01. November 2017 · Kommentare deaktiviert für Aus den Augen aus dem Sinn – hinter Stacheldraht am Rande Europas · Kategorien: Griechenland · Tags: ,

zuerst erschienen: Jungle World 41 | 12.10.2017

Text: Valeria Hänsel (Volunteers for Lesvos)
Fotos: Roman Kutzowitz (Sea Watch)

Der „Hotspot“ Moria – Ein europäischer Albtraum

Der Wind pfeift durch das provisorische Zeltlager des Flüchtlingscamps Moria. Menschen stehen in einer Schlange und warten darauf, sich unter einem alten Schlauch mit eiskaltem Wasser zu duschen. Sie leben in schlecht befestigten Zelten inmitten eines Olivenhains, denn das Auffanglager Moria ist hoffnungslos überfüllt. Rund herum befinden sich Abfälle und Fäkalien, Toiletten gibt es kaum. Neben den Zelten ragt ein hoher Zaun mit NATO-Stacheldraht empor, hinter dem Militär stationiert ist und weitere Geflüchtete untergebracht sind. Der Anblick erweckt den Eindruck, als handle es sich um ein Hochsicherheitsgefängnis. Spärliche Wohncontainer stehen dicht gedrängt hinter mehrreihigen Stacheldrahtzäunen. Doch das Lager beherbergt keine Kriminellen sondern Menschen, deren einziges „Vergehen“ der Wunsch nach einem sicheren und besseren Leben ist. Es ist kein Lager, weit weg in Afrika oder Asien, sondern ein europäisches „Hotspot-Camp“ auf der griechischen Insel Lesbos: Ein Ort, an dem tausende Menschen seit anderthalb Jahren in einer völlig unzureichenden Versorgungslage ausharren müssen.

Nach dem Regen. Im Camp im Olivenhain neben dem Auffanglager Moria sind Zelte, Schlafsäcke, Decken und Pappkartons, die als Matratzen dienen, durchnässt

Es ist Europas vergessene Krise. Einst war Lesbos das Eingangstor nach Europa und beherrschte die mediale Berichterstattung. Tausende Menschen retteten durch die Überfahrt ihr Leben und konnten nach Wochen, manchmal Jahren der Flucht eine neue Zukunft beginnen. Die erprobten europäischen Abschottungsmechanismen versagten. Weder Militärschiffe noch Radartechnologien konnten die Menschen auf der Suche einem Leben in Sicherheit und Würde aufhalten. Sie erkämpften sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit. Die Strände waren bedeckt mit Schwimmwesten und die BewohnerInnen der Insel reichten den Ankommenden in spontaner Hilfsbereitschaft Decken, Wasser und Essen. Zahlreiche Menschen sammelten sich im Hafen der beschaulichen Küstenstadt Mytilene, um mit den Fähren das weiter entlang der Balkanroute zu reisen, dem Traum nach Freiheit entgegen.

„Es ist, als wären wir keine menschlichen Wesen“

Doch heute ist von der Euphorie des Jahres 2015 auf der Insel nichts mehr zu spüren. Auf Lesbos materialisieren sich die Folgen der europäischen Abschottungspolitik: Die Grenzen sind geschlossen und die Verantwortung für den Schutz Verfolgter wird externalisiert und auf die griechischen Inseln und in die Türkei verlagert. Die Insel ist zu einer Falle geworden. Über 6000 Menschen sitzen allein auf Lesbos fest und täglich erreichen neue Menschen die Insel. Fast alle von ihnen sind gezwungen, in Lagern zu leben.

Rohingya, Iraner, Pakistanis und andere haben Lagerhallen nahe Kara Tepe besetzt. Die Polizei kappt oft Strom und Wasser

„Das Leben in Moria macht uns alle krank“, erzählt Mohammad, ein junger Mann aus Syrien, der in Damaskus Architektur studiert hat.

„Wir wachen morgens dicht gedrängt im Zelt auf. Es stinkt nach altem Fleisch. Ich kann es nicht ertragen, mich nicht richtig waschen zu können. Im Sommer ist es unerträglich heiß und stickig und im Winter eiskalt. Alles ist durchnässt. Wenn du morgens aufwachst, kannst du deine Glieder kaum bewegen. Und du bist bedeckt mit Ruß. Letzten Winter haben wir Pappe und Plastik verbrannt, um warm zu bleiben. Es ist, als wären wir keine menschlichen Wesen.“

Mohammad musste eineinhalb Jahre auf die endgültige Bearbeitung seines Asylantrags warten. Er hasst es, bei Hilfsorganisationen um Decken und Kleidung bitten zu müssen und fühlte sich zur Passivität verdammt. Er berichtet davon, wie sich Menschen in ihrer Verzweiflung selbst verletzen und es immer wieder zu Suizidversuchen kommt, denn die Geflüchteten sind den Bedingungen, die durch die Europäische Union geschaffen wurden, schutzlos ausgeliefert. Auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen stellte einen drastischen Anstieg von psychischen Leiden unter AsylbewerberInnen auf Lesbos fest und Save the Children berichtet, dass Selbstverletzungen und Suizidversuche bereits bei Kindern vorkommen. „Es ist so erniedrigend.“, erklärt Mohammad. „Morgens musst du früh aufstehen und dann stundenlang für ein kleines bisschen Essen anstehen, hinter hunderten von Menschen und trotzdem gibt es nie genug um satt zu werden. Nach einigen Monaten verlieren die Menschen alle Hoffnung.“

