08. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Migranten aus Libyen: Deutlicher Rückgang der Zahlen im Juli“ · Kategorien: Afrika, Libyen · Tags:

Telepolis | 07.08.2017

Die erhitzte Diskussion über den „Pull-Faktor“ NGOs nimmt nur Teile eines größeren Bilds zur Kenntnis

Thomas Pany

In Italien, genauer in der sizilianischen Provinz Ragusa, wurden, wie die FAZ berichtet, 15 Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr festgenommen, weil sie unter Verdacht stehen, selbst Ursache der Waldbrände zu sein, für deren Löschen sie extra Aufwandsentschädigungen kassierten.

Sind damit sämtliche Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr Brandstifter? Zumal in Sizilien, der legendären Heimat der Mafia?

Sind alle NGOs vor Libyens Küste freiwillige Flüchtlingshelfer oder sogar willentliche Zuarbeiter eines kriminellen Schleusernetzwerks? Der Verdacht gegen die NGOs, der funktioniert wie eine Intrige, ist eine Einladung zur Schmutzigen-Wäsche-Schlacht, die bereitwillig angenommen wird: Die Diskussion über die Rolle der NGOs im Mittelmeer ist sehr lebhaft (siehe Lebensretter werden zu Kriminellen erklärt). Dabei geht es, wie ein Kommentator anmerkt, augenfällig oft um Prestigegewinn bzw. Deutungshoheiten für die jeweiligen politischen Positionen.

Bis ein Gericht Verdachtsmomente gegen die NGOs, speziell gegen die „Iuventa“ geklärt hat, bleiben nur Vermutungen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass sich bei manchen und nicht nur bei den jüngeren Seenotrettern Übereifer Bahn bricht. Menschen retten ist eine große Sache. Wie eben auch die „Rettung Europas“ eine große PR-Sache ist.

Der T-Shirt-Aufdruck lässt die Identitären auf der C-Star in einer Art Event-Exstase großtuerisch der eigenen Rolle gegenüber davon sprechen, dass die NGOs „Hundertausende Migranten“ nach Europa schleppen würden. An Bord der C-Star ist man von Dagobert-Duck-Zahlen, von der Idee des großen Austauschs und der Ferienabenteuer-Rolle sehr überzeugt.

Treibt man die Pauschalisierung weiter, so landet man, wie es ein Telepolis-Forent ganz richtig anmerkt, bei der Erkenntnis, dass auch Frontex, die italienische Küstenwache wie auch Schiffe der Bundeswehr und eigentlich der ganze Verband der EU-Mittelmeeroperation Sophia einschließlich der militärischen Luftüberwachung der libyschen Küste Teil des großen „Abholnetzwerkes“ sind, weil sie den Schleppern mit ihren Rettungsoperationen zuarbeiten.

Ein Blick auf die jüngsten Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bietet interessante Beobachtungen, die weniger hitzig sind. So zeigt sich ab Juni ein auffallender Rückgang der Zahlen der Migranten, die über das Mittelmeer nach Italien kamen.

Wurden im Mai und Juni dieses Jahres noch jeweils gut über 20.000 Migranten (Mai: 22.993; Juni: 23.524) mit dieser Reiseroute gezählt, so wurden im Juli 2017 nur mehr gut 11.000 Migranten registriert. Im vergangenen Jahr war diese Entwicklung nicht zu beobachten. Damals steigerte sich die Zahl der Zuwanderer über das Meer im Juli noch einmal um über 1.000 auf 23.500.

Womit der Rückgang erklärt werden kann, wird von der IOM nicht mitgeteilt. Die C-Star der Defend-Europe-T-Shirt-Träger war Anfang Juli noch nicht auf ihrem PR-Spaß-Törn. Die NGOs waren zuvor da und danach. Die Zahl der Toten ist übrigens im Vergleich zum Vorjahreszeitraum leicht rückläufig.

Sie liegt Anfang August dieses Jahres bei 2.397 Menschen. Im letzten Jahr waren es in den ersten sieben Monaten 3.193 Menschen. Anzumerken sei, dass sich angesichts dieser hohen Zahl die Diskussion über die Notwendigkeit von Rettungseinsätzen von selbst erledigen müsste.

Neben dem beachtlichen Rückgang der Migration über das Mittelmeer im Juli, für dessen Analyse man noch Geduld braucht – von einem Trend kann man bei einem bislang einmaligen Rückgang schlecht sprechen -, gibt es noch eine andere Entwicklung, die ebenfalls interessant ist und schon seit längerer Zeit zu beobachten ist. Sie betrifft den Wechsel der Herkunftsländer.

Nigeria und Bangladesch sind Hauptherkunftsländer

Die Kriegs- bzw. Krisenländer Syrien oder Afghanistan sind schon lange nicht mehr die Hauptherkunftsländer. Im Zwei-Jahres-Schaubild der IOM, das sie vom italienischen Innenministerium übernommen hat, tauchen diese Länder gar nicht mehr auf.

