04. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Migranten in Tunesien : Die Gestrandeten“ · Kategorien: Libyen, Tunesien · Tags: ,

Zeit Online | 03.08.2017

Auf dem Weg von Libyen nach Europa landen viele Schiffbrüchige in Tunesien. Dort stehen sie vor dem Nichts, doch eine Rückkehr in die Heimat ist für viele ausgeschlossen.

Von Andrea Backhaus, Zarzis

Zum Beispiel Hasan. Hasan brach 2016 von Gambia nach Algerien auf, in Algier arbeitete er einige Monate als Fliesenleger. Als er genug Geld für die Fahrt nach Italien zusammen hatte, brachten ihn Schmuggler durch die Sahara nach Libyen, in die Küstenstadt Sabratha. Dort war Hasan eine Weile im Weißen Haus. So nennen sie die weiß getünchte Anlage, in der Migranten untergebracht sind. Tausende Menschen aus Gambia, Mali, Nigeria warten hier auf ihre gefährliche Reise nach Europa. Doch weit gekommen ist Hasan nicht.

Hasan ist einer der vielen Migranten, deren Boot auf dem Weg von Libyen nach Italien zu kentern drohte und der nun im Aufnahmezentrum Le Foyer in der tunesischen Stadt Medenine festsitzt. Rund 500 Menschen sind in zwei Aufnahmezentren in Medenine untergebracht, die meisten kommen aus subsaharischen Ländern, viele waren auf dem gleichen Boot wie Hasan. Sie sind die Gestrandeten von Tunesien.

Hasan war einige Wochen im Weißen Haus in Sabratha geblieben; es gab kein Essen und kein Wasser, die Menschen schliefen dicht gedrängt auf dem Boden. Eines Nachts wurde Hasan mit Dutzenden anderen Migranten zum Strand gefahren. 126 Menschen setzten die Schmuggler in jener Nacht in ein Motorboot. Drei Tage waren sie auf dem Meer, als der Sprit ausging. Als die Maschinen ausfielen, bekamen die Passagiere Panik. Dann entdeckte sie ein Fischer und rief die tunesische Küstenwache, die die Gruppe rettete. Eine Frau starb auf dem Boot. „Wir dachten, dass wir schon in Italien sind“, erzählt Hasan. Aber sie sahen die tunesische Flagge, manche Passagiere weinten vor Enttäuschung. „Unser Leben ist gerettet, unsere Träume sind zerstört“, murmelt Hasan.

Tunesien ist kein Transitland und liegt eigentlich nicht auf der zentralen Mittelmeerroute. Wie viele Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Weg nach Europa in Tunesien stranden, ist schwer zu bestimmen. Neue kommen hinzu, andere tauchen ab. Das UNHCR hat derzeit mehr als 600 Menschen als Flüchtlinge erfasst, die Zahl derjenigen, die sich nicht registrieren lassen, ist jedoch deutlich höher. Viele von ihnen sind gestrandete Bootsflüchtlinge, andere kamen über die Grenze an Land, um dem Krieg im Nachbarland Libyen zu entkommen. Ihre Zukunftsaussichten in Tunesien sind nicht gut.

Menschen wie Hasan, der aus Gambia kommt, werden eher nicht als Asylbewerber eingestuft; Gambier werden nicht als schutzbedürftig betrachtet. Syrer hingegen werden vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) registriert. Aber sie können in Tunesien kein Asyl beantragen, denn es gibt kein Asylgesetz. Das UNHCR unterstützt das Land zwar dabei, ein nationales Schutzsystem aufzubauen und schult die Behörden. Doch ein Asylgesetz wird vermutlich erst in den kommenden Jahren verabschiedet. Wer nicht als Flüchtling gilt, wird von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betreut, die unter anderem Hilfe bei der freiwilligen Rückkehr in die Heimat anbietet. Aus Medenine wurden gerade 63 Mädchen nach Nigeria zurückgeflogen.