„Ich möchte erreichen, dass die Menschen in Europa nicht den großen Medien glauben“

Der junge Filmemacher Freidun Joinda lächelt Mohammad hinter der Kamera zu und zeigt den Daumen nach oben. Er hat Mohammads Worte aufgezeichnet und legt zufrieden das Stativ seiner Kamera zusammen. Freidun ist selbst ein Geflüchteter, der weiß, was es bedeutet über Monate stundenlang für Essen anzustehen. Er kämpft dafür, die Lebenssituation der Menschen auf der Insel sichtbar zu machen. Zusammen mit seinen zwei Brüdern Fardin und Jalal floh er aus Afghanistan, weil die progressive Satiresendung seiner Familie der afghanischen Regierung und den Taliban ein Dorn im Auge war. Anfangs nur ausgestattet mit einem Handy begann Freidun auf Lesbos Kurzfilme über die Lebenssituation von Geflüchteten zu machen. „Ich will einfach nur die Wahrheit zeigen“, erklärt er. „Ich möchte erreichen, dass die Menschen in Europa nicht den großen Medien glauben. Flüchtlinge sind einfach nur Menschen, sie haben Talente, Emotionen und Träume. Aber im Lager werden wir behandelt wie Untermenschen.“

Schlange stehen für kaltes Wasser. Ein Bauer hat den rund 400 Bewohnern des Camps im Olivenhain den Schlauch gelegt

Abgeschoben und vergessen – Der EU-Türkei Deal

Einer der Hauptgründe für die verzweifelte Situation von Geflüchteten auf Lesbos ist der EU-Türkei Deal. Der von der deutschen Bundesregierung vorangetriebene neoliberale Pakt fordert, dass alle Menschen, die nach dem 20. März 2016 die griechischen Inseln erreicht haben, in die Türkei zurückgeschoben werden – selbst, wenn ihnen nach der Genfer Konvention ein Flüchtlingsstatus zuerkannt werden müsste. Bis ihre Verfahren abgewickelt sind, müssen die Betroffenen auf den griechischen Inseln ausharren. Freiduns Dokumentarfilm Sent to their Deaths zeigt, wie die idyllische Insel Lesbos durch den Deal für Menschen im Asylverfahren zu einem Freiluftgefängnis wird. Sie warten dort in wachsender Verzweiflung auf ihre Abschiebung in die Türkei. Einige Schutzsuchende werden zudem aufgrund ihrer Nationalität pauschal während ihres gesamten Asylverfahrens in einem Abschiebegefängnis im Inneren des Lagers Moria inhaftiert. Nach mehreren Monaten werden die meisten von ihnen in die Türkei zurückgeschoben. Doch auch dort können sie der Inhaftierungsmaschinerie nicht entfliehen. Freidun lässt in seine Film die Koordinatorin des Legal Centre Lesbos, Lorraine Leete zu Wort kommen, die erklärt:

„Selbst für SyrerInnen ist die Türkei nicht sicher. Aber alle Menschen, die nicht aus Syrien stammen, werden nach der Ankunft in sogenannten Rückführungszentren inhaftiert. Schon der Name macht klar, was die Türkei mit diesen Menschen vorhat – und tatsächlich werde die meisten von dort in ihre Herkunftsländer abgeschoben.“

Doch es regt sich Widerstand unter den Betroffenen, die nicht tatenlos zum Spielball der europäischen Abschottungspolitik werden wollen. Immer wieder gibt es auf Lesbos Protestmärsche und Hungerstreiks und viele Geflüchtete entziehen sich dem Leben im Lager. Sie besetzen leerstehende Gebäude, in denen sie in selbstorganisierten Gemeinschaften leben. Auch der Filmemacher Freidun aus Afghanistan hat lange Zeit in einer alten Lagerhalle gelebt und gearbeitet, die von geflüchteten und europäischen AktivistInnen bewohnbar gemacht wurde. Aber auch dort sind die Lebensbedingungen ohne fließendes Wasser und Schutz gegen die Witterung alles andere als einfach und die Menschen leben in ständige Angst vor Räumungen und Inhaftierungen.

Tee wird im Camp auf offenem Feuer gekocht. Eine Küche gibt es hier nicht

Winter is coming – „Auch diesen Winter wird es wieder Tote geben“

Zudem wird es Winter. Auch auf der griechischen Insel Lesbos am Rande Europas. Hier ist der Winter tödlich. Im letzten Jahr kamen im Lager Moria drei Menschen in schneebedeckten Zelten ums Leben und eine Frau und ein junges Mädchen verbrannten im Lager vor den Augen ihrer Familien nach der Explosion eines Gaskochers. Auch diesen Winter leben Menschen in Moria in labilen Zelten. Doch die Zuständigen bleiben tatenlos. Die griechische Regierung, die Europäische Union und der UNHCR schieben die Verantwortung von sich. Bisher ist kein Plan zu erkennen, dass die undichten Zelte ersetzt werden. „Auch diesen Winter wird es wieder Tote geben“, befürchtet Freidun. „Sie halten die Menschen gefangen, selbst wenn sie dabei sterben. Und niemand wird dafür zur Verantwortung gezogen.“

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