29. Juni 2017 · Kommentare deaktiviert für „Das sind die Gründe für Italiens drastische Drohung“ · Kategorien: Europa, Italien, Libyen · Tags: , ,

Welt | 28.06.2017

Italien erwägt, das Einlaufen mancher Rettungsschiffe für Migranten in seine Häfen zu verbieten – eine Reaktion auf das EU-Versagen beim Grenzschutz. Doch noch eine andere Angst spielt eine Rolle. Ein Überblick über die Lage.

Von Manuel Bewarder

Wie viele Migranten kommen übers Mittelmeer?

Seitdem Libyen im Chaos versunken ist, kommen viele Migranten aus dem nordafrikanischen Land übers Mittelmeer nach Italien. 2014 waren es 170.000 Personen, im Jahr darauf 138.000 und 2016 schließlich 170.000 Menschen, die allein aus Libyen kamen. Insgesamt kamen im vergangenen Jahr aus Nordafrika 181.000 Migranten in Italien an.

In den ersten Monaten dieses Jahres stieg die Zahl noch einmal. Das Innenministerium in Rom zählte 2017 bis vor ein paar Tagen 73.000 Migranten. Das sind 14 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Innerhalb weniger Tage kamen nun weitere 9000 Menschen. In diesem Jahr sind bislang außerdem mehr als 2000 Menschen bei der Überfahrt gestorben, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM).

Die Situation der Migranten in Libyen wird offenbar zunehmend schlechter. Die Schlepper pferchen immer mehr Personen auf den Booten zusammen. Deren Qualität wiederum ist schlechter geworden. Mittlerweile bekommen die Migranten außerdem nur noch selten ein Funkgerät mit an Bord, mit dem sie später die italienische Seenotrettung rufen können. In internen Unterlagen von deutschen Sicherheitsbehörden wird deutlich, dass Migranten „auch bei schlechten Witterungsbedingungen teilweise mit Waffengewalt auf die Boote verbracht und zur Abfahrt gezwungen“ werden.

Migranten berichten zudem von Erpressungen. Sie seien gezwungen worden, bei ihren Familien in der Heimat anzurufen und weitere Geldzahlungen zu fordern. Dabei sollen sie gefoltert worden sein, um den Druck auf die Verwandten zu erhöhen. „Für die Migranten hat sich die Menschenrechtslage in Libyen verschlechtert“, urteilen die Sicherheitsbehörden.

Gleichzeitig machen die deutschen Behörden die besseren Witterungsbedingungen vor Ort für die steigenden Zahlen verantwortlich – außerdem die große Bereitschaft zur Überfahrt sowie „insbesondere das küstennahe Agieren der Rettungskräfte vor Libyen“. Schleuser setzten mittlerweile sogenannte Schiffstracker ein, mit denen sie Migranten auf die Position der Rettungsschiffe hinweisen.

Viele Migranten berichten, dass sie nur rund sechs Stunden auf den Booten saßen, bevor sie wenige Meilen vom Festland entfernt gerettet wurden. In Sicherheitskreisen heißt es zudem, dass auch Gerüchte über „vermeintlich bevorstehende Maßnahmen der EU – insbesondere zur Stärkung der Einsatzfähigkeit der libyschen Küstenwache“ – Grund für die steigenden Zahlen sein könnten.

Was hat Italien jetzt vor?

Italien droht damit, notfalls einen Teil der Rettungsschiffe mit Migranten künftig nicht mehr in italienische Häfen einlaufen zu lassen. Das verlautete aus hohen Regierungskreisen. Das könnte alle Schiffe treffen, die nicht unter italienischer Flagge oder im EU-Auftrag im Mittelmeer unterwegs sind. Entsprechende Überlegungen wurden nun der EU-Kommission deutlich gemacht.

Rom geht damit in die Offensive. Entsprechende Überlegungen kursierten in der Regierung aber auch schon im vergangenen Jahr. Der Gedanke dahinter lautet: „Europa rettet zusammen auf dem Meer. Doch dann lässt man Italien mit den Migranten allein.“ Warum, fragt sich mancher in Italien, sollten Rettungsschiffe denn nicht in einen anderen Hafen in Europa einlaufen, zum Beispiel im französischen Marseille?

Es gibt zwar eine Pflicht zur Seenotrettung. Anschließend müssen die Personen allerdings lediglich in „sichere Häfen“ gebracht werden. In Libyen und den Nachbarländern gibt es solche nicht, wohl aber in anderen europäischen Ländern.

Warum droht Italien mit solch drastischen Maßnahmen?

Italien ist mit der Unterbringung, Versorgung und Integration der vielen Migranten zunehmend überfordert. Im Land leben mittlerweile rund 200.000 Personen, die übers Mittelmeer gekommen sind – und die Zahl steigt von Tag zu Tag. Noch vor ein paar Jahren winkten italienische Beamte viele von ihnen weiter Richtung Mitteleuropa, man drückte ihnen für die Reise sogar ein Taschengeld in die Hand. Diese Zeiten sind jedoch vorbei.

Italien hält sich mittlerweile vielfach an die europäische Dublin-Regel, wonach jenes europäische Land für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, das ein Migrant zuerst betritt. Von fast allen werden mittlerweile Fingerabdrücke genommen.

