.000 Menschen unter die Armutsgrenze. Wohl auch deshalb kommen in diesem Jahr noch mehr serbische Migranten nach Deutschland als in den Vorjahren.

6.Deutschland – ein Versprechen auf Wohlstand

Die Bundesrepublik hat die große Wirtschaftskrise aus dem Jahr 2008 gut verwunden – die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt. Politische und ökonomische Stabilität versprechen Schutz vor Verfolgung und materiellen Wohlstand. „Außerdem verfügt Deutschland über starkes Wachstum in Wirtschaftssegmenten mit geringer Berufsqualifikation, darunter Gastronomie und Landwirtschaft“, sagt IAB-Professor Brücker. Flüchtlinge mit geringer Berufsausbildung würden sich deshalb gute Chancen auf einen Job in Deutschland ausrechnen.

Brücker verweist außerdem auf die Erfahrung mit der Migration von Gastarbeitern: „Wohlhabende Staaten, die besonders nah am eigenen Heimatland liegen, sind besonders beliebt.“ Auch deshalb kämen ungleich mehr Flüchtlinge vom Balkan in die Bundesrepublik als ins wohlhabende Nachbarland Frankreich: Deutschland liegt schlicht näher. Wohl auch aufgrund dieser Anreize ist Deutschland neben Schweden in Europa das Land mit den meisten Asylsuchenden. Kommen wie derzeit immer mehr Menschen nach Mitteleuropa, landen viele von ihnen deshalb zwangsläufig in Deutschland.

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