16. November 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge verkaufen ihre Organe für Reise übers Mittelmeer“ · Kategorien: Ägypten, Griechenland · Tags:

Welt | 15.11.2017

Für die Flucht übers Mittelmeer geben verzweifelte Migranten alles – sie verkaufen ihre Organe für ein paar Tausend Euro. Doch sie werden nur ausgeweidet, ihr Traum platzt. Das System eines perfekten Verbrechens beginnt in Kairo.

Im Kairo jenseits des Nils sind die Straßen sandig und düster. Hochhäuser ragen dicht nebeneinander auf. Sie öffnen nur einen schmalen Spalt für den smoggrauen Himmel. Und das Auto, das abrupt im Staub neben Ibrahim hält, bedeutet Gefahr. Der Flüchtling aus Eritrea ahnt sofort, was die Männer wollen. Er kennt die Geschichten von Leichen, die Tage später wie Müll am Straßenrand auftauchen. Ihrer Organe beraubt, ausgeweidet wie erlegte Tiere.

Heute, ein paar Monate später, humpelt der 57-Jährige durch seine karge Wohnung, die er sich mit drei anderen Männern teilt. Er setzt sich auf das Bett, übereinandergelegte Matten. Das Gehen schmerzt, nicht nur wegen seines Alters.

Als die Männer – in Ibrahims Erinnerung nicht mehr als verschwommene Gestalten – damals aus dem Wagen springen, packen sie ihn an seinem traditionellen Gewand und reißen es über seinen Kopf. „Ich konnte nicht atmen“, erzählt er.

Sie zerren ihn ins Auto. Kein Wort. Treppen hoch, und um Ibrahim wird es Licht. Er ist in einer Wohnung. Gefesselt an Händen und Füßen. „Ich sah einen Tisch voller Messer“, erinnert er sich. Die Männer, sie schweigen noch immer. Jeder Handgriff sitzt. Als hätten sie Routine. Sie legen ihn auf den Tisch und verlassen den Raum.

„Das Einzige, worüber ich in diesem Moment nachgedacht habe, ist der Tod“, sagt der Mann, der seitdem fast jede Nacht von der Entführung träumt.

Neben ihm sieht Ibrahim die Messer blitzen. Bevor sie mich aufschneiden, denkt er, schneide ich mich los. Er robbt an die Messer heran und schafft es schließlich, die Fesseln zu durchtrennen.

Ibrahim läuft zum Fenster. Die Männer könnten jeden Moment zurückkommen. „Ich schaute nicht runter, ich bin einfach gesprungen.“

Illegaler Organhandel in Ägypten

Für die zahllosen Banden in Kairo haben Menschen wie Ibrahim keinen Wert. Nur ihre Organe, die können sie für gutes Geld verkaufen. Es gibt zahlreiche Geschichten wie die des Eritreers. Unabhängig überprüft werden können sie nicht.

Die Wahrheit ist ein Sumpf in Ägypten. Und das Problem des Landes mit illegalem Organhandel wird lieber darin ertränkt als angesprochen. Diejenigen, die es doch machen, werden gerne als Lügner hingestellt.

Es sind bei Weitem nicht nur Straßengangs, die Jagd auf die Nieren oder die Leber von Mittellosen machen. Ein Geflecht aus Ärzten, Krankenhäusern und Vermittlern gibt dem Verbrechen ein System. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnete Ägypten vor einigen Jahren als eine der Drehscheiben des internationalen Organhandels.

Migranten in Cafés angesprochen

Die Opfer sind oft Migranten, zum Beispiel aus dem Sudan. Die sudanesische Gemeinschaft in Kairo zählt Hunderttausende Menschen. Sie hat ihre eigene Subkultur, ihre eigenen Cafés. Hier beginnt das Verbrechen.

Eines dieser Cafés liegt am Rande des Zentrums im Schatten zweier Häuserblocks. Unter den Dutzenden Klimaanlagen an den Betonwänden zerstäuben die Tropfen und nieseln durch den Apfelqualm der Wasserpfeifen auf die schmutzigen Fliesen und Backgammon-Bretter. Die Männer auf ihren Plastikstühlen schauen argwöhnisch, wenn man sich einen Tee bestellt.

Ein ägyptischer Barbesitzer nebenan kommt ins Reden. Viele Sudaner hier meinten es nicht gut mit ihren Landsleuten. Sie würden sie erst zu Getränken einladen, bis sie betrunken seien. „Wenn sie dann nach Hause gehen, stehlen sie alles.“ Von den Geschäften mit den Organen ganz zu schweigen, raunt er.

Es war ein solches Café, in das Haidar sich vor einigen Monaten setzte. Er ist neu in Kairo, seine Familie noch im Sudan, er hat kein Geld und keine Bleibe. Ein anderer Sudaner setzt sich zu ihm. Ob er ein Bett brauche? Er habe Platz in seiner Wohnung. Der Mann bietet noch mehr: 7000 Dollar für Haidars Niere.

Im Kopf des Mitte 30-Jährigen überschlagen sich die Möglichkeiten. So viel Geld hatte er noch nie. Er denkt ans Meer, an die Boote, die ihn und seine Familie nach Europa bringen könnten, zu diesem Erdteil, von dem Haidar so gut wie nichts weiß, mit dem er aber die größten Hoffnungen verbindet. Er wird einen Teil seines Körpers für die Chance auf Europa geben.

