09. August 2015 · Kommentare deaktiviert für „Ablehnen, abholen, abschieben“ · Kategorien: Deutschland · Tags: ,

Quelle: Zeit Feature

Von Karsten Polke-Majewski

Flüchtlinge aufzunehmen fällt Europa schwer. Sie abzuschieben aber funktioniert besser denn je – routiniert und sauber. Auch in Deutschland.

Für einen Moment, elf Minuten lang, wird eine Massenabschiebung auf YouTube zur Idylle. Eine Chartermaschine fliegt von Borlänge in Schweden in den Sonnenaufgang. Die Kamera folgt den Sitzreihen des Flugzeugs: Roma-Kinder kuscheln sich an die Schultern ihrer Eltern, junge Männer schauen versonnen auf die Wolken vor dem Fenster. Die Polizisten an Bord tragen keine Uniformen, nur gelbe Warnwesten. Fast sehen sie aus wie Urlauber auf dem Weg in den Süden.

Gedreht wurde der Film im Auftrag der Grenzschutzagentur Frontex. Abschiebungen aus Europa, das will das Video suggerieren, laufen konfliktfrei, routiniert, wie geschmiert.

Und das ist nicht nur Propaganda. Tatsächlich ist in Europa eine Abschiebemaschinerie entstanden: effizient, hochprofessionell und verschlossen. Die Zahl der Flüchtlinge, die Europa täglich erreichen, mag in die Tausende gehen, die Behörden mögen zunehmend überfordert sein mit der Versorgung und Unterbringung der Ankommenden – aber das Abschiebesystem funktioniert beängstigend gut.

Europa hat dafür Luftbrücken errichtet; breite in den Westbalkan, etwas schmalere ins Subsahara-Afrika, filigrane in fast alle Regionen der Welt, in denen die Menschen ärmer sind als hier. Wer die EU verlassen muss, der fliegt. Unter der Aufsicht von Frontex oder noch öfter in von den jeweiligen Mitgliedsstaaten eigens organisierten Transporten.

Deutschland hat eine Eskalationsstrategie entwickelt, damit sich kein Abzuschiebender entziehen kann. Der erste Schritt: Je nach Bundesland holen Mitarbeiter der Ausländerbehörde oder Landespolizisten die Betroffenen zu Hause ab und bringen sie zum Flughafen. Dort begleiten Bundespolizisten sie bis zu einem Linienflug und lassen sie alleine einsteigen. Schritt zwei: Wer die Reise schon einmal verweigert hat, den begleiten zivile Beamten auch im Flugzeug. Das allerdings ist heikel. Denn die Hoheit darüber, wen ein Flieger mitnimmt, haben die Kapitäne. Leute, die sich nicht hinsetzen wollen, die sich wehren oder schreien, haben sie nicht gerne an Bord. Oft heißt es dann: „Bitte aussteigen“.

Deshalb wählt die Bundespolizei lieber den dritten Weg: Sie chartert Flugzeuge, die nur der Abschiebung dienen. In einer angeheuerten Maschine kann sie hundert Rückzuführende gleichzeitig ausfliegen, nicht nur zwei oder drei wie mit einem Linienflug. An den Listen einer zentralen Flugbuchungsstelle, die alle deutschen Ausländerbehörden nutzen, ist zu sehen, wer wann ausreisen soll. Gebucht wird, so ist von Luftfahrtexperten zu erfahren, nach Festpreisen für häufig angeflogene Destinationen und Stundenpreisen von 7.000 bis 8.000 Euro für andere Flüge, zum Beispiel bei Air Berlin. Dann muss ein freier Slot gefunden werden, was in den Hauptreisezeiten nicht einfach ist. Manchmal muss die Bundespolizei die gesamte Logistik auf entlegenere Flughäfen wie Kassel-Calden lenken.

Wer einen Einblick gewinnen will, wie Abschiebeflüge genau ablaufen, trifft auf ein geschlossenes System. Die Reporterfrage, ob er einen solchen Charterflug begleiten könne, lehnt die Bundespolizei ebenso freundlich-kühl ab wie sie den Wunsch zurückweist, zumindest beobachten zu dürfen, wie das Boarding am Flughafen abläuft. Nein, lieber nicht, heißt es. Aus Rücksicht auf die Betroffenen.

