28. Juli 2018 · Kommentare deaktiviert für Migranten aus Libyen: Italien und die „Schleusenwärter“ · Kategorien: Hintergrund, Italien, Lesetipps, Libyen · Tags: , ,

Telepolis

Die libysche Küstenwache bekommt zehn neue Schlauchboote und zwei Schiffe, will aber vor allem Waffen – wegen der Milizen. Die tun wie Erdogan und früher Gaddafi so, als ob sie das Steuer in der Hand haben

Thomas Pany

Die Schiffe der Schlepper aus Nordafrika schaffen es wieder nach Italien. Bis Cape Rizutto in Kalabrien: 56 Passagiere eines Segelboots[1], meist aus Syrien und dem Irak, wurden vergangene Woche von Strandgästen, der italienischen Küstenwache, dem Roten Kreuz und der Polizei, empfangen und versorgt.

Die Geschäftsbetreiber stellen um auf Boote, die nicht mit einer knapp kalkulierten Menge an Treibstoff auskommen müssen.

Die libysche Küstenwache bekommt Boote und will Waffen

Die libysche Küstenwache wird jedenfalls aufgerüstet. Sie bekommt demnächst 12 Boote von Italien. Dort hat der Senat am Donnerstag einem entsprechenden Vorschlag der Regierung zugestimmt[2]. Zusätzlich ist es erlaubt, der libyschen Küstenwache eine Überwachungsdrohne für die Küste zu Verfügung zu stellen, um sie für Such- und Rettungszwecke einzusetzen. 266 Senatsmitglieder waren dafür, vier waren dagegen und einer enthielt sich der Stimme.

Laut Informationen[3] des African Military Blog sind es zehn Rettungsschlauchboote und zwei große Such- und Rettungsschiffe. Ob dies die Klagen des Sprechers der libyschen Küstenwache, General Ayoub Ghassem, und des General Tarek Shanboor, dem Kommandeur der General Administration for Coastal Security (GACS) wirklich beschwichtigt?

Beide kommen in einem aufschlussreichen Hintergrundbericht der Irinnews[4] zu Wort. Quintessenz der Aussagen beider Generäle ist, dass die libysche Küstenwache Waffen braucht, um sich gegen Milizen durchzusetzen und dass die Unterstützung, die von der EU seit Jahren versprochen wird, viel zu spärlich ist.

Wir brauchen Boote, Ausstattung und Munition, um den Schmugglern entgegenzutreten und Libyens Hoheitsgewässer mit Würde zu verteidigen. Unsere Forderungen sind bescheiden. Trotzdem werden sie nicht erfüllt.
General Ayoub Ghassem

Gleich zu Anfang des Artikels erklärt Ghassem, dass EU-Vertreter seit 2011Versprechungen machen würden und man aber seither „nichts, nahezu keine Realisierung von Versprechen“ vorfinde. Dreh- und Angelpunkt seiner Klage ist das UN-Waffenembargo.

Das würde die Küstenwache im Gründe zu einem machtlosen Akteur machen. Er verbindet seinen Anspruch mit dem Verweis auf Ereignisse im Jahr 2011 (infolge dieser Ereignisse die UN davor zurückscheut, noch mehr Waffen in Libyen zuzulassen):

Die Nato hat wichtige Teile der Ausstattung zerstört, besonders der Marine. (…) Sie haben uns mit nichts zurückgelassen und – wie es sich herausstellte – angewiesen auf die Gnade der gefährlichen und schwer-bewaffneten Leute.
General Ayoub Ghassem

Man habe nichts von den 160 Millionen Pfund bekommen, von denen in den Medien die Rede ist, wird Ghassem wiedergegeben – und in der Tendenz von General Shanboor bestätigt. Ghassem bemüht sich darüber hinaus, das Image einer professionell und nicht brutal arbeitenden Küstenwache herauszustellen. Die schlechte Ruf sei Resultat einer bestimmten Perspektive.

Panik unter den Geretteten: Eine andere Perspektive

Die Mitglieder der Küstenwache würden manchmal ein Seil oder einen Stock benutzen, um Migranten „zur Ruhe zu bringen“, was nötig sei, um die Rettungsarbeiten durchzuführen. Da die Mitglieder der Küstenwache keine Waffen tragen dürfen müssen sie anders mit einer Panik auf dem Boot oder auch Drohungen umgehen.

