16. November 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge: Die Sündenböcke neoliberaler Politik“ · Kategorien: Deutschland, Social Mix · Tags: ,

Telepolis | 16.11.2017

Für steigenden Lohndruck oder Wohnungsmangel sind nicht Flüchtlinge verantwortlich, die Ursachen der Probleme liegen lange vor der massenhaften Zuwanderung

Nico Beckert

Nach der Bundestagswahl schlug die Diskussion um den Wahlerfolg der AfD und mögliche Ursachen für den Wahlerfolg hohe Wellen. Mir sind dabei einige vermeintliche Erklärungen für die große Zustimmung der AfD und die Schwäche der Linken aufgefallen, die ich im Folgenden aufgreifen und näher beleuchten möchte.

Zuletzt war beispielsweise von Oskar Lafontaine zu vernehmen:

Die soziale Gerechtigkeit verpflichtet dazu, denen zu helfen, die darauf am meisten angewiesen sind. Man darf die Lasten der Zuwanderung über verschärfte Konkurrenz im Niedriglohnsektor, steigende Mieten in Stadtteilen mit preiswertem Wohnraum […] nicht vor allem denen aufbürden, die ohnehin bereits die Verlierer der steigenden Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sind.

Oskar Lafontaine

Meiner Meinung nach werden die politischen Ursachen sozialer Härte und steigender sozialer Ungleichheit bei solchen Analysen zu wenig beleuchtet. Ich stimme dabei in großen Teilen mit Michael Wendls Argument überein und möchte es anhand der Themen Löhne und Mieten weiter ausführen:

Für die Integration von Flüchtlingen müssen umfangreiche zusätzliche Investitionen in die soziale Infrastruktur (Bildung, Wohnen, Verkehr) finanziert werden. Hier gibt es bereits einen hohen Nachholbedarf. Fakt ist, dass die Bundesregierung bis heute diesen Aufgaben nicht nachgekommen ist und dadurch selbst Schranken der Zuwanderung gesetzt hat. Das verstärkt die mit der Zuwanderung verbundenen sozialen Risiken und Ausgrenzungen. Hier muss eine linke politische Kritik ansetzen.

Michael Wendls (Hervorhebung durch den Autor)

Mit Aussagen wie der von Oskar Lafontaine wird der Eindruck erweckt, die Flüchtlinge würden den anderen etwas wegnehmen. Es stellt sich allerdings die Frage, warum die Probleme des Niedriglohnsektors und der steigenden Mieten mit den Flüchtlingen verknüpft werden, statt die wahren Verursacher dieser Probleme zu benennen. Warum müssen die Flüchtlinge als Sündenbock für den großen Niedriglohnsektor und steigende Mieten herhalten? Ein Fokus auf die Flüchtlinge versperrt die Sicht auf die wahren Verursacher der sozialen Probleme in unserem Land. Probleme, die zudem schon viel früher – also vor der großen Zuwanderung von 2015 – verursacht wurden.

Denn was ist die Realität? Die Realität ist, dass es schon seit den Hartz4-Reformen, seit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu einem immensen Lohndruck kommt. Viele Menschen werden also schon seit Jahren nicht angemessen am Produktivitätsfortschritt, den sie erarbeiten, beteiligt. Die Flüchtlinge in den Mittelpunkt der Lohndiskussion zu stellen und so zu tun, als würden sie immensen Druck auf den „Lohnkessel“ ausüben, geht an den Tatsachen vorbei.

Die oben zitierte Argumentation Lafontaines verkennt auch den politischen Handlungsspielraum und die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt kein Markt wie jeder andere ist beziehungsweise nicht zwangsläufig den Marktkräften überlassen werden muss. Eine Stärkung der Gewerkschaften oder Eingriffe des Staates – beispielsweise eine Erhöhung des Mindestlohns – würden Abhilfe beim Problem stagnierender Löhne schaffen – und zwar ganz unabhängig von den Flüchtlingen. Eine restriktive Flüchtlingspolitik hingegen setzt nicht bei den Ursachen stagnierender Löhne an.

Zudem wird mit einer aufrechnenden Betrachtungsweise („Flüchtlinge nehmen etwas weg“) komplett übersehen, dass Zuwanderung als Konjunkturprogramm dient. Kurz gefasst: Flüchtlinge sind nicht nur potenzielle Arbeitnehmer, sondern auch (direkte und indirekte) Konsumenten. Sie erhöhen die Nachfrage und können letztendlich dazu beitragen, dass neue Jobs entstehen. Das DIW erwartet beispielsweise, dass die Wirtschaft durch den Konsum der Flüchtlinge und indirekte Multiplikatoreffekte jährlich um 0,7% zusätzlich wachsen wird.

Zu guter Letzt ist auch Realität, dass die Ausländerbehörde und die Bundesagentur für Arbeit der Ausübung einer Beschäftigung von Asylbewerbern zustimmen müssen. Die BA hat vor der Zustimmung zudem zu prüfen, ob deutsche Arbeitnehmer oder EU-Ausländer für die Besetzung der entsprechenden Arbeitsstelle zur Verfügung stehen (wenn der Asylbewerber nicht mindestens 15 Monate erlaubt, geduldet oder gestattet in Deutschland lebt). Zudem darf der ausländische Asylbewerber „nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt“ werden.

