20. Juni 2017 · Kommentare deaktiviert für „Entweder wir sterben hier oder auf dem Meer“ · Kategorien: Lesetipps, Mittelmeer

Wiener Zeitung | 19.06.2017

Die junge Syrerin Doaa al Zamel erlebte die Schrecken der Flucht, als ihr Boot im Mittelmeer sank.

Von Thomas Seifert

„Wiener Zeitung“: Melissa Fleming, Sie haben als Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen schon viele Flüchtlingsschicksale gehört. Sie waren in den Flüchtlingslagern, haben hunderte Flüchtlinge kennengelernt, kennen die Fakten und Zahlen. Aber das Schicksal der jungen Syrerin Doaa hat Sie so bewegt, dass Sie sich entschlossen haben, ein Buch über Doaa zu schreiben. „Doaa ist für mich das Gesicht der Flüchtlinge“, haben Sie gesagt.

Melissa Fleming: Doaa beschließt, gemeinsam mit ihrem Verlobten Bassem übers Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Das Boot, in dem sie übersetzen wollen, sinkt. Doaa kann nicht schwimmen, strampelt und rudert mit den Armen um ihr Leben. Bassem hilft ihr, so gut er kann, am Ende muss Doaa hilflos zusehen, wie Bassem neben ihr in den Fluten ertrinkt. Eine ertrinkende Frau vertraut Doaa ihr Baby an. Doaa ist nur eine von einer Handvoll von den insgesamt rund fünfhundert Bootsflüchtlingen, die aus dem Meer gerettet werden. Mir war es wichtig, diese Geschichte zu erzählen.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat erst heute die aktuellen Zahlen zu den Flüchtlingsbewegungen veröffentlicht: 65,6 Millionen Menschen sind derzeit in aller Welt auf der Flucht – um 300.000 mehr als im Jahr davor. Doch was bedeuten diese Zahlen?

Wenn wir aber über einzelne Menschen sprechen, dann kann man die Menschen erreichen und Empathie für die Schutzsuchenden wecken. Das sage ich auch als UNHCR-Kommunikationschefin meinen Kolleginnen und Kollegen immer wieder: „Lasst uns von den Menschen erzählen und nicht nur von der Statistik.“

Und lasst uns auch davon erzählen, dass diese Menschen nicht einfach dasitzen und leiden, sondern von der unglaublichen Widerstandsfähigkeit und der Stärke dieser Menschen berichten.

In Europa heißt es gerade, man muss die Mittelmeer-Route schließen. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat diese Forderung immer wieder erhoben. Was würde das bedeuten?

Doaa al Zahel: Was sollten wir denn tun? Wenn der Tod in unserem Rücken auf uns wartet und auch auf offener See? Glauben Sie mir: Ich habe wirklich große Angst vor der Überfahrt gehabt. Ich hatte auch eine düstere Vorahnung, dass etwas passieren könnte. Ich kann ja nicht schwimmen und habe daher Angst vor dem Wasser. Ich habe meinem Verlobten Bassem davon erzählt und er hat noch gemeint, wenn ich solche Angst habe, dann sollten wir das Boot doch nicht nehmen. Ich habe dann gesagt: „Nein, lass uns fahren, lass uns übers Meer fahren, weil entweder wir sterben hier, oder auf dem Wasser. Wenn wir fahren, haben wir’s wenigstens versucht.“

Doch das Boot sank. Sie haben versucht, einige Kleinkinder zu retten, eines hat überlebt. Wie ist es Ihnen danach ergangen?

Doaa al Zamel: Ich war völlig leer. Ich war auch nicht in der Lage, irgendetwas zu fühlen.

Jetzt sind Sie die Protagonistin des Buches, das in einigen Sprachen vorliegt und vielleicht von Steven Spielberg und Jeffrey Jacob Abrams verfilmt werden wird.

Doaa alZamel: Das alles bedeutet eine Riesenverantwortung für mich: Ich möchte, dass dieses Schicksal, das mir zugestoßen ist, nie jemand anderem widerfährt. Es gibt aber immer noch Menschen, die diese gefährliche Überfahrt wagen. Jeden Tag. Ich möchte diesen Menschen meine Stimme geben und hoffe, dass ich einen kleinen Beitrag leisten kann, dass sich diese Situation verändert.

Frau Fleming, was sagen Sie zur Diskussion über die Schließung der Mittelmeer-Route.

Melissa Fleming: Niemand kann wollen, dass die Menschen im Mittelmeer ertrinken. Tatsache ist aber: Wenn man in Europa Asyl haben will, dann muss man nach Europa kommen. Es gibt zwar Umsiedlungsprogramme – UNHCR fordert seit Jahren, diese Programme auszubauen – was wir aber brauchen, sind Wege, dass Schutzsuchende nicht gezwungen sind, in Schlepperboote zu steigen.

Doaa, wie sieht Ihre Zukunft aus?

Doaa alZamel:Ich lebe jetzt in Schweden, bei meinen Eltern. Ich versuche, meine Ausbildung weiterzuführen, lerne gerade Schwedisch. Mein Wunsch ist es, Jus zu studieren. Ich möchte, dass die Welt ein gerechterer Ort wird.

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