Fünf oder sechs Männer würden einer großen Menge an von Furcht gepackten und in Panik versetzten Migranten gegenüberstehen, die nicht nach Libyen zurück wollen und versuchen würden, sie zu überwältigen. Das würden die Filme der NGOs nicht zeigen.

Die Filme der NGOs konzentrieren sich auf den Libyer mit dem Stock und zeigen nicht das Geschiebe und Gezerre und das komplette Chaos im Hintergrund, das wir unter Kontrolle zu bringen versuchen, und das auf eine unfaire Art der libyschen Küstenwache einen schlechten Ruf verliehen hat.
General Ayoub Ghassem, Sprecher der libyschen Küstenwache

Das Geschäft an- und abschalten

Der Hintergrundbericht von Tom Westcott fügt den Aussagen des Küstenwachensprechers wichtige Ergänzungen hinzu: Einmal dass die 1.900 Kilometer(!) lange Küste nicht nur von braven, professionellen Küstenwachpersonal – das nach Ansicht von Ghassem zu viel in Menschenrechten und zu wenig praktisch und dies auch noch in unerheblicher Anzahl ausgebildet wird – kontrolliert wird, sondern auch von solchen, die in enger Verbindung mit Milizen stehen, die das Geschäft mit den Schleusern mal an- und dann wieder abschalten.

Zum anderen wird mit General Tarek Shanboor, dem Kommandeur der General „Administration for Coastal Security“ (GACS), darauf verwiesen, dass es noch immer eine große Zahl von Migranten gibt, die vom Süden nach Libyen kommen und es keine Mittel gebe, sie zu stoppen.

Eine unbekannte Quelle, die angeblich einen der höchsten Posten in der libyschen Behörde gegen illegale Einwanderung (Anti-Illegal Immigration Authority, AIIA) bekleidet, bestätigt, dass die EU-Politik „keine Rolle“ beim Rückgang der Migranten spiele, die nach Italien kommen.

Die großen Einflussfaktoren

Das habe stattdessen sehr viel mehr mit Schmuggler-Milizen an der Küste, wie z.B in Sabratha zu tun. Infolge der Milizen-Kämpfe untereinander und von Massenverhaftungen von Migranten seien die Zahlen zurückgegangen, so der AIIA-Vertreter.

Ein anderer Behördenvertreter verweist auf einen monatelangen Krieg von rivalisierenden Stämmen im Migrantenhandel-Verkehrsknotenpunkt Sebha als Hauptursache für den Rückgang der Migranten, die es nach Europa schaffen („The war in Sebha is one of the main reasons for the decrease in migrants arriving in Europe“, Captain Wajidi al-Bashir al-Montassir, Chef eines Migrantenlagers bei Tripolis).

Was sich auf See abspiele, sei nicht entscheidend, lautet der Tenor der Aussagen der beruflich mit der Migration in Libyen Befassten, die der Bericht zitiert.

Zwei libysche Schmuggler, die in der Wüste arbeiten, wodurch die Niger-Libyen-Route verläuft, gaben an, dass die Zahl der Migranten, die sie transportieren, während der letzten drei Jahre gleich geblieben ist. Ihren Schätzungen nach, kommen wöchentlich etwa 1.200 Migranten nach Libyen allein auf dieser Route. Die anderen aus dem Sudan oder Südalgerien sind gar nicht mitgerechnet.
IRIN[5]

Auf das Phänomen, dass sich die Zahl der Migranten, die nach Europa kommen, entscheidend nach dem richtet, wie Milizen in Libyen entscheiden, kommt auch Luca Raineri in seiner aktuellen Studie „Die Erfüllung unplausibler Erwartungen. Die Beschränkung von Migrationsflüssen aus Libyen inmitten durchlässiger Grenzen“[6].

Der wissenschaftlich arbeitende Raineri widerspricht auf gut lesbaren fünf Seiten mit Zahlen und Argumenten zwei Hypothesen: einmal, dass der Rückgang der Migranten, die von Libyen aus nach Italien kommen, von etwa 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr mit Aktivität der Küstenwache zu erklären ist.

