17. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Europäische Werte II“ · Kategorien: Afrika, Deutschland, Europa, Libyen · Tags: ,

German Foreign Policy | 17.08.2017

TRIPOLIS/BERLIN/ROM
(Eigener Bericht) – Eine steigende Zahl an Todesopfern in der nordafrikanischen Wüste und gravierende Verstöße gegen internationales Recht begleiten die Bemühungen der Bundesregierung um die Abschottung der EU gegen Flüchtlinge aus Afrika. Die Bestrebungen Berlins, die Grenze zwischen Libyen und Niger abzuriegeln, führen zu einer Verlagerung der Fluchtrouten auf gefährlichere Wege und zur Zunahme des Flüchtlingssterbens in der Sahara. Ein weiterer Anstieg der Todesopfer wird auch im Mittelmeer befürchtet, seit Italien und die libysche Marionettenregierung in Tripolis begonnen haben, Seenotretter an ihrer Tätigkeit vor der libyschen Küste zu hindern. Parallel unterstützt die Bundesregierung die Internierung von Flüchtlingen in Libyens Haftlagern, die für brutale Gewalt bis hin zum Mord an Gefangenen berüchtigt sind. Man müsse in den Lagern „humanitäre Standards“ durchsetzen, äußert Bundeskanzlerin Angela Merkel und greift dazu auf die Dienste der International Organization for Migration (IOM) und des UNHCR zurück. Die Aktivitäten laufen auf ein mehrgliedriges Flüchtlingsabwehrsystem mit zwei Abschottungsringen und einem Netzwerk von Lagern hinaus.

Der erste Abschottungsring

An der Verstärkung des ersten Abschottungsrings, der nach den Plänen der Bundesregierung an der Südgrenze Libyens liegen soll, arbeitet zur Zeit vor allem das Bundesverteidigungsministerium. Ministerin Ursula von der Leyen hat Ende Juli bei einem Besuch in Niamey, der Hauptstadt des Niger, Geräte im Wert von rund fünf Millionen Euro an das Militär und die Polizei des Landes übergeben. Ihnen stehen von nun an für die Suche nach Flüchtlingen 100 Pritschenwagen, 115 Motorräder und 55 Satellitentelefone aus Deutschland zur Verfügung.[1] Darüber hinaus hat Berlin einen Verbindungsoffizier nach Niamey entsandt; der Oberstleutnant soll unter anderem eruieren, welche weiteren Unterstützungsleistungen die nigrische Flüchtlingsabwehr benötigt. An der Abschottung der nigrisch-libyschen Grenze arbeitet seit geraumer Zeit auch Italien; die ehemalige Kolonialmacht bemüht sich nicht zuletzt, südlibysche Clans zur Beteiligung an der Flüchtlingsjagd zu bewegen (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat zudem bereits im Frühjahr für die Entsendung einer EU-„Grenzschutzmission“ an die libysch-nigrische Grenze plädiert.[3]

Flüchtlingssterben in der Wüste

Die Abschottungsmaßnahmen entfalten mittlerweile Wirkung: Laut Berichten der International Organization for Migration (IOM) meiden immer mehr Flüchtlinge die traditionellen, inzwischen scharf kontrollierten Reiserouten, die durch Städte und Ortschaften wie Agadez führen. Stattdessen weichen sie, um nicht entdeckt und festgesetzt zu werden, zunehmend auf gefährlichere Wege fern der bekannten Versorgungs- und Wasserstellen aus. Entsprechend steigt die Zahl der Todesopfer in der Wüste. Die IOM dokumentiert für die ersten sieben Monate des laufenden Jahres bislang 265 tote Flüchtlinge in Nordafrika. Allerdings werden viele Todesfälle in der Wüste nur mit beträchtlicher Verspätung bekannt; zudem gilt die Dunkelziffer als erheblich. IOM-Spezialisten schließen nicht aus, dass die Zahl der in der Wüste umgekommenen Flüchtlinge inzwischen „in die Tausende“ geht. Andere Experten halten es sogar für möglich, dass sie diejenige der Todesopfer im Mittelmeer bereits übertrifft.[4] Für das Mittelmeer dokumentiert die IOM in diesem Jahr – Stand: 14. August – 2.408 tote Flüchtlinge.