Gleichzeitig lassen die nördlichen Nachbarn Italien kaum eine Wahl. Frankreich, die Schweiz und Österreich – aber auch Deutschland – haben Rom klargemacht, dass sie ihre Grenzen streng sichern werden, falls Italien es nicht schafft, die Weiterreise von Migranten zu verhindern. Die Regierung hofft deshalb darauf, dass die anderen EU-Mitglieder einen Teil der Migranten abnehmen.

Die EU-Kommission hat dafür den Prozess der sogenannten Relocation gestartet. Doch nur wenige Länder machen mit. Bis Anfang Juni wurden von den rund 100.000 zu verteilenden Flüchtlingen erst etwa 21.000 umverteilt: 14.000 aus Griechenland und 7000 aus Italien. Doch selbst wenn dieses Programm reibungslos klappen würde, wäre die Entlastung für Rom eher gering: Denn die Umverteilung betrifft nur solche, die gute Chancen auf einen Flüchtlingsstatus haben. Etwa 60 Prozent der Migranten, die in Italien ankommen, erhalten jedoch kein Asyl, schätzt man in Italien. Rom dringt deshalb darauf, so schnell wie möglich die zentrale Mittelmeerroute zu schließen.

Die Zeit drängt. Die Ankündigung der neuen harten Linie folgt auf schwere Stimmenverluste der regierenden Mitte-links-Partei PD bei Lokalwahlen am vergangenen Sonntag. Beobachter machen unter anderem wachsenden Unmut in der Bevölkerung über Einwanderung für die Schlappe verantwortlich. Anfang 2018 steht zudem die nächste Parlamentswahl an.

Warum scheitert der Schutz der EU-Außengrenze?

Über die Ägäis kommen mittlerweile deutlich weniger Migranten. Das liegt am strengeren Grenzschutz entlang der Balkanroute und an dem EU-Türkei-Abkommen. Ankara unternimmt mittlerweile erheblich mehr, um das Ablegen von Booten zu verhindern.

Eine ähnliche Lösung ist derzeit auf der zentralen Mittelmeerroute unvorstellbar. Fast alle Migranten fahren in Libyen los. Dort herrscht jedoch das Chaos. Eine funktionierende Küstenwache existiert nicht. Außerdem herrschen in den Flüchtlingsunterkünften furchtbare Zustände. Deutsche Diplomaten beschrieben die Situation in nicht staatlichen Heimen drastisch als „KZ-ähnlich“.

Zunächst gescheitert ist der Versuch von Bundesinnenminister Thomas de Maizière(CDU), Migranten nach dem Aufgriff im Mittelmeer nicht nach Libyen, sondern nach Tunesien oder Ägypten zurückzubringen. Dadurch sollte die Aussicht auf das Erreichen der italienischen Küste genommen werden. Die nordafrikanischen Staaten stellen sich bislang jedoch quer. Sie lehnen diese Lager ab.

Weil die Küste Libyens derart schlecht überwacht werden kann, blickt manch Europäer mittlerweile genauer auf die Südgrenze Libyens. Die Idee dahinter: Wenn man die illegale Migration in das Land hinein kappt, dann bleibt am Ende kaum noch jemand, der sich auf die Boote nach Europa setzen kann.

Wer wäre von den Plänen Roms betroffen?

Es ist nicht ganz klar, für wen die italienische Drohung welche Auswirkung haben könnte. Die italienische Küstenwache, Schiffe im Einsatz der EU-Grenzschutzagentur Frontex und jene der EU-Mission „Sophia“ wären offenbar nicht betroffen. Folgen drohten demnach vor allem Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die vor der libyschen Küste fahren.

Nach Angaben des Maritimen Seenotrettungszentrums der italienischen Küstenwache führten NGOs im Jahr 2016 in 46.796 Fällen Seenotrettungsmaßnahmen durch. 36.084 Mal war das der Fall bei der italienischen Marine, 35.875 Mal bei der italienischen Küstenwache, 22.885 bei Schiffen der Operation „Sophia“, fast 14.000 Mal bei Handelsschiffen und etwa 14.000 Mal durch Frontex-Schiffe. Nur rund 3000 Migranten landeten 2016 direkt auf den italienischen Inseln oder auf dem Festland.

Die Nichtregierungsorganisation Sea Watch macht jedoch klar, wie komplex die Situation auf hoher See tatsächlich ist. Demnach hat Sea Watch selbst in den vergangenen Jahren keine Migranten direkt nach Italien gebracht. Man rette diese zwar vor der libyschen Küste, so ein Sprecher. Anschließend übergebe man sie aber bereits auf hoher See zum Beispiel Frontex oder der italienischen Küstenwache. Diese wiederum sind von der neuen Drohung aus Rom gar nicht betroffen.

„Italien wird alleingelassen“, kritisierte Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer im Gespräch mit der WELT. „Es ist Aufgabe der EU, zu helfen und eine Lösung zu finden, stattdessen macht man die Grenzen zu Italien zu und nimmt kaum Flüchtlinge ab.“ Neugebauers Ansicht nach führt dieser „Verrat der europäischen Idee“ dazu, „dass uns jetzt das Leben schwer gemacht wird“. Dabei betreibe man „nichts anderes als Lebensrettung auf hoher See“.

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