Tunesien war das erste Land in der arabischen Welt, das 2011 seinen Diktator stürzte und dem ein demokratischer Neuanfang gelang. Das Parlament wird nun vom Volk gewählt, es gibt eine liberale Verfassung und Meinungsfreiheit – während in den Nachbarländern Krieg herrscht oder erneut die Armee regiert. Doch Tunesien steht vor zwei großen Herausforderungen. Zum einen hat das Land ein Problem mit islamistischem Terrorismus, zuletzt hat die Terrormiliz IS mehrere schwere Anschläge in Tunesien verübt. Zum anderen erlebt das Land eine Wirtschaftskrise: Vor allem in ländlichen Gebieten gibt es zu wenig Arbeitsplätze und berufliche Perspektiven für junge Menschen.

Auch deshalb ist die Lage für Migranten, die keinen Anspruch auf Asyl haben, aber auch nicht in ihre Heimat zurückkönnen, besonders prekär. Viele schlagen sich mit illegalen Jobs durch oder betteln. „Selbst die Tunesier finden kaum eine Arbeit, für die Migranten ist es nahezu unmöglich“, sagt Mongi Slim, Leiter des Regionalbüros des Tunesischen Roten Halbmonds, der sich um die Aufnahmezentren kümmert. „Die Menschen sitzen in Tunesien fest“, sagt Slim. „Sie können nicht arbeiten, haben keinen Schutz und keine Perspektive.“ Hasan gehört nur deshalb zu den Glücklichen, weil er noch am Leben ist.

Um zu verstehen, was mit den Menschen passiert, die nicht gerettet werden können, muss man nach Zarzis fahren. Der tunesische Küstenort ist 60 Kilometer von Medenine entfernt, 80 Kilometer sind es von der libyschen Grenze. Einst war Zarzis ein beliebter Ferienort. Doch dann machten sich die ersten Menschen vom Strand nach Italien auf – und ertranken. Das war in den Monaten nach der Revolution 2011, als Tausende Tunesier im Hafen von Zarzis auf ein Fischerboot stiegen, um nach der jahrzehntelangen Diktatur in Europa ein neues Leben zu beginnen. Bald aber gab es von Zarzis aus keine Boote mehr, der Fokus verschob sich auf das Nachbarland Libyen, auch, weil die Überfahrten dort deutlich günstiger und organisierter waren.

Libyen war schon vorher eines der wichtigsten Transitländer für Flüchtlinge aus Afrika auf ihrem Weg nach Europa gewesen. Libyens Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi hatte Italien gar gedroht, Zehntausende Migranten warteten an Libyens Küste nur darauf, dass er sie nach Europa aufbrechen lasse. Nach seinem Tod entwickelte sich Libyen rasend schnell zu einem Hotspot der Migrationswege.

Die Schlepper profitieren vom Staatszerfall in Libyen

Als 2011 der Krieg in Libyen begann, flohen Hunderttausende aus Libyen nach Tunesien, asiatische Gastarbeiter wurden meist ausgeflogen, viele afrikanische Gastarbeiter aber blieben zurück. Für sie war Libyen einst ein guter Ort zum Arbeiten gewesen, die Bezahlung war verhältnismäßig gut. Nun aber konnten oder wollten viele von ihnen nicht mehr in ihre Heimatländer zurück. Aus Furcht vor Repressionen oder vor der Islamisten-Miliz Boko Haram, wegen fehlender Perspektiven oder Stammeskonflikten. Sie wollten stattdessen weiter nach Europa. So ist es auch heute: „Wenn ich es nicht nach Europa schaffe, um von dort Geld nach Hause zu schicken, wird meine Familie nie der Armut entkommen“, sagt Hasan. Die meisten starten immer noch ihre Überfahrt von Libyen aus, wo mittlerweile riesige Schleppernetzwerke vom Staatszerfall und Chaos profitieren.