Zwei Hypothesen, zwei Widerlegungen

Zwar sei die Zahl der Migranten, die von der libyschen Küstenwache zurückgebracht werden, gegenüber dem Vorjahr beachtlich gestiegen, aber die Zahlen würden nicht annähernd den weitaus größeren Rückgang der Migranten erklären, die nach Italien gekommen sind (der Anstieg der zurück an die Küste gebrachten gegenüber den Vorjahreswerten bewegt sich die ersten vier Monate 2018 bei etwa plus 1.500; dagegen würden in diesem Zeitraum 32.000 weniger Migranten als 2017 verzeichnet, die in den ersten vier Monaten nach Italien kamen).

Als zweites nimmt sich der italienische Forscher die Hypothese vor, wonach die bessere Kontrolle an der südlichen Grenze Libyens für den Rückgang der von Libyen nach Europa gelangenden Migranten im Vergleich zum Vorjahr verantwortlich ist. Seine Widerlegung begründet Rainieri ebenfalls mit einer stupenden Kluft zwischen zwei Zahlenangaben.

So soll die Zahl der Migranten aus Nigeria, die den berühmten nigerischen Migranten-Verkehrsknotenunkt Agadez passieren, nach Angaben der IOM von 53.000 im Jahr 2017 auf 2.700 im Jahr 2017 gefallen sein. Gleichwohl sollen 2017 etwa 18.000 Nigerianer nach Italien gekommen sein, die in der Mehrheit angaben, dass sie die Route über Niger genommen hätten

Zwar, so schließt Rainieri, mag der Migrationsstrom aus Niger abgenommen haben, aber bei weitem nicht so deutlich, wie es die Zahlen der IOM (Internationale Organisation für Migration) aussagen, woraus folge, dass es eine Dunkelziffer gebe, die von der IOM nicht erfassst werde, weil man sich nur schwer ein offizielles Bild von versteckten, alternativen oder neuen Routen machen kann („This data does not reflect overall entries or exits to and from Niger“).

Rainieri zieht aus all dem die Folgerung, dass Milizen der neuen italienischen Regierung ein Zeichen ihrer Macht geben könnten. Dass es auf sie ankomme, um die Zahlen der Migranten zu regulieren. Ganz ähnlich wie es früher Gaddafi gemacht habe.

Aussichten: Weniger NGOs, trotzdem mehr Migranten – und mehr Tote?

Ob Rainieri mit seiner Einschätzung richtig liegt wird sich die nächsten Monate zeigen. Ebenso wie sich auch die hier mehrmals geäußerte Annahme zeigen wird, dass die NGO und andere Rettungsschiffe zwar im Kalkül des Schlepper-Verkehrs eine Rolle spielen (was etwa zu sehen ist bei der Benutzung von motorisierten Schlauchbooten und einer Tankfüllung, die nicht bis ans andere Mittelmeerufer reicht). Dass sie aber nicht der entscheidende Pullfaktor sind, zu dem sie erklärt werden. Man darf überdies gespannt sein, was sich aus den Ermittlungen in Italien gegen deutsche NGOs[7] ergibt.

Dass die NGOs nicht mehr vor der libyschen Küste operieren, macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar. Es werden andere Boote benutzt, die Routen ändern sich und die Zahl der Toten steigt [8]weiter?

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.euronews.com/2018/07/24/italy-holidaymakers-and-locals-help-rescue-56-migrants-who-arrive-by-boat
[2] http://en.alwasat.ly/news/libya/214164
[3] https://www.africanmilitaryblog.com/2018/07/italy-to-donate-12-patrol-boats-to-the-libya-navy
[4] https://www.irinnews.org/special-report/2018/07/11/destination-europe-demoralised
[5] https://www.irinnews.org/special-report/2018/07/11/destination-europe-demoralised
[6] http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/57224/PB_2018_14.pdf?sequence=4&isAllowed=y
[7] https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/illegale-migration-italien-seenotrettung-ngos-unterstuetzung-verdacht
[8] https://twitter.com/emmevilla/status/1014068490213445633

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