09. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingshelfer in Südfrankreich: Trotziger Bauer erneut verurteilt“ · Kategorien: Frankreich, Schengen Migration · Tags: , ,

NZZ | 08.08.2017

Der Staat breche die Gesetze, nicht er, sagt der Flüchtlingshelfer Cédric Hérrou. Er will sein Engagement für Asylbewerber fortsetzen, auch wenn ihm Gefngnis droht.

von Andres Wysling

Cédric Herrou ist der Fahnenträger der Flüchtlingshelfer in Frankreich. Der 38-jährige Biobauer lebt im Roya-Tal an der italienischen Grenze auf einem abgelegenen Landgut mit 800 Olivenbäumen. Weit über die Landesgrenzen hinaus ist er schon bekannt, weil er – zusammen mit andern – Hunderten von Migranten aus Afrika geholfen hat, nach Frankreich zu gelangen und im Land zu bleiben. Er hat ihnen Unterkunft und Verpflegung geboten, auch bei der Weiterfahrt und bei Behördenkontakten geholfen. Allerdings hat er dabei die Grenzen der französischen Gesetze gebrochen, wie ein neues Gerichtsurteil bestätigt. Vier Monate Gefängnis drohen ihm, falls er seine Hilfe nicht sofort einstellt.

Mit runder Brille und Bart erscheint Herrou weniger als knorriger Bauer denn als wetterfester Intellektueller. Als «Néorural» ist der Städter aus Nizza aufs Land gezogen, um im Bergtal die «France profonde» oder die Ruhe und sich selbst zu finden. Jetzt sagt er, gestählt von etlichen Nächten in Polizeigewahrsam, er werde auf jeden Fall weiter kämpfen. Es sei der Staat selbst, der das Recht breche, wenn er Flüchtlingen ein ordentliches Asylverfahren und Nothilfe verweigere oder Minderjährige ausschaffe. Wenn der Staat versage, müssten die Bürger eingreifen. Solidarität sei in dieser Lage Pflicht, kein Verbrechen.

Mit seinem Aufbegehren gegen die Staatsräson ist Herrou nicht allein. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder die französische Ligue des droits de l’homme folgen der gleichen Argumentationslinie. Und vor allem kann sich der kämpferische Bauer auf ein ganzes Netzwerk von Flüchtlingshelfern stützen. Nicht wenige Einwohner des Roya-Tals sind offenbar bereit, Ankömmlinge aus Afrika aktiv zu unterstützen; gegen mehrere laufen ebenfalls Strafverfahren. Ihr Engagement ist nicht nur humanitär, sondern auch politisch. Ihr Tun dokumentieren sie, auch mit Hilfe der Medien, fallweise im Internet. Der Innenminister sollte einmal ins Roya-Tal kommen und seinen Hof besuchen, dann würde er die Lage besser verstehen, sagt Herrou.

Unerschrockene Gastfreundschaft

Als Cédric Herrou Anfang Februar von seinem Gerichtsprozess nach Hause kommt, sitzen ein Dutzend Personen auf den hölzernen Stufen seines Hauses: junge Männer aus Eritrea und Tunesien, eine Afghanin, eine Sudanesin. Herrou, Olivenbauer aus dem südfranzösischen Breil-sur-Roya nahe Italien, nimmt nahezu täglich Migranten auf. In diesem engen Tal mit den 2000 Meter hohen Bergen beherbergen Dutzende von Familien meist junge Flüchtlinge auf der Durchreise.

Keine Angst vor Einwanderern

Herrou wurde am 10. Februar wegen «Beihilfe zum illegalen Aufenthalt von Ausländern in Frankreich» zu einer Geldstrafe von 3000 Euro auf Bewährung verurteilt. Er muss die Strafe nur zahlen, wenn er erneut gegen das Gesetz verstösst. «Die menschliche Solidarität hat gesiegt», sagt Herrou angesichts des milden Urteils vor dem Justizgebäude in Nizza. Die Staatsanwaltschaft hat Berufung gegen das Urteil eingelegt.

Der 37-Jährige mit den schütteren Haaren und der Hornbrille lebt vom Öl seiner 800 knorrigen Olivenbäume und den Eiern seiner Hühner. Er nennt sich einen Einzelgänger. Eigentlich. Aber es sind gerade keine normale Zeiten. Tausende von Migranten kommen jährlich im italienischen Ventimiglia an, 20 Kilometer südlich von Herrous Bauernhof. 37 000 Migranten wurden 2016 im Département Alpes-Maritimes laut Behörden registriert. Das sind 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Neun von zehn dieser Personen wurden nach Italien zurückgeschickt. Normalerweise ist die innereuropäische Grenze nahe Ventimiglia offen – aber Frankreich hat seit den Attentaten in Paris und Nizza den Ausnahmezustand immer weiter verlängert und Kontrollen eingeführt. «Ich muss den hilflosen Flüchtlingen beistehen», sagt Herrou.