Dass viele es nicht nach Europa schaffen, weiß man in Zarzis nur zu gut. Wenn die Boote von Libyen aus ins Meer stechen und vor der tunesischen Küste Schiffbruch erleiden, sind die Fischer und Mitarbeiter der Küstenwache in Zarzis die Ersten, die ihnen helfen. Bis 2015 war es für die Fischer an der Tagesordnung, Schiffbrüchige zu retten und Leichen aus dem Wasser ziehen. Mehr als 1.000 Menschen wurden in dem Jahr auf dem Meer vor Zarzis gerettet, an manchen Tagen strandeten 300 Menschen. Weil die Zahl der Schiffbrüchigen so rasant stieg, organisierte Ärzte ohne Grenzen sogar Such- und Rettungstrainings für die Fischer in Zarzis.

Heute stranden zwar deutlich weniger Menschen vor Zarzis, weil mittlerweile internationale Organisationen wie Save the Children oder private Initiativen wie Jugend rettet oder Sea-Watch Rettungsschiffe vor die libysche Küste schicken. Doch noch immer holt die Küstenwache Menschen von den Booten, immer wieder treiben Tote im Meer. Allein in den vergangenen sechs Wochen wurden in Zarzis 33 Leichen an den Strand gespült.

Chemseddine Marzoug hat sich mit seinem Spaten auf dem Friedhof von Zarzis zwischen Sandhügeln postiert, er trägt Schlapphut und Sonnenbrille. Seit mehr als zehn Jahren begräbt Marzoug hier die Männer, Frauen, Kinder, die bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben gelassen haben. Der Friedhof ist ein aufgeschüttetes Sandfeld am Stadtrand, umgeben von Müllbergen und Olivenplantagen. Hunderte Leichen liegen hier dicht an dicht begraben. Die meisten Bewohner in Zarzis wissen nicht, dass dieser Friedhof existiert.

Meistens ist es unmöglich, die Leichen zu identifizieren, oft sind sie verstümmelt, manchmal, wie vor ein paar Tagen, werden sie ohne Kopf angespült. Noch immer weine er, wenn er die Leichen sehe, sagt Marzoug, vor allem bei Kinderleichen. „Sie alle haben doch eine Familie, die nach ihnen sucht.“ Den Toten, sagt er, schulde er zumindest eine würdevolle Beerdigung.

Die Stadt hat ein System zur Bergung der Schiffbrüchigen entwickelt: die Küstenwache rettet die Lebenden in den Booten, Feuerwehrleute kümmern sich um die Toten an der Küste. Nach der Bergung kommen die Leichen in ein Krankenhaus, wo ein Arzt den Totenschein ausstellt, dann fahren Helfer sie zum Friedhof, meistens macht das Marzoug. Weil die Behörden sich weigern, ihm einen Leichenwagen zur Verfügung zu stellen, muss sich Marzoug jedes Mal von anderen Helfern einen Privatwagen leihen.

Marzoug war früher Fischer und gehört heute zu einer Gruppe an Freiwilligen, die sich um die Toten kümmern. Er habe Dutzende Menschen gerettet und Dutzende Tote beerdigt, sagt er. Niemand kennt den Friedhof so gut wie er: Nur er weiß, wo schon Leichen liegen und wo man noch graben kann. Seit 2008 nutzt er den Sandplatz als Friedhof, vorher wurden die Menschen auf dem muslimischen Friedhof von Zarzis begraben. Nun hat Marzoug ein Problem: Der Friedhof ist voll. Seit Monaten kämpft er mit der Gemeinde um einen neuen. Warum es so schwer ist, einen neuen Friedhof zu finden, kann niemand so richtig beantworten. Die Stadt sagt, sie habe kein Land und keine Ressourcen. Einige Bewohner sagen, die Verwaltung habe andere Probleme – Korruption aufzudecken zum Beispiel. Marzoug glaubt, dass die Toten den Behörden einfach egal sind.

Doch Marzoug und die anderen Helfer wollen nicht aufgeben. Sie wollen vielmehr die Registrierung und Bestattung der Toten künftig besser organisieren. Sie wünschen sich einen Leichenwagen, auch wollen sie für jeden Toten Akten anfertigen, damit die Familien ihre Angehörigen leichter identifizieren können. „Es sei doch nur menschlich, dass man diesen Menschen wenigstens nach dem Tod Respekt zollt“, meint Marzoug. „Erst werden sie in Libyen ausgebeutet, jetzt liegen sie hier in einem Plastiksack unter Sand vergraben“, sagt er verbittert. Er habe viele Leichen gesehen, „aber es entsetzt mich jedes Mal wieder“.