Für Flüchtlinge aus sicher definierten Herkunftsländern mit Duldungsstatus, die nach dem 31.08.2015 einen Asylantrag gestellt haben, gilt zudem ein generelles Beschäftigungsverbot. Bei „den Flüchtlingen“ ist also zu differenzieren. Geduldete aus sicheren Herkunftsstaaten und Asylbewerber können aufgrund der Einschränkungen kaum als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gelten. Einzig anerkannte Flüchtlinge, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte können jede Art von Beschäftigung aufnehmen.

Dabei gibt es neben den rechtlichen Hürden praktische Hürden, die nahezu alle Flüchtlinge gegenüber deutschen Arbeitnehmern benachteiligen: seien es mangelnde Deutschkenntnisse, die schwierige Anerkennung von ausländischen Schulabschlüssen und Ausbildungen, Wohnsitzauflagen, die es erschweren, dass sich Flüchtlinge in anderen Städten bewerben können, oder auch Vorbehalte und Vorurteile bei Arbeitgebern. Pauschal zu sagen, dass Deutsche nun mit Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren, verkürzt also die realen Gegebenheiten.

Steigende Mieten – auch hier sind die Flüchtlinge nicht Ursache

Ebenso problematisch ist die oben zitierte Argumentation Lafontaines beim Thema der steigenden Mieten. Auch hier wird über die Flüchtlinge als Last für die Abgehängten geredet, ohne die wahren Ursachen des seit mittlerweile zwei Jahrzehnten bestehenden Problems steigender Mieten zu benennen.

Statistiken belegen, dass der Mietpreisindex in Deutschland mindestens seit Mitte der 1990er Jahre konstant ansteigt. Die Zuwanderung hat den Anstieg weder verschärft, noch hat sie ihn verursacht.

Eine Ursache der steigenden Mieten für Geringverdiener ist die stark abnehmende Anzahl von Sozialwohnungen in Deutschland. Gab es Anfang der 1990er Jahre noch circa 3 Millionen Sozialwohnungen, waren es 2013 nur noch 1,5 Millionen. Und seitdem ging die Zahl noch einmal um circa 150.000 zurück.

Auch die von der Bundesregierung angedachte Mietpreisbremse konnte dem Trend steigender Mieten nicht entgegenwirken. Zum einen gibt es keine Strafen für Vermieter, die die Mietpreisbremse missachten. Zum anderen basiert sie auf dem Mietspiegel der jeweiligen Kommune. Allerdings gibt es in 3 von 4 Kommunen mit Mietpreisbremse gar keinen Mietspiegel. Correctiv zitiert dazu den Geschäftsführer der Regensburger Stadtbau GmbH mit den Worten: „Die Mietpreisbremse ohne verpflichtenden Mietspiegel ist so, als hätte man beim Mindestlohn nicht festgelegt, ob eine Stunde 55, 60 oder 65 Minuten lang ist.“

Und in Berlin sind es Immobilienspekulanten, die alte Mieter aus ihren Wohnungen drängen, um die Häuser dann teuer zu verkaufen. Denn Immobilien als Mietshäuser zu halten, ist aufgrund der Wohnungsknappheit nicht mehr so rentabel wie günstige Häuser zu kaufen, die Mieter zu verdrängen, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln und diese dann teuer zu verkaufen. Der Spiegel berichtet, dass die Schlupflöcher, die diese Praxis erlauben, bei der Stadtverwaltung schon als Schlupfkrater bekannt sind.

Diese vielfältigen Problemursachen belegen, dass Argumentationen, die Flüchtlinge in den Mittelpunkt der Debatte um steigende Mieten stellen, erneut die wahren Problemursachen verkennen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Flüchtlinge konkurrieren mit sozial Abgehängten sicher um das knappe Angebot an Sozialwohnungen. Aber die Debatte hier zu beenden und nicht die Vorgeschichte knapper Sozialwohnungen zu erzählen, wäre wie die Einleitung eines Buches zu lesen und den Hauptteil des Buches zu übersehen.

Fazit: Neoliberale Politik Ursache für soziale Härte

Deutschland werde sich in den nächsten Jahren bis zu Unkenntlichkeit verändern (so Merkel) und müsse sich jährlich auf eine halbe Million Flüchtlinge einstellen (so Gabriel). Diese Politikeraussagen gehen nicht nur an der Realität mittlerweile geschlossener bzw. weit ins Ausland verschobener Grenzen vorbei (hier). Sie lenken auch von den Problemursachen ab – und zwar im Eigeninteresse der Politiker, die die Probleme stagnierender Reallöhne und steigender Mieten zu verantworten haben.

Einige Wähler mögen die AfD aufgrund von sozialer Härte und steigender sozialer Ungleichheit wählen und nicht mehr die Linke. Die Flüchtlinge allerdings als Ursache sozialer Spannungen auszumachen, greift viel zu kurz.

Denn es sind nicht die Flüchtlinge, die Deutschland verändern, sondern es ist die neoliberale Politik mindestens der letzten 20 Jahre, die Deutschland schon lange verändert hat. Es ist Zeit sich mit den neoliberalen Problemursachen – Privatisierungen, Spekulation, Finanzialisierung, falsche Lohnkonkurrenz, Schwächung der Gewerkschaften – auseinanderzusetzen, statt fälschlicherweise Flüchtlinge für Lohndruck oder steigende Mieten verantwortlich zu machen.

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