30. Juli 2018 · Kommentare deaktiviert für Spanien Migrationsziel Nr. 1 – ein Fall für Europa? · Kategorien: Europa, Italien, Marokko, Spanien

DW | 30.07.2018

Spanien hat Italien als Hauptziel für Boots-Migranten auf dem Mittelmeer abgelöst. Das ist kein Erfolg für die Populisten in Rom, ein Problem für Madrid und ein Praxistest für die EU.

Bernd Riegert aus Brüssel

Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die über das Mittelmeer Europa erreichen, sinkt. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres kamen in Griechenland, Italien und Spanien zusammengenommen 55.000 Flüchtlinge an – das ist, verglichen mit dem selben Zeitraum des Vorjahres, nur noch die Hälfte. Die Zahlen stammen von der UN-Agentur für Migration (IOM) und der europäischen Grenzschutzbehörde (Frontex). Von einer „Flüchtlingskrise“, einer „Schwemme“ oder einem „Zustrom“, die vor allem die populistischen Innenminister in der EU sehen wollen, kann nicht die Rede sein.

Allerdings ist richtig, dass sich die Migrationsrouten verlagern. Erstmals ist Spanien in diesem Jahr das Zielland Nummer eins, gefolgt von Italien und Griechenland. Dieser Trend war aber schon Ende 2017 absehbar. Die Zahlen für Spanien gingen kontinuierlich nach oben, die für Italien fielen. Die Menschen verachtende Drohung der neuen populistischen Regierung in Rom, die Häfen für sämtliche Schiffbrüchige zu sperren, ist aber nicht die Ursache für diesen Trend.

Libyen scheint mehr und mehr die Abreise von Flüchtlingen und Migranten auf seeuntüchtigen Schlauchbooten Richtung Italien zu verhindern. Die Perspektive, nach der Rettung nach Libyen zurückkehren zu müssen, hält viele Menschen offenbar davon ab, die Reise überhaupt zu wagen. Die Abschreckung wirkt. Darauf setzt die EU seit langem, und nicht erst seit dem letzten Gipfeltreffen im Juni.

Keine Umleitung von Migranten

Nun ist es aber nicht so, dass auf der Route Marokko – Spanien im westlichen Mittelmeer etwa die Migranten unterwegs wären, die bislang in Libyen ihre Chance gesucht haben. Die wesentlichen Herkunftsländer der Boots-Migranten, die in Spanien ankommen, sind laut Frontex Marokko und Mali. Die Migranten, die in den letzten Monaten nach Italien wollten, stammten dagegen überwiegend aus Tunesien und Eritrea.

Die Vermutung liegt nahe, dass Marokkos Behörden die Abreise von Migranten von den Häfen und Stränden nicht mehr verhindern – oder wegschauen. Bislang hatte die Zusammenarbeit zwischen spanischen und marokkanischen Grenzschützern gut geklappt, wenn es darum ging, Überfahrten über die Meerenge zwischen Marokko und Spanien zu verhindern. Seit mehr als zehn Jahren bekommt Marokko für seine Kooperation Geld von der Europäischen Union und Spanien. Allein aus EU-Töpfen sind bislang 70 Millionen Euro für die Grenzsicherung geflossen. Weitere 55 Millionen Euro an EU-Beihilfen sind in den kommenden Jahren für verstärkten Grenzschutz in Marokko und Algerien vorgesehen. Auch mit Mauretanien arbeitet die spanische Küstenwache schon seit mehr als zehn Jahren intensiv zusammen. Die Zahl der Ankünfte auf den Kanarischen Inseln vor der afrikanischen Küste ist seither dramatisch gefallen.

Einfach einmal machen?

Spanien hat finanzielle Nothilfe bei der EU beantragt, um Unterkünfte für die Migranten zu bauen. Die EU sollte gleich die Gelegenheit nutzen, ein erstes „Asylzentrum“ einzurichten, das die Staats- und Regierungschefs ja bei ihrem Migrationsgipfel als freiwillige Möglichkeit vorgesehen hatten. In diesen Asylzentren sollte dann möglichst schnell über Anträge abschließend entschieden werden. Abgelehnte Asylbewerber sollten unmittelbar in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Soweit die Theorie. Die praktische Umsetzung in Spanien dürfte vor allem daran scheitern, dass es mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge und Migranten keine funktionierenden Rücknahme-Abkommen gibt – und dass es keine EU-Staaten gibt, die in Spanien anerkannte Asylbewerber aufnehmen würden. Aber wenigstens den Versuch könnte die EU starten, um zu sehen, was von den Gipfelbeschlüssen in der Praxis übrig bleibt. Der anerkannte Migrationsforscher Gerald Knaus, der den Flüchtlingsdeal mit der Türkei entwickelt hat, rät dringend dazu, die wachsende Zahl der Ankömmlinge in Spanien, als Chance für einen Praxistest zu nutzen.

Spanien wird sich hüten, das zu tun, denn der Anreiz für Migranten, die Überfahrt zu versuchen, dürfte noch wachsen, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit besteht, in einem Asylzentrum schnell ein Aufenthaltsrecht in Spanien und der EU zu bekommen. Neuer politischer Streit in der EU ist vorprogrammiert, denn Spanien verlangt eine „europäische Lösung“, ohne genau zu sagen, wie die aussehen soll. Frankreich, Belgien und Deutschlang können mit steigenden Mirgrantenzahlen rechnen, denn die Erfahrung zeigt, dass sich abgelehnte Asylbewerber von Spanien aus oft auf den Weg nach Norden machen – irgendwie und gegen alle „Dublin-Regeln“.