Wütend sind Helfer wie Marzoug auf ein globales System aus Ungleichheit und Ausbeutung, das Menschen zur Flucht treibt, aber auch auf die Schlepper, die die Flucht noch gefährlicher machen. Sie schicken die Menschen auf defekte Boote oder geben ihnen zu wenig Treibstoff mit, weil sie darauf spekulieren, dass die Rettungsschiffe ihnen helfen. Ob die Menschen lebend ihr Ziel erreichen, ist ihnen zumeist egal. Sie kassieren mehrere Hundert oder Tausend Euro pro Überfahrt, wohlwissend, dass die Boote vor der libyschen, italienischen oder tunesischen Küste kentern werden.

Bis zum nächsten Versuch

Viele, die in Tunesien gerettet werden, kehren aus Verzweiflung sogar noch einmal nach Libyen zurück, um erneut die Überfahrt zu wagen. Für die Schlepper ist das ein doppeltes Geschäft. „Die Menschen werden es immer wieder probieren“, sagt Mongi Slim vom Roten Halbmond. „Sie sehen für sich keine andere Perspektive.“

In Medenine lehnt Hasan am Fenster in seinem Zimmer, das er sich mit einem Gambier und einem Nigerianer teilt: drei Betten, ein Schrank, ein Tisch, drei Stühle, ein Waschbecken. „Für die Schmuggler sind die Migranten ein riesiges Geschäft“, sagt er. Der Anführer des Schmugglernetzwerks sei ein Mann namens Mudir. Mudir heißt auf Arabisch Chef. Mudirs Vater soll ein ranghoher Offizier in der Armee sein, der weithin gefürchtet wird, ebenso wie sein Sohn. Hasan hat Mudir nie gesehen, aber dessen Assistenten bewohnen im Weißen Haus in Libyen eine eigene Etage, sagt er. Keiner der Migranten traue sich dorthin. „Die Schmuggler haben Waffen und benutzen sie auch.“

In Libyen seien alle in den Menschenhandel involviert, sagt Hasan: Polizisten, Politiker, Geschäftsleute, Soldaten, normale Libyer. „Man kann ihnen nicht entkommen.“ Die Schmuggler fangen die Migranten auf der Straße ab, foltern sie und erpressen so Lösegeld von deren Familien. Dutzende Menschen sind deswegen spurlos verschwunden.

Trotz des Grauens, das viele Bewohner aus Le Foyer in Libyen erlebt haben, wollen sie zurück. Schwer ist das nicht. Trotz der neuen Sperranlage, die Tunesiens Regierung zum Schutz gegen Extremisten errichtet hat, floriert der Schmuggel, vor allem Nahrungsmittel, Benzin und Drogen werden über die tunesisch-libysche Grenze gebracht, ab und zu auch Menschen. Slim und seine Mitarbeiter warnen die Migranten vor dem Risiko einer weiteren Überfahrt, viele sind bei ihrem zweiten Versuch ertrunken. Doch davon abhalten können sie sie nicht. „Wir können sie nicht einsperren“, sagt Slim. Manchmal gibt es aber auch Erfolgsgeschichten. Dann posten die, die es von Le Foyer aus etwa nach Deutschland geschafft haben, Fotos auf Facebook, darunter schreiben sie ihren Landsleuten: Kommt her, das Leben ist viel besser als in Tunesien. „An diese Hoffnung klammern sich die Menschen.“

Auch Hasan will wieder nach Libyen und von dort weiter nach Italien. Was habe er schon zu verlieren? Nun versucht er, in Medenine Geld für einen Schmuggler zu verdienen, der ihn nach Sabratha bringt. Dort will er wieder auf ein Boot. „Diesmal muss ich es schaffen.“

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