29. November 2017 · Kommentare deaktiviert für „Lage der Flüchlinge : Winter vor Lesbos“ · Kategorien: Griechenland · Tags: ,

FAZ | 28.11.2017

Eigentlich sollten die Flüchtlinge auf Lesbos die Insel schnell wieder verlassen können. Doch das ist nur Theorie. Kurz vor dem Wintereinbruch werden sie immer verzweifelter.

Franziska Grillmeier

Es ist Samstagabend. Vier Mädchen in Cocktailkleidern stolpern aus der angesagten Monkey Bar von Mytilini, Hauptstadt der ägäischen Insel Lesbos. An eine Hauswand gelehnt ziehen sie die Strumpfhosen hoch und den Lippenstift nach. Auf dem Hafenplatz vor ihnen reihen sich ein Dutzend Schlafsäcke aneinander. Eine Frau erhebt sich und schüttelt eine Decke aus. Neben ihr flattert ein Leintuch im Wind. „Open the Island“ steht darauf. Eines der Mädchen vor der Bar zündet die Kerzen einer Geburtstagstorte an. Nach kurzer Zeit steht der Kuchen in Flammen und die Gruppe läuft kreischend zurück auf die Tanzfläche. Die Frau auf dem Hafenplatz sinkt langsam zurück in den Schlafsackhaufen.

Seit achtzehn Tagen sitzt die Afghanin Adele Tajik auf einer pinken Isomatte mitten auf dem Hafenplatz von Mytilini. Dreißig weitere Flüchtlinge, darunter Familien und Kinder, protestieren mit ihr. Gegen die europäische Flüchtlingspolitik, die sie und 15.000 andere Flüchtlinge auf den ägäischen Inseln festhält. Einige haben sich Alufolie um die Füße gewickelt, andere ihren Kopf so tief in den Schlafsack gegraben, als ob sie darin eine andere Welt finden möchten. Adele Tajik streckt die Beine aus, sie gähnt, ihr Oberkörper erzittert. Sie streut ein paar Erdnüsse in ihre Hand. Es sollen die letzten für eine Weile sein. Morgen fängt der erste Tag ihres Hungerstreiks an.

Seit das Rücknahme-Abkommen zwischen der EU und der Türkei im März 2016 in Kraft getreten ist, sind die ägäischen Inseln zu überfüllten Freiluftgefängnissen geworden. Allein 6000 Menschen leben unter prekären Verhältnissen im Durchgangslager Moria, das gleichzeitig auch als Abschiebegefängnis dient. Vor dem Abkommen noch als Registrierungslager für 2300 Menschen geplant, wurden die Ankommenden hier nur registriert und weitergeschickt. Wartezeit: höchstens 30 Tage.

Lebensgefährliches Warten – ohne Ziel

Doch seit März 2016 stecken manche schon seit 19 Monaten auf der Insel fest. Denn so lange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, kann niemand auf das griechische Festland weiterreisen. Diejenigen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, werden von Lesbos aus zurück in die Türkei gebracht. Doch die Verfahren gehen nur schleppend voran. Für viele Menschen ein Warten ohne Ziel. Und lebensgefährlich, denn die Temperaturen erreichen schon jetzt in der Nacht um die vier Grad.

Auf dem Weg in das Bergdorf Moria, zehn Kilometer von der Hauptstadt Mytilini entfernt, stemmt sich ein Junge gegen den Lenker seines Fahrrads. Auf dem Gepäckträger balanciert er zwei dicke Holzbalken. Sie sind so lang wie eine Hausfassade. Seine Fersen rutschen mit jedem Schritt aus den Plastiksandalen. Kurz vor dem Eingang des Lagers bricht einer der Balken hinunter. Er schiebt seine dünne Nylonmütze über den Haarschopf und wuchtet das Holz zurück auf den Gepäckträger.

Unbeheizte Unterkünfte und eiskaltes Wasser

Er muss sich beeilen – in einer Stunde geht die Sonne unter, dann rollt der Wind über die Küste und bringt die Kälte mit sich. Ab fünf Uhr nachmittags treiben in Moria kleine Feuerfunken in die Höhe. Wie Schattenfiguren umkreisen die Menschen die unbeleuchteten Feuerstellen vor ihren Zelten. Sie sind die wichtigste Wärmequelle für die Menschen im Lager, denn auch jetzt, kurz vor dem Winter sind 3.000 Unterkünfte noch immer nicht beheizt. In den überlasteten Sanitäranlagen tröpfelt das Wasser eiskalt aus den Leitungen.

Moria ist seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals ein sogenannter Hotspot, ein Testgelände, auf dem die Europäische Union demonstrieren will, dass sich Migrationsrouten regulieren lassen. Doch bis jetzt kommen die griechischen Behörden mit den Anträgen nicht hinterher – und mit jedem ankommenden Boot stehen ein paar Anträge mehr auf der Warteliste.

Allein im September kamen laut der Kinderrechtsorganisation Safe the Children 2370 Menschen auf Lesbos an, 31 wurden zurück in die Türkei gebracht. Für die Türkei ist es physisch nicht möglich, den ganzen Grenzstreifen zu kontrollieren. Doch viele Neuankömmlinge erzählen auch von der leichten Bestechlichkeit der Grenzbeamten.