:::::

Frankfurter Rundschau | 30.07.2018

Spaniens Rechte entdecken die Migration

Auf der iberischen Halbinsel kommen so viele Bootsflüchtlinge an wie seit Jahren nicht mehr. Nicht nur die Konservativen wollen die einsetzende Debatte darüber für sich nutzen.

Von Martin Dahm

Der Zaun ist wirkungslos“, sagt Javier Ortega. „Wir müssen eine Mauer bauen, die hoch genug ist.“ An zehn oder zwölf Meter denkt der Generalsekretär der kleinen rechtsradikalen Partei Vox. Eine Mauer, um die „Rasenden“ abzuhalten, die immer mal wieder über den sechs Meter hohen Zaun der spanischen Nordafrika-Exklave Ceuta oder der Schwesterstadt Melilla springen. Am vergangenen Donnerstag waren es gut 600, die so in Ceuta ihren Traum von einem Leben in Europa näherkommen wollten.

In Spanien kommen in diesem Jahr so viele Migranten ohne Einreiseerlaubnis an wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Damals, im Jahr 2006, machten sie sich vor allem in großen Holzbooten von der westafrikanischen Küste auf den Weg zu den Kanarischen Inseln. Jetzt versuchen sie es über Ceuta und Melilla, aber vor allem in kleinen Booten von Marokko über die Straße von Gibraltar nach Andalusien. Rund 21 000 Menschen sind so in den ersten sieben Monaten auf spanischem Boden gelandet, erstmals seit langem mehr als in Italien.

Es hat eine Weile gedauert, bis die Migration zu einem größeren Thema der öffentlichen Debatte in Spanien geworden ist. Als der gerade frisch gewählte sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez Mitte Juni dem von Italien abgewiesenen Rettungsschiff „Aquarius“ die Einfahrt in den Hafen von Valencia erlaubte, murrten die einen oder anderen. Aber das war noch kein politischer Sturm. Der beginnt sich gerade jetzt zusammenzubrauen.

Vor zehn Tagen wählte die konservative Volkspartei (PP) des früheren Premiers Mariano Rajoy einen neuen Vorsitzenden, den 37-jährigen Pablo Casado. Der erklärte schon vor der Wahl in einem Gespräch mit „El País“, wie er sich die Zukunft der PP vorstellte: „Wir müssen alles rechts von der PSOE sein.“ Die PSOE ist die Partei von Regierungschef Sánchez, und rechts von der ist eine ganze Menge Platz. Casado hatte sich schon mit seinen Vorschlägen zu einem verschärften Abtreibungsrecht oder einer möglichen Aufkündigung des Schengen-Abkommens deutlich rechts positioniert, aber das Migrationsthema hatte er noch nicht berührt – bis Sonntag. „Es ist unmöglich, dass es Papiere für alle gibt und dass Spanien Millionen Afrikaner aufnehmen kann“, sagte er da. Das hatte in Spanien auch noch kein Politiker gefordert. „In Sachen Migration muss man verantwortungsbewusst und ehrlich sein, nicht populistisch“, fuhr Casado fort. Die Worte richtete er nicht an sich selbst, sondern an die Regierung.

Casado hält Premier Sánchez vor, mit der „Aquarius“-Einladung eine „Sogwirkung“ erzeugt zu haben: Es kämen so viele Migranten nach Spanien, weil sie glaubten, dass ihnen die Einreise hier besonders leicht gemacht werde. Diese Erklärung ist allerdings kaum haltbar. Sánchez ist erst seit dem 2. Juni im Amt, die Zahl der in Spanien ankommenden Bootsflüchtlinge begann schon lange vorher zu steigen, von 2016 auf 2017 (also zu Rajoys Zeiten) verdoppelte sie sich, und allein in diesem Januar kamen mehr Menschen an als im selben Monat der drei Vorjahre zusammengenommen. Die Ursachen für die wachsende Attraktivität Spaniens sind weniger in Spanien als vornehmlich auf der anderen Seite des Mittelmeers zu suchen.

Je schwieriger die Abreise aus der Türkei und aus Libyen geworden ist, umso attraktiver wurde Marokko als Startpunkt für die Überfahrt nach Europa. Marokko liegt an der engsten Stelle der Straße von Gibraltar nur 14 Kilometer von Spanien entfernt. Bemerkenswert ist nicht, dass jetzt Zehntausende diesen Weg einschlagen, sondern dass sie es vorher in vergleichsweise geringer Zahl getan haben. Das erklärt sich in erster Linie damit, dass Marokko bisher Europas bereitwilliger Grenzpolizist war.

Spaniens Außenminister Josep Borrell ist vorsichtig bei der Analyse der Rolle Marokkos. Entweder sei das südliche Nachbarland, mit dem Spanien „keine wichtigen Probleme“ habe, von der Ankunft immer neuer Migranten „überfordert“, oder es „erleichtere“ die Ausreise gen Norden bewusst. So oder so hält er die „italienische Haltung“ zur Migration für das größere Problem in der Europäischen Union. Die Migration lasse sich nicht „abblocken“, sondern lediglich „kanalisieren“. Die Sogwirkung, von der PP-Chef Casado spricht, ist vor allem eine politische: Die Angst vor der Migration zieht Europa nach rechts. Casado versucht gerade herauszufinden, ob ihn dieser Strudel nach oben treiben könnte.

 

Kommentare geschlossen.