Nach Potsdam darf man wenigstens kommen. Dort steht abseits der Innenstadt in einer weitläufigen Grünanlage das Präsidium der Bundespolizei. Die historischen Backsteinbauten beherbergten früher eine Nervenheilanstalt. Im Erdgeschoss in einem unscheinbaren Büroraum sitzt die Frau, die in Deutschland im Auftrag der Bundesländer oder von Frontex Abschiebeflüge organisiert. Sie trägt Blazer und Jeans, die Haare kurz. Später wird ein Pressesprecher darum bitten, ihren Namen nicht zu nennen. Was sie sagt, darf man schreiben: „Der Aufwand steigt.“

Er steigt sogar beträchtlich. Hatte die Bundespolizei 2014 noch insgesamt 42 Abschiebe-Charterflüge zu planen, wird sich die Zahl in diesem Jahr wohl mehr als verdoppeln. Bis Ende Juni zählte man in Potsdam schon 54 Flüge. Für die Bundespolizei sind Abschiebungen also vor allem ein logistisches Problem.

Wie bringt man möglichst viele Menschen dazu, das Land möglichst geräuschlos zu verlassen, wenn sie nicht freiwillig gehen wollen? Und was genau geschieht am Flughafen, was in der Luft? Die Antworten in Potsdam fallen ziemlich allgemein aus. So bleibt nichts, als andere Leute zu fragen, die sich auskennen.

Astrid Schukat zum Beispiel. Sie war bis April Abschiebebeobachterin am Hamburger Flughafen, dann lief die Finanzierung ihrer Stelle aus (siehe Infobox). Rund 16 Jahre lang hat die resolute 47-jährige Sozialpädagogin mit Flüchtlingen gearbeitet. Schon im Studium besuchte sie regelmäßig Abschiebehäftlinge im Gefängnis Glasmoor nördlich von Hamburg. „Beraten durften wir die nicht, nur Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen“, sagt sie. Fast keinen der Flüchtlinge, die sie damals beraten hat, hat Schukat später wiedergesehen: „Ich konnte nicht verhindern, dass die Menschen abgeschobenen werden. Aber ich konnte sie ein Stück ihres Weges begleiten.“

Eine Erfahrung, die sie später in ihrem Job als Abschiebebeobachterin wieder machte. Sechs Jahre lang fuhr Schukat meistens am frühen Morgen zwischen drei und vier Uhr zum Terminal Tango am Hamburger Flughafen. In dem alten Flughafengebäude, wo heute Fest-Bankette ausgerichtet werden, sammelt die Bundespolizei die Abzuschiebenden. Menschen, für die es nicht einmal eine richtige Bezeichnung gibt. „Schüblinge“ nennen die Behörden sie in Österreich. Die Schweizer sagen „Auszuschaffende“, deutsche Beamte „Rückzuführende“. „Klienten“ nennt Schukat sie.

Dort also fahren die Busse von Landespolizei und Ausländerbehörden vor, mit abgedunkelten Scheiben. Sie kommen aus allen norddeutschen Ländern. Was haben die Menschen erlebt, die sie bringen? Die Bundespolizisten wissen es nicht.

Zuerst werden sie durchsucht. „Da müssen sie schon mal Schuhe, Strümpfe, lange Hosen und Pullover ausziehen“, sagt Schukat. Groß ist die Sorge, dass jemand Glasscherben oder Rasierklingen versteckt hat, um sich selbst zu verletzen, denn das wäre ein Grund, die Abschiebung abzubrechen. Dann wird das Gepäck durchleuchtet. 20 Kilo darf jeder mitnehmen. Einige haben keine Koffer dabei, in der Eile konnten sie ihre Habe nur in Plastiktüten oder offenen Kisten stopfen. Bei sich tragen dürfen die Passagiere nichts, auch kein Handgepäck.

Die Papiere werden kontrolliert: Ist ein Pass vorhanden? Hat der Reisende ein Handgeld bekommen? Gibt es ein medizinisches Problem, liegt eine Flugtauglichkeitsbescheinigung vor? Wo sich Beamte und Abzuschiebende nicht verstehen, kann ein Übersetzer helfen, Unklarheiten zu beseitigen. Ein Arzt untersucht die Passagiere, die möglicherweise doch nicht flugtauglich sind. Wer diese Prozedur hinter sich gebracht hat, darf sich in einem separaten Wartebereich aufhalten.

Wie geht es den Menschen in dieser Situation? „Viele sind völlig desillusioniert, manche verzweifelt, einige weinen“, sagt Schukat. Manche berichten von ihrem Schicksal. Wie sie manchmal jahrelang schon in Deutschland lebten. Dass irgendwann Post kam: Der Asylantrag ist endgültig abgelehnt. Ausreiseaufforderung. Danach die Unsicherheit, wann genau es soweit sein würde. Zwar wird vielen beim ersten Abschiebeversuch der Ausreisetermin Tage vorher ankündigt. Doch nicht jedem wird Datum und Stunde mitgeteilt, zu groß ist die Sorge, er könne sich verstecken.