Aus Nigeria stammt demnach 2016 und 2017 der größte Anteil der Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa wollen. Der bemerkenswerteste Anstieg wird bei den Migranten aus Bangladesch verzeichnet.

In Berichten über das Herkunftsland Nigeria erstaunt, dass Frauen den Großteil der Flüchtlinge stellen, wie dies im Guardian Anfang 2017 zu erfahren ist. Demnach waren 11.000 Migranten aus Nigeria Frauen.

Der Guardian-Bericht zitierte seinerzeit die IOM mit der Erklärung, dass die meisten Frauen Opfer eines Handels mit Prostituierten seien, die mit dem falschen Versprechen auf gute einfache Jobs auf einen teueren Höllentrip geschickt wurden.

Die enormen Schulden mussten die Frauen dann über Sexarbeit bezahlen. Allerdings irritiert der Bericht mit völlig anderen IOM-Zahlenangaben, als sie im eingangs genannten aktuellen IOM-Bericht auftauchen. Dort ist die Rede von gerundet 19.000 Migranten aus Nigeria im Jahr 2016. Im Guardian-Bericht vom Januar 2017 wird die IOM-Zahl mit 37.500 angegeben.

Weitere Irritationen liefert ein aktueller Bericht von Voice of America. Bei VOA kommen nämlich Charity-Arbeiter zu Wort, die behaupten, dass ein großer Teil der Frauen schon wisse, was auf sie zukomme:

In Wirklichkeit wissen die meisten von ihnen, dass sie in Prostitution verwickelt werden. Einige denken vielleicht, dass sie in Fabriken oder bei Reinigungsdiensten arbeiten werden. Aber ein großer Teil unter ihnen weiß, dass sie zur Sex-Arbeit kommen.

Fabio Sorgoni

Eine der Nigerianerinnen, die von VOA zitiert wird, bestätigt dies – mit dem Zusatz, dass viele der Frauen aus dem ländlichen Raum kämen, ohne gute Schulausbildung. Sie würden von der Familie und von Schulden getrieben auf gutes Einkommen durch Prostitution hoffen.

Als Push-Faktoren spielen kriegsähnliche Zustände im Norden Nigerias, wo Boko Haram präsent ist, eine Rolle und sicher auch die desolate Wirtschaftssituation Nigerias, die auch mit dem niedrigen Ölpreis in Zusammenhang steht.

Der Fall des Ölpreises wird auch als Begründung dafür genannt, warum die Zahl der Migranten aus Bangladesch so deutlich angestiegen ist. Saudi-Arabien beschäftigt durch den Rückgang der Ölpreise weniger Fremdarbeiter aus Bangladesch als die Jahre zuvor.

Dazu kommt, dass Libyen schon früher Ziel von Migranten aus Bangladesch war. Dort fanden sie etwa zu Gaddafis Zeiten Arbeit. Jetzt zu Zeiten schwieriger Anstellungsbedingungen in der Kleidungsindustrie in ihrem Heimatland heißt das Ziel für viele ungelernte Billigarbeiter Europa. Ihre Familien zu Hause leben von den Einkünften der Migrantenarbeiter. Rückführungen dürften nicht einfach sein.

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ARD Tagesschau | 07.08.2017

Was sich im Mittelmeer geändert hat

In diesem Jahr wagten mehr als 95.000 Menschen die Flucht über das Mittelmeer. Italien will diese Zahlen senken. Für Rettungsschiffe der Hilfsorganisationen zählen Menschenleben. Die unterschiedlichen Prioritäten verschärfen seit Wochen die Lage.

Von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Rom

Die so genannte Zentrale Mittelmeerroute von der libyschen Küste nach Italien ist zurzeit die gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt. Mehr als 95.000 Menschen haben auf diesem Weg seit Jahresbeginn Italien erreicht, über 2200 sind seitdem bei der Überfahrt ums Leben gekommen.

In den vergangenen Monaten hatten die neun Nichtregierungsorganisationen, die sich der Rettung von Migranten auf dem Meer verschrieben haben und in der Regel außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer operieren, einen immer größeren Anteil der Migranten gerettet, während sich staatliche Einsatzkräfte immer weiter aus dem Rettungseinsatz in internationalen Gewässern zurückgezogen haben.

Wodurch hat sich die Lage vor der libyschen Küste in den vergangenen Wochen verändert?

1. Die libysche Küstenwache, die unter anderem von Italien aufgerüstet und geschult wurde, zeigt eine immer größere Präsenz in libyschen Hoheitsgewässern und versucht bereits dort möglichst viele Flüchtlingsboote abzufangen. Laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration hat sie seit Freitag über 1100 Menschen abgefangen. Diese Migranten landen wahrscheinlich in libyschen Aufnahmezentren, in denen laut Berichten der Vereinten Nationen und mehrerer Hilfsorganisationen menschenunwürdige Bedingungen herrschen.