Der zweite Abschottungsring

Dabei warnen Hilfsorganisationen, die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer könne in nächster Zeit deutlich steigen. Ursache ist das – von Berlin ausdrücklich gebilligte – rabiate Vorgehen Italiens und der libyschen Marionettenregierung in Tripolis gegen Seenotretter wie die Organisation Médecins sans Frontières. Diese konnten im Mittelmeer nach Angaben der italienischen Nachrichtenagentur ANSA im vergangenen Jahr 46.796, in den ersten vier Monaten 2017 weitere 12.646 Flüchtlinge retten.[5] Weil sie die Flüchtlinge nach Italien in Sicherheit bringen, anstatt sie – wie es etwa die libysche Küstenwache tut – nach Libyen zu überstellen, laufen ihre Aktivitäten dem Bestreben Berlins und der EU zuwider, das Mittelmeer zu einem zweiten Abschottungsring auszubauen. Die italienische Regierung hat ihre Tätigkeit nun mit einem „Verhaltenskodex“ eingeschränkt, der – dies bestätigen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages – in Teilen klar völkerrechtswidrig ist. Mehrere Hilfsorganisationen sehen sich deshalb gezwungen, ihre Rettungsaktivitäten einzustellen.

Schüsse auf Seenotretter

Hinzu kommt, dass nun auch noch die libysche Marionettenregierung die verbliebenen Seenotretter akut bedroht. Wie ein Admiral der libyschen Marine erklärt, sperrt die – auf deutsches Betreiben ins Amt gelangte [6], an Land weitgehend machtlose – Marionettenregierung die Gewässer vor der libyschen Küste für private Rettungsschiffe.[7] Dies gilt dem libyschen Admiral zufolge nicht nur für die übliche Zwölf-Meilen-Zone, sondern für ein viel größeres Seegebiet. Konkret geht es laut Berichten um eine obskure 97-Meilen-Zone, die Italien Libyen in einem „Freundschaftspakt“ vom 30. August 2008 eigenmächtig genehmigte. Faktisch erhebt Tripolis damit einen Anspruch auf ein Gebiet, das laut dem internationalen Seerecht der Ausschließlichen Wirtschaftszone des Landes zuzurechnen ist und der allgemeinen Seefahrt offensteht. Jede Sperrung der ominösen Zone, ganz besonders eine Sperrung für Rettungsschiffe, ist, wie Experten bestätigen, völkerrechtswidrig.[8] Dessen ungeachtet bedroht die – von der EU ausgebildete und ausgerüstete – libysche Küstenwache die Seenotretter, sollten sie die illegale Meeressperrung ignorieren. Man habe schon in der Vergangenheit feststellen müssen, „dass sie nicht zögern, sondern gleich schießen“, berichtet der Gründer einer der Rettungsorganisationen.[9] Zuletzt gab Mitte vergangener Woche ein libysches Küstenwachschiff Warnschüsse auf Seenotretter ab, die soeben mehr als 150 Flüchtlinge an Bord genommen hatten. Die libysche Küstenwache ist ohnehin für gewalttätige Übergriffe berüchtigt. Kürzlich wurde ein Video bekannt, das zeigt, wie libysche Küstenwächter hilflose Flüchtlinge mit dicken Seilen auspeitschen. Weitere Vorwürfe gegen sie beinhalten schwerste Verbrechen, darunter Mord (german-foreign-policy.com berichtete [10]).