Die deutschen Beamten kommen meist mitten in der Nacht. Die Behörden der Zielländer wollen die Angelegenheit in ihrer normalen Arbeitszeit abwickeln, deshalb müssen die Flieger möglichst kurz nach Mittag dort ankommen. Häufig heißt das: Geht das Flugzeug um sieben Uhr morgens, muss der Abzuschiebende zwei Stunden vorher am Flughafen sein, also um fünf. Zwei Stunden Autofahrt dorthin sind in Flächenländern wie Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen keine Seltenheit. Deshalb klingeln die Beamten manchmal um halb drei nachts.

Oft wird dann in Hektik gepackt, wichtige Unterlagen bleiben liegen. Die Windeln für die Kinder, das Handy, Geld, Medikamente. Manchmal vergessen die Abzuschiebenden in der Aufregung, vernünftige Schuhe anzuziehen oder eine Jacke. Schukat erinnert sich an eine Frau, die noch ihren Schlafanzug trug. Dazu die Angst vor dem, was jetzt kommt: Was soll dort werden? Wie werden die Behörden dort mit mir umgehen? Traumatische Erfahrungen werden wieder wach. Einige brechen zusammen.

Aggressiv reagieren nur wenige; selten müssen die Polizisten einschreiten. Wenn doch, gehen sie langsam vor, kündigen an, dass sie jemanden fesseln könnten. So beschreibt es die Beobachterin Schukat.

Matthias Wiemann kann das bestätigen. Er ist Hauptkommissar am Flughafen Hannover, ausgebildet als sogenannter Frontex Escort Leader, und leitet seit vielen Jahren Abschiebeflüge. Zeigen darf auch er nichts, aber reden darf er. Und er tut es, überzeugt von seinem Job und mit weit weniger Sorge als seine Potsdamer Vorgesetzten, auch die unangenehmen Seiten des Geschäfts zu erwähnen. Die lassen sich in einem Satz zusammenfassen: „Keiner geht freiwillig. Jede Abschiebung geschieht gegen den Willen der Beteiligten.“

Wer sich wehrt, wird zwar nicht in den Flieger gezwungen, eher wird die Abschiebung abgebrochen. Doch beim nächsten Versuch legen die Polizisten diesem Menschen dann gleich Klettbänder um die Hände. Handschellen sind aus Sicherheitsgründen nicht üblich. Das Flugzeug könnte abstürzen, dann müssen auch Flüchtlinge ihre Mitreisenden schnell freibekommen können. In den schwierigsten Fällen aber werden Abzuschiebende mit sogenannten body cuffs gebunden – Fesseln, die die Hände an einen Gürtel fixieren, der um die Hüfte geschlungen wird. Auch Beinfesseln und ein Helm können zum Einsatz kommen, gegen Treten und Beißen.

Aufbruch. Je nach Flug gibt es noch ein Verpflegungspaket, oft vegetarisch oder halal. Oder später manchmal einen kalten Snack an Bord. Heißes Essen ist zu gefährlich, die Abzuschiebenden könnten sich oder die Begleitbeamten damit verletzen. In Hamburg parken sie den Flieger meist in einer Halle, damit niemand beobachtet, wie die Abzuschiebenden einsteigen. Polizisten schirmen die Gangway ab, im Durchschnitt zwanzig bis dreißig Beamte kommen mit. Alle machen diesen Job freiwillig; dienstverpflichtet wird niemand.

Beobachter wie Schukat müssen draußen bleiben. Das Bundesinnenministerium erlaubt nicht, dass die Menschenrechtsbeobachter mitfliegen. Hauptkommissar Wiemann aber fliegt mit, mindestens einmal im Monat. Vermutlich muss er bald wesentlich häufiger ran, denn das Personal, das speziell für solche Einsätze geschult ist, wird angesichts der zunehmenden Zahl der Flüge knapp.
Drehkreuz Düsseldorf

Schukat konnte das alles nur beobachten, eingreifen durfte sie nicht. Aber sie konnte reden. „Wenn Sie mit den Klienten sprechen, dann tragen Sie wenigstens die Trauer, die Ohnmacht, die Wut, das Unverständnis dieser Menschen mit.“

An Bord empfängt eine normale Crew wie bei jedem Urlaubsflug, ein Flugbegleiter pro 50 Passagiere, so sind die Vorschriften. Wer wo sitzen darf, entscheidet die vorherige Gefahrenanalyse. Familien sitzen zusammen, alleinreisende Frauen und Kinder auch. Junge Männer werden eher von mehreren Beamten begleitet, entlassene Straftäter oder notorische Kriminelle gesondert platziert. Dann geht es los.