Ausgerechnet im Roya-Tal, wo so viele Migranten über die Mittelmeerroute und Italien ankommen wie in kaum einer Region Europas, haben die Anwohner keine Angst vor den Einwanderern. Ausgerechnet hier, in der konservativsten Region Frankreichs, öffnen sie ihnen die Türen. Der einflussreiche Vorsitzende des Regionalrats, Eric Ciotti, hat Herrou deshalb als Menschenschmuggler bezeichnet und vor den Terroristen unter den Flüchtlingen gewarnt.

Die Bewohner des Tals haben schon immer mit Flüchtlingen gelebt. In der Vergangenheit waren sie selbst oft plötzlich ausserhalb ihres eigenen Landes. Denn die Städte vom Mittelmeer flussaufwärts wechselten im Laufe der Jahrhunderte mehrfach ihre staatliche Zugehörigkeit. Grenzen und Pässe, Staaten und nationale Identitäten wurden hier unwichtiger als anderswo.

Herrou rutschte in die Rolle des Herbergsvaters. Am Tag nach der Grenzschliessung von Ventimiglia, am 15. Juni 2015, nahm er zwei Anhalter mit. Es waren keine Touristen wie üblich, sondern Migranten. In seinem weissen Lieferwagen voll mit Eierpaletten erzählten sie, dass sie keine Unterkunft hätten. Er nahm sie mit, baute ihnen im Garten ein Zelt auf. Am nächsten Morgen traf er auf der Strecke von Ventimiglia nach Breil-sur-Roya erneut auf zwei Migranten, die er mitnahm. Die nächsten kamen von alleine. Damals ahnte er noch nicht, dass er monatelang Gäste haben würde, immer wieder neue.

Inzwischen geben sich die Migranten seine Adresse weiter und laufen 20 Kilometer über die nachts stillliegenden Gleise zu seinem Haus. Im Garten stehen Zelte und zwei Wohnwagen, in denen sie untergebracht sind. Vielleicht liegt es an der warmen Mittelmeersonne, doch auf dem Hof mit den vielen gestrandeten Seelen herrscht erstaunliche Unbekümmertheit. Die Migranten spielen Karten, hacken Holz für das Lagerfeuer und spielen mit dem Hund. Zum ersten Mal seit Monaten der Flucht haben sie es nicht eilig. Sie ruhen sich hier aus und tanken Kraft, um nach Paris, nach Deutschland oder über Calais nach Grossbritannien zu gelangen.

Am Tag von Herrous Gerichtsurteil stehen einige hundert Personen aus dem Tal und Sympathisanten aus ganz Frankreich vor dem Justizgebäude in Nizza. Sie demonstrieren für Herrou. «Gastfreundschaft ist kein Verbrechen» steht auf ihren Stickern. Als das milde Urteil bekanntgegeben wird, jubeln sie. «Es ist die Pflicht des Staates, Menschen in Not aufzunehmen und ihnen ein geordnetes Asylverfahren zu bieten», sagt Herrou. Die Menschen hören ihm, dem Olivenbauern auf den marmornen Stufen des Gerichts, aufmerksam zu.

Mittlerweile sind fünf weitere Personen angeklagt, Flüchtlinge in ihrem Auto über die französische Grenze transportiert zu haben. Die Regierung überwacht das Roya-Tal mit Nachtsichtgeräten, Drohnen und Geländewagen. Vier Migranten haben bei dem Katz-und-Maus-Spiel schon ihr Leben gelassen. Sie wurden wenn nicht auf den Gleisen vom Zug oder auf der Strasse von Autos erfasst von den Stromleitungen auf den Zugdächern verbrannt.

Das Gefühl, wertvoll zu sein

Unicef bemängelte im Dezember, dass Minderjährige ohne Schutz und ohne Erklärung zurück über die Grenze gebracht würden, obwohl dies gegen internationales Recht verstosse. Auch Amnesty International schreibt, es sei inakzeptabel, Bürger einzuschüchtern, die Flüchtlinge aufnähmen. Der Staat habe es versäumt, angemessen für den Schutz und die Rechte der Migranten zu sorgen. Vielleicht sieht Herrou die Not der Flüchtlinge klarer, weil er ein einfaches Leben in den Bergen führt, in einem Haus mit selbstgezimmerten Möbeln und einer Eingangstreppe aus morschem Bauholz. Hin und wieder möchte er alleine sein, gibt er zu. Aber er habe sich noch nie so wertvoll gefühlt.

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