„Humanitärer Standard“

Ergänzend zum Ausbau eines ersten (nigrisch-libysche Grenze) und eines zweiten (Mittelmeer) Abschottungsrings unterstützt die Bundesregierung die Internierung von Flüchtlingen in libyschen Lagern. Dazu nutzt sie die Dienste der IOM und des UNHCR. Die aktuell in Libyen bestehenden Haftlager werden seit Jahren von Menschenrechtsorganisationen aller Art heftig kritisiert: In ihnen sind Misshandlungen, Folter, Versklavung und Mord an der Tagesordnung; in Diplomatenkreisen war bereits von „KZ-ähnlichen Verhältnissen“ die Rede (german-foreign-policy.com berichtete [11]). „Wir haben zu gewährleisten, dass diese Zentren im Rahmen eines humanitären Standards arbeiten“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel vergangene Woche nach einer Zusammenkunft mit IOM-Generaldirektor William Lacy Swing und UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi.[12] IOM und UNHCR bemühen sich entsprechend, die Lebensbedingungen in Libyens Haftlagern zu verbessern; IOM-Generaldirektor Swing etwa sprach sich bei einem Aufenthalt in Tripolis Anfang des Monats für die Einführung offener Lager aus.[13] Die IOM hat zudem ein Lager in Niamey eingerichtet, aus dem Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer rückgesiedelt werden. Ähnliche Projekte wolle man auch in Libyen starten, teilte Swing vergangene Woche in Berlin mit. Merkel hat sich bereit erklärt, bis zu 50 Millionen Euro für entsprechende Aktivitäten der IOM und des UNHCR in Libyen zur Verfügung zu stellen.

„Europa“ steht bereit

Aktuelle Äußerungen von Außenminister Sigmar Gabriel deuten darauf hin, dass Berlin sich darüber hinaus die Option zu einer weiterreichenden Intervention offenhält. Wenn man fordere, man solle „die auf dem Mittelmeer geretteten Flüchtlinge zurück nach Libyen bringen und dort anständig versorgen“, dann „wirft das doch die Frage auf: wer schützt diese Menschen dort?“, sagte Gabriel zu Wochenbeginn: „Wer bekämpft die gewalttätigen und verbrecherischen Milizen, die heute jeden Tag in den Flüchtlingslagern die Menschen schinden?“ Die Antwort laute: „Europa muss bereit sein, sich solchen Fragen zu stellen.“[14] Der Kampf gegen Milizen bedeutet den nächsten Krieg.

Mehr zum Thema: Europäische Werte.
[1] Deutschland unterstützt Niger mit Ausrüstung. www.handelsblatt.com 31.07.2017.
[2] S. dazu Europas Wüstengrenze (II).
[3] S. dazu Europas Wüstengrenze.
[4] Kieran Guilbert: Niger smugglers take migrants on deadlier Saharan routes: U.N. www.reuters.com 08.08.2017.
[5] More NGOs halt rescues off Libya after threats. www.ansa.it 14.08.2017.
[6] S. dazu und Von Lagern umgeben.
[7] Libyen will Küste für private Rettungsschiffe sperren. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.08.2017.
[8] Peter Maxwill: Sperrzone im Mittelmeer. www.spiegel.de 14.08.2017.
[9] Seenotretter setzen Missionen im Mittelmeer aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.08.2017.
[10] S. dazu Gegen Terror und Migration (II) und Vor der dritten Niederlage.
[11] S. dazu Massenabschiebung als Modell, Rückschub in die Hölle und Europas Wüstengrenze (II).
[12] Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Grandi, und dem Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, Swing, im Bundeskanzleramt. Berlin, 11.07.2017.
[13] Libya Remains Top Priority for UN Migration Agency: DG Swing in Tripoli. reliefweb.int 04.08.2017.
[14] „Jetzt ist die Stunde der Diplomatie, nicht des Kriegsgeschreis“. www.auswaertiges-amt.de 15.08.2017.

Kommentare geschlossen.