Wenn sich die Flugzeugtür schließt, lässt die Anspannung an Bord ein wenig nach. Doch spätestens im Landeanflug wird klar, dass es sich eben nicht um eine Urlaubsreise handelt, sondern um einen Flug ins Ungewisse. Manchen lässt die Angst zittern, andere schreien. „Während der Landephase kann es sehr emotional werden“, sagt Wiemann. Ein heikler Moment, denn leicht können sich andere Passagiere solidarisieren, wenn sich jemand aufregt. Was tun Sie dann? „Reden und wieder reden, die Leute beschäftigt halten. Das hilft.“ Den Behörden im Zielland ist der Flug schon angekündigt. Doch der Grund der Abschiebung wird ihnen nicht gesagt, auch nicht bei entlassenen Straftätern. Meistens reisen die Abgeschobenen wie Urlauber ein. Nur Nigerias Sicherheitsbehörden bestehen darauf, dass ihnen jeder Einzelne an der Flugzeugtür übergeben wird.

Über die Jahre sind die Flüge für Frontex und die Bundespolizei zur Routine geworden. Eine fragile Routine allerdings. Denn den Beamten begegnen viele Unwägbarkeiten. Sie beginnen lange bevor die Transporte überhaupt den Flughafen erreichen. Werden die Landesbeamten den Abzuschiebenden zu Hause antreffen? Ist er nicht doch zu krank, um zu fliegen? Auch Schwangere dürfen spätestens ab der 32. Woche nicht mehr mit.

Häufig scheitern Abschiebungen an Dokumenten. Papiere sind nicht vollständig oder die Identität ist nicht eindeutig geklärt. Und was ist, wenn der Eilantrag beim Verwaltungsgericht auf Aussetzung der Abschiebung doch noch durchgeht?

„Alleine im ersten Quartal 2015 mussten wir die Flüge von mehreren Tausend Personen stornieren“, sagt die namenlose Abschiebeorganisatorin in Potsdam. Einmal seien von 100 erwarteten Passagieren nur neun gekommen. „Wenn ich 100 Plätze füllen will, muss ich mindestens 300 Personen auf der Liste haben, von denen ich ungefähr weiß, wo sie sind.“ Hilft es ihr, dass ein neues Gesetz einen viertägigen Abschiebegewahrsam vorsieht? „Grundsätzlich ja – wenn es auf dem Flughafen dafür auch eine angemessene Einrichtung gibt.“

In diesem einen Wort – angemessen – scheint eine Haltung durch, die dann doch mehr ist als Routine. Ebenso in diesem Satz von Hauptkommissar Wiemann: „Keine Rückführung um jeden Preis.“ So hat sich die Bundespolizei den Respekt vieler Menschenrechtsbeobachter erworben.

Wird sie diese Haltung beibehalten können? Rund 11.000 Menschen hat der deutsche Staat im vergangenen Jahr abgeschoben. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es bereits 4.500. Noch nie seit den frühen neunziger Jahren, als die Republik über Asylgesetze stritt, wurden so viele Menschen des Landes verwiesen. Noch 2008 betrug die Zahl der Abschiebungen rund 8.000 im Jahr. Jetzt schwingt sich die Kurve Monat für Monat steil nach oben.

Grund dafür ist ein Deal, den Innenpolitiker in Deutschland geschlossen haben und der auch für die Europäische Union angestrebt wird. Der Bundestag hat ihn gerade in das neue Gesetz gegossen. Der Deal lautet: Gute Flüchtlinge dürfen bleiben, wenn dafür schlechte gehen müssen. Wobei gut heißt, politisch verfolgt zu sein und von Folter oder Tod bedroht. Schlecht dagegen ist, wer aus Armut sein Glück in Europa sucht. „Asylmissbrauch“ nennt das Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière drückt es so aus: „Bleiberecht für gut integrierte und rechtstreue Ausländer einerseits und Aufenthaltsbeendigung für diejenigen, die nicht schutzbedürftig sind, andererseits; beide Botschaften gehören zusammen.“ Ähnlich formuliert es der EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos für Europa. Wenn sich die Mitgliedsländer darauf einlassen, mehr verfolgte Flüchtlinge aufzunehmen, werde die EU ihre Abschiebepraxis verschärfen.

Die Frage lautet deshalb nicht, ob das, was da an Europas Flughäfen abläuft, gegen polizeiliche Regeln, gegen Gerichtsentscheide oder gegen die Menschenrechte verstößt. Das tut es nicht. Vielmehr geht es darum, wie viel kühle Routine sich unsere reichen Gesellschaften beim Wegschicken von Leuten leisten wollen. Ob wir Menschen, die arm, aber arbeitswillig sind, wirklich loswerden müssen. Wo Armut endet und Verfolgung beginnt. Und wie viel Menschlichkeit möglich ist.

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