2. Italien unterstützt die Einsätze der libyschen Küstenwache seit dem 2. August mit Schiffen in libyschen Hoheitsgewässern. Italien leistet technische und logistische Hilfe, vermutlich handelt es sich vor allem um Aufklärung, damit Boote mit Migranten an Bord noch innerhalb der libyschen Hoheitsgewässer identifiziert werden können.

3. Italien schlägt eine härtere Gangart gegenüber den Nichtregierungsorganisationen an. Gegen die Organisation „Jugend Rettet“ hat die Staatsanwaltschaft in Trapani Ermittlungen wegen der Förderung illegaler Einreise eingeleitet. Das Schiff der Organisation, die „Iuventa“, liegt zurzeit im Hafen von Trapani fest. Es gibt auch Berichte von Ermittlungen gegen „Ärzte ohne Grenzen“, die aber bisher nicht offiziell bestätigt wurden.

Die beiden Organisationen gehören zu den fünf Nichtregierungsorganisationen, die es bisher abgelehnt haben, einen Verhaltenskodex der italienischen Regierung zu unterzeichnen. Sie stören sich vor allem an der geplanten Präsenz von Polizeikräften auf ihren Schiffen und am Verbot, Migranten auf See auf andere Schiffe umzusetzen und sie dann gemeinsam in Richtung Festland zu transportieren. Dieses Verbot würde laut NGOs die Einsatzzeit im Rettungsgebiet verkürzen, die Fahrzeit verlängern und hätte letztendlich mehr Todesopfer zur Folge.

„Life Boat“, „SOS Méditerranée“ und „Sea Watch“ lehnen die Unterzeichnung des Kodex bislang ab. Die Organisationen „MOAS“, „Save the Children“, „Proactiva Open Arms“ und „Sea Eye“ haben den Verhaltenskodex unterzeichnet, beziehungsweise angekündigt, es zu tun.

In den vergangenen Tagen war zu beobachten, dass die NGOs, die den Verhaltenskodex nicht unterschrieben haben, tendenziell von Rettungsaktionen, die das MRCC, die Seenoteinsatzzentrale der Küstenwache in Rom koordiniert, ferngehalten wurden.

Wie viele Migranten versuchen zurzeit über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen?

Insgesamt hat sich die Zahl der Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute in den vergangenen Wochen deutlich verringert. Im Juli etwa kamen nur halb so viele wie im Vorjahresmonat. Vermutlich sind die drei oben genannten Faktoren dafür mitverantwortlich.

Sicher ist: Die Zahl von Migranten, die von der libyschen Küste nach Europa wollen, ist nach wie vor hoch. In Libyen leben schätzungsweise 700.000 bis 1.000.000 Migranten, rund 200.000 davon in Flüchtlingslagern. Viele wollen vor den Zuständen dort fliehen, und für die Schlepperbanden bedeuten sie bares Geld. Es gibt Berichte, dass sie an einer Rückreise in ihre Heimatländer gehindert werden.

Was will die italienische Regierung?

Italien, das sich von Europa in der Migrationskrise alleingelassen fühlt, will den Migrationsstrom unterbinden und setzt dabei auf Kooperation mit Libyen – auch wenn die offiziell anerkannte Regierung Sarradsch nur einen kleinen Teil des Landes rund um die Hauptstadt Tripolis kontrolliert. Dazu gehört die Aufrüstung der Küstenwache: Libyen soll nach italienischem Willen möglichst bald die Seenotrettung in Eigenregie koordinieren und eine eigene „Search and Rescue“-Zone einrichten.

Gegenüber den Europäischen Partnern will Italien, das Libyen als seinen Einflussbereich betrachtet, das Heft des Handelns in der Hand behalten. So wurde Italien noch einmal deutlich aktiver als Frankreichs Regierung vorschlug, in Libyen in Eigenregie Aufnahmezentren zu betreiben.

Welche Rolle spielt die Identitäre Bewegung?

Die Identitäre Bewegung, ein Zusammenschluss von Rechtsextremisten aus mehreren europäischen Ländern, hat sich zum Ziel gesetzt, die Einsätze der Nichtregierungsorganisationen zu behindern und mögliche Unregelmäßigkeiten anzuprangern. Über die Kampagne „Defend Europe“ haben die Identitären Geld eingesammelt, mit dem sie ein Schiff gechartert haben, das inzwischen auch vor der Küste Nordafrikas fährt. An Bord sind einschlägig bekannte Rechtsextreme wie Martin Sellner aus Österreich, Lorenzo Fiato aus Italien und Torsten Görke aus Deutschland. Ihr Schiff, die „C Star“, trägt ein großes Banner, auf dem „Stop Human Trafficking“ steht. Immer wieder wurde es am Einlaufen gehindert – zuletzt von Häfen in Tunesien -, sodass fraglich ist, wie lange sich der Einsatz noch aufrechterhalten lässt. Wirkung entfalten die Identitären vor allem über die Sozialen Netzwerke, in denen ihre symbolischen Aktionen einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden.

 

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