An den Abhängen von Moria reihen sich die Container so eng aneinander wie Würfelzucker in einer Plastikdose, in den engen Zwischenräumen quetschen sich sechsköpfige Familien in Zweimannzelten, andere schlafen auf plattgedrückten Pappbechern auf dem Boden. Auch unter den Menschen wächst der Frust täglich, es kommt immer wieder zu Zusammenstößen zwischen einzelnen Gruppen. Jugendliche sitzen ohne juristische Unterstützung auf unbestimmte Zeit im Abschiebegefängnis von Moria fest, Frauen tragen nachts Windeln, weil sie sich auf dem Weg zur Toilette vor sexuellen Übergriffen fürchten.

UNHCR fordert mehr Personal und schnellere Asylverfahren

Zurück auf dem Hafenplatz in Mytilini steht Arash Hampay, er ist schon das zweite Mal in diesem Jahr im Hungerstreik. Auch er schläft wie Adele seit 21 Tagen im Freien. „Mittlerweile macht es auch keinen Unterschied mehr, ob man im Zelt oder draußen schläft“, sagt Hampay. Er blinzelt sehr langsam, seine Augen liegen tief vergraben im müden Gesicht.

Er war schon im letzten Winter in Moria, erinnert sich, wie das geschmolzene Schneewasser in die Zelte lief und Menschen und Decken in der Nacht aufweichte. Manchmal froren die Wasserleitungen ein. Auch das Feuerholz war zu nass, um Feuer zu machen. „Manche Familien, die im letzten Jahr den Winter in Zelten durchlebten, sind noch immer auf der Insel“, sagt er.

Schon seit Anfang September fordern das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und andere humanitäre Organisationen die griechischen Behörden auf, das überfüllte Lager winterfest zu machen. 300 neue Container wurden in das kleinere Lager Kara Tepe gebracht, doch nach nur einer Woche waren auch diese Container ausgelastet. „Es hilft nicht, nur die negativen Symptome des Türkei-Abkommens zu bekämpfen“, sagt Ihab Abassi. Er ist seit 2015 als humanitärer Helfer auf der Insel. „Die EU muss sich eingestehen, dass das Verteilungssystem nicht funktioniert. Wer dabei draufzahlt, sind die Menschen, die im Winter auf den Inseln erfrieren.“

„Wir brauchen mehr Personal, Heizungen und schnellere Asylverfahren“, sagt Boris Cheshirkov, Sprecher des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Ohne die Anweisungen der griechischen Regierung kann das Hilfswerk nicht handeln, und es ist auch nicht seine Aufgabe, das Geld der Regierung für die Nothilfe zu verwalten. Der UNHCR sei nur dafür zuständig, die Menschen mit großem Schutzbedürfnis zu betreuen, um sie schnellstmöglich auf das griechische Festland zu bringen.

Das Protestlager wird geräumt

In letzter Instanz entscheidet immer noch die griechische Regierung darüber, wer von der Insel gehen darf. Und das dauert. Cheshirkov sagt: „Die Menschen müssen so schnell wie möglich von der Insel runter“. Sonst bahne sich bald abermals eine humanitäre Katastrophe an den europäischen Außengrenzen an.

Es ist Mittwoch. Frühmorgens. Neben der Isomatte von Adele knirscht es. Ein Polizist reißt die Halterungen der Protestbanner aus dem Pflastersteinboden neben ihr. Es ist der 105. Jahrestag der griechischen Befreiung von der osmanischen Besetzung. Für Adele ist es der achte Tag ihres Hungerstreiks. Sie richtet sich auf. Das Protestlager wird geräumt.

Arash diskutiert neben ihr mit einer Gruppe von Polizisten. Doch nach wenigen Minuten schnauft schon eine Reinigungsmaschine über den Platz. Adele packt die restlichen Banner unter den Arm und setzt sich auf die Steintreppen neben dem Hafenplatz. Ihr Blick verliert sich in der Schleuderbewegung der Bürsten des Reinigungsfahrzeugs. „Trotz allem fühle ich mich hier draußen sicherer als in Moria“, sagt sie.

Am gleichen Tag geben lokale Politiker der Regierung in Athen ein Ultimatum. Wenn sie es nicht bald schaffen, die Insel Lesbos zu entlasten, droht ein Generalstreik der Inselbewohner. Staatliche Behörden und Geschäfte sollen für einige Zeit geschlossen werden. Auch Spyros Galinos, der Bürgermeister von Lesbos, findet klare Worte: „Wir sind gegen eine Politik, die Lesbos und andere Grenzregionen zu Konzentrationslagern verwandelt. Wir sind gegen eine Politik, die keine menschliche Würde mehr kennt.“

Zwei Stunden später marschieren Soldaten und Pfadfinder zu Blasmusik die Küstenstraße entlang. Die Gruppe sitzt noch immer auf der kleinen Treppenerhöhung. Mittlerweile sind sie von zwanzig Polizisten eingekreist. Die Gruppe protestiert stumm. Sie lässt ihre Banner sprechen. Als am Nachmittag die letzten Lautsprecherdurchsagen verklingen und die Polizisten in ihre Busse steigen, steht Adele nach einer Weile auf, zieht ihre Matte zurück auf den Platz und fängt an, die Halterungen der Banner mit einem Backstein zurück in den Boden zu schlagen.

 

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