Mittelmeer-Route über Libyen

Es ist „die Saison der Fischer“, wie Mohammed Menalla, Leiter der ägyptischen Flüchtlings-NGO Tadamon, diese Tage im Sommer nennt. Er meint die Boote vor der Mittelmeerküste, von denen einige ihre Kammern nicht mit Meeresfrüchten, sondern mit Menschen füllen. „Einige von ihnen verkaufen ihre Nieren dafür, um auf das Boot nach Italien zu kommen“, sagt Menalla. Die starten vor allem in Libyen. Die Route über die ägyptische Küste wird nach einem schweren Unglück mit etwa 200 Toten 2016 strenger kontrolliert.

In der Klinik in einer Satellitenstadt Kairos erwacht Haidar nur langsam aus der Narkose. Sein Körper ist ein anderer, das fühlt er. Er ist allein. Wo sein Freund sei, fragt er eine Krankenschwester. In dem Haus schienen sie ihn alle sehr gut zu kennen. „Der holt dir ein Taxi, um dich nach Hause zu bringen“, antwortet sie knapp.

Der grob gewobene Pulli des Migranten verdeckt heute eine große Narbe auf seinem Rücken. „Ich wollte für ein besseres Leben nach Europa gehen, für eine gute Ausbildung für meine Kinder“, sagt Haidar und raucht eine Zigarette nach der anderen, während im Nebenraum der Kairoer Wohnung sechs Mädchen und Jungen lärmen. Von Europa redet er nach dem, was er nach der Operation erlebte, nur noch in der Vergangenheitsform.

Ohnmacht vor einem perfekten System

„Keiner kann etwas gegen das System tun“, sagt Menalla nur. Er kennt die Maschen der Broker, das System aus Ärzten und Krankenhäusern auswendig. In Ägypten ist es zwar verboten, Organe zu verkaufen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Spende aber erlaubt. Das machen sich die Netzwerke zunutze.

Sogenannte Broker suchen nach willigen Spendern und vermitteln sie an Krankenhäuser. Die Opfer sind meist zwischen 20 und 40, die Aussichten auf 5000 bis 7000 Dollar für eine Niere sind realistisch.

Gleichzeitig wenden sich Empfänger – unter ihnen viele wohlhabende Araber aus dem Golf – an die einschlägigen, teilweise staatlichen Krankenhäuser. Sie geben Zehntausende Euro für eine neue Niere. Auf dem Papier werden die Deals zurechtgebogen, das Organ wird offiziell „gespendet“ statt verkauft. Den großen Profit machen die Ärzte und Manager in den Krankenhäusern.

Die Polizei durchsucht zwar gelegentlich Kliniken und nimmt angebliche Beteiligte fest. Doch auch danach geht das Geschäft weiter. Jedes Rädchen in der Maschinerie kann ersetzt werden, solange es den Hintermännern nicht an den Kragen geht, sagen Experten in Ägypten hinter vorgehaltener Hand.

Karam war ein ganz normaler Fischer, bis auch er mit den großen Scheinen des Menschenhandels gelockt wurde. Er steht gebückt im Maschinenraum eines Bootes. Hinter ihm, am Ende der Bucht, glänzt die weltberühmte Bibliothek von Alexandria in der Sonne. Mit ein paar Handgriffen bringt er den stotternden Motor zum Laufen.

Die Augustnacht vor zwölf Jahren wird er nie vergessen. Er stand auf einem kleinen Schiff wie diesem. Stockdunkel war es, das Boot wogte einen Kilometer vor der Küste im Meer. Die Lichter hatte Karam ausgeschaltet. Er wartete. Die Boote mit den Menschen kamen um drei Uhr. „Ich habe gefühlt, dass das, was ich tue, falsch war“, sagt er heute.

Doch das Angebot, was ihm zuvor ein Mann am Telefon gemacht hatte, war zu gut. Er wollte ihm umgerechnet mehr als 60.000 Euro zahlen, wenn er 120 Menschen nach Griechenland brächte. Die Passagiere – unter ihnen Syrer, Ägypter und Menschen aus Bangladesch – kamen ohne Rettungswesten, nur mit diffusen Träumen. Karam brachte sie auf eine griechische Insel. Und sich damit fünf Jahre in Haft.

Der Mittelsmann hat ihm die zweite Hälfte des versprochenen Geldes nie gegeben. „Wenn ich ihn jemals wiedersehe, werde ich ihn umbringen“, sagt Karam, und Tränen sammeln sich in seinen Augen.

Aufs Meer, auf eines der Boote, wird Haidar es mit seiner Familie wohl nie schaffen. Denn das Taxi, das sein Freund nach der Operation angeblich für ihn rief, kam nicht. Der Sudaner verließ die Klinik alleine. Er macht sich auf den Weg in das Café, wo der Mann ihn Monate zuvor angesprochen hatte. Keine Spur von ihm. Auch seine Wohnung war verschlossen. Der Hausmeister sagte, er sei ausgezogen.

Haidar kann bis heute nicht glauben, wie er sich so in einem Menschen täuschen konnte. Sie hätten zusammen gegessen, erzählt er, Brot und Salz. Nachdem man Brot und Salz hatte, so sagt man, kann man einander vertrauen. Das tat Haidar.

Bis er irgendwann stirbt, wird er nur noch eingeschränkt leben können. Schwere Arbeit kommt für ihn nicht mehr infrage. Doch Haidar sagt: „Wenn ich einen Ventilator im Sommer habe und gutes Essen, wird es mir gutgehen.“ Von Europa träumt er nicht mehr. Mehr als eine Niere kann er